Bundesstrafgericht
Tribunal pénal fédéral Tribunale penale federale Tribunal penal federal
Geschäftsnummer: BG.2010.5
Entscheid vom 20. April 2010 I. Beschwerdekammer
Besetzung
Bundesstrafrichter Tito Ponti, Vorsitz, Emanuel Hochstrasser und Patrick Robert-Nicoud , Gerichtsschreiber Stefan Graf
Parteien
Kanton Aargau, Staatsanwaltschaft des Kantons Aargau,
Gesuchsteller
gegen
Cantone Ticino, Ministero pubblico,
Gesuchsgegner
Gegenstand
Örtliche Zuständigkeit (Art. 279 Abs. 1


Sachverhalt:
A. Am 2. Juli 2009 erhielt die in Z. (Kanton Aargau) wohnhafte A. unter ihrem Fernmeldeanschluss ein dreiseitiges, eine Drohung beinhaltendes, Faxschreiben (Verfahrensakten ST.2009.3822, act. 34 – 36). Gestützt darauf stellte sie am 15. Juli 2009 bei der Kantonspolizei Aargau einen Strafantrag gegen unbekannte Täterschaft wegen Drohung im Sinne von Art. 180

SR 311.0 Schweizerisches Strafgesetzbuch vom 21. Dezember 1937 StGB Art. 180 - 1 Wer jemanden durch schwere Drohung in Schrecken oder Angst versetzt, wird, auf Antrag, mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder Geldstrafe bestraft. |
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1 | Wer jemanden durch schwere Drohung in Schrecken oder Angst versetzt, wird, auf Antrag, mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder Geldstrafe bestraft. |
2 | Der Täter wird von Amtes wegen verfolgt, wenn er: |
a | der Ehegatte des Opfers ist und die Drohung während der Ehe oder bis zu einem Jahr nach der Scheidung begangen wurde; oder |
abis | die eingetragene Partnerin oder der eingetragene Partner des Opfers ist und die Drohung während der eingetragenen Partnerschaft oder bis zu einem Jahr nach deren Auflösung begangen wurde; oder |
b | der hetero- oder homosexuelle Lebenspartner des Opfers ist, sofern sie auf unbestimmte Zeit einen gemeinsamen Haushalt führen und die Drohung während dieser Zeit oder bis zu einem Jahr nach der Trennung begangen wurde.252 |

SR 311.0 Schweizerisches Strafgesetzbuch vom 21. Dezember 1937 StGB Art. 179septies - Wer eine Fernmeldeanlage zur Beunruhigung oder Belästigung missbraucht, wird, auf Antrag, mit Freiheitsstrafe bis zu einem Jahr oder Geldstrafe bestraft. |
B. Mit Schreiben vom 4. Januar 2010 ersuchte das Bezirksamt Lenzburg den Giudice dell’istruzione e dell’arresto in Lugano um Übernahme des gegen B. geführten Strafverfahrens (Verfahrensakten ST.2009.3822, act. 8). Das Ministero pubblico des Kantons Tessin (nachfolgend „Ministero pubblico“) lehnte am 26. Januar 2010 dieses Ersuchen sowie am 16. März 2010 ein weiteres entsprechendes Ersuchen der Staatsanwaltschaft des Kantons Aargau ab (Verfahrensakten ST.2009.3822, act. 2, 3 f. und 7).
C. Mit Gesuch vom 30. März 2010 gelangt die Staatsanwaltschaft des Kantons Aargau an die I. Beschwerdekammer des Bundesstrafgerichts und beantragt, es seien die Behörden des Kantons Tessin zur gesamthaften Verfolgung und Beurteilung der B. zur Last gelegten Straftaten berechtigt und verpflichtet zu erklären (act. 1).
Das Ministero pubblico schliesst in seiner Gesuchsantwort vom 12. Ap- ril 2010 auf Abweisung des Gesuchs (act. 3). Die Gesuchsantwort wurde der Staatsanwaltschaft des Kantons Aargau am 13. April 2010 zur Kenntnis gebracht (act. 4).
Auf die Ausführungen der Parteien und die eingereichten Akten wird, soweit erforderlich, in den folgenden rechtlichen Erwägungen Bezug genommen.
Die I. Beschwerdekammer zieht in Erwägung:
1.
1.1 Die Zuständigkeit der I. Beschwerdekammer des Bundesstrafgerichts zum Entscheid über Gerichtsstandsstreitigkeiten ergibt sich aus Art. 345



SR 311.0 Schweizerisches Strafgesetzbuch vom 21. Dezember 1937 StGB Art. 179septies - Wer eine Fernmeldeanlage zur Beunruhigung oder Belästigung missbraucht, wird, auf Antrag, mit Freiheitsstrafe bis zu einem Jahr oder Geldstrafe bestraft. |
1.2 Die Staatsanwaltschaft des Kantons Aargau ist berechtigt, den Gesuchsteller bei interkantonalen Gerichtsstandskonflikten vor der I. Beschwerdekammer zu vertreten (§ 33 Abs. 2 des Gesetzes über die Strafrechtspflege des Kantons Aargau vom 11. November 1958 [Strafprozessordnung, StPO/AG; SAR 251.100]). Bezüglich des Gesuchsgegners steht diese Befugnis praxisgemäss dem Ministero pubblico zu (Schweri/Bänziger, a.a.O., Anhang II – der dort enthaltene Hinweis auf die entsprechende gesetzliche Grundlage ist mittlerweile jedoch veraltet; vgl. zuletzt den Entscheid des Bundesstrafgerichts BG.2009.25 vom 16. November 2009, E. 1.2). Der Gesuchsteller hat mit dem Gesuchsgegner vor Einreichung des Gesuchs einen Meinungsaustausch durchgeführt. Auch die übrigen Eintretensvoraussetzungen geben vorliegend zu keinen weiteren Bemerkungen Anlass, weshalb auf das Gesuch einzutreten ist.
2.
2.1 Für die Verfolgung und Beurteilung einer strafbaren Handlung sind die Behörden des Ortes zuständig, wo die strafbare Handlung ausgeführt wurde. Liegt nur der Ort, wo der Erfolg eingetreten ist oder eintreten sollte, in der Schweiz, so sind die Behörden dieses Ortes zuständig (Art. 340 Abs. 1

SR 311.0 Schweizerisches Strafgesetzbuch vom 21. Dezember 1937 StGB Art. 179septies - Wer eine Fernmeldeanlage zur Beunruhigung oder Belästigung missbraucht, wird, auf Antrag, mit Freiheitsstrafe bis zu einem Jahr oder Geldstrafe bestraft. |

SR 311.0 Schweizerisches Strafgesetzbuch vom 21. Dezember 1937 StGB Art. 179septies - Wer eine Fernmeldeanlage zur Beunruhigung oder Belästigung missbraucht, wird, auf Antrag, mit Freiheitsstrafe bis zu einem Jahr oder Geldstrafe bestraft. |

SR 311.0 Schweizerisches Strafgesetzbuch vom 21. Dezember 1937 StGB Art. 179septies - Wer eine Fernmeldeanlage zur Beunruhigung oder Belästigung missbraucht, wird, auf Antrag, mit Freiheitsstrafe bis zu einem Jahr oder Geldstrafe bestraft. |
2.2 Im vorliegenden Fall befinden sich – anders als bei der dem vom Gesuchsgegner angerufenen BGE 125 IV 177 zu Grunde liegenden Sachlage – sowohl der Ort der Ausführung als auch der Ort des Erfolgseintritts in der Schweiz, so dass zur Bestimmung des gesetzlichen Gerichtsstandes nach dem oben Gesagten allein der Ausführungsort massgebend ist. Der gesetzliche Gerichtsstand zur Verfolgung und Beurteilung der B. zur Last gelegten Straftaten liegt demnach im Kanton Tessin. Entgegen den Vorbringen des Gesuchsgegners ist vorliegend nicht auf das forum praeventionis gemäss Art. 340 Abs. 2

SR 311.0 Schweizerisches Strafgesetzbuch vom 21. Dezember 1937 StGB Art. 179septies - Wer eine Fernmeldeanlage zur Beunruhigung oder Belästigung missbraucht, wird, auf Antrag, mit Freiheitsstrafe bis zu einem Jahr oder Geldstrafe bestraft. |
3.
3.1 Geht in einem Kanton eine Strafanzeige ein, so haben die Strafverfolgungsbehörden von Amtes wegen zu prüfen, ob nach den gesetzlichen Gerichtsstandsregeln ihre örtliche Zuständigkeit und damit die Gerichtsbarkeit ihres Kantons gegeben ist. Diese Prüfung soll summarisch und beschleunigt erfolgen, um unnötige Verzögerungen des Untersuchungsverfahrens zu vermeiden. Damit diese Prüfung zuverlässig erfolgen kann, hat die mit der Sache befasste Behörde alle für die Festlegung des Gerichtsstandes wesentlichen Tatsachen zu erforschen und alle dazu notwendigen Erhebungen durchzuführen. Insbesondere ist in diesem Zusammenhang der Ausführungsort zu ermitteln. Beschränkt sich ein Kanton nicht darauf, sondern nimmt er während verhältnismässig langer Zeit weitere Ermittlungen vor, obschon längst Anlass bestanden hätte, die eigene Zuständigkeit abzuklären, so liegt darin eine konkludente Anerkennung des Gerichtsstandes; auch durch eine solche können die Kantone vom gesetzlichen Gerichtsstand abweichen (Schweri/Bänziger, a.a.O., N. 443; BGE 119 IV 102 E. 4a und 4b; vgl. auch die Entscheide des Bundesstrafgerichts BG.2008.19 vom 21. Oktober 2008, E. 3.1; BG.2008.1 vom 28. Januar 2008, E. 5.1; BG.2006.28 vom 26. September 2006, E. 3.1; BG.2005.29 vom 13. Dezember 2005, E. 2.2).
3.2 Aus den vorliegenden Akten ergibt sich, dass der rapportierende Sachbearbeiter der Kantonspolizei Aargau bereits am 28. Juli 2009 erkannte, dass die Tessiner Behörden für die Weiterführung des Verfahrens zuständig wären (Verfahrensakten ST.2009.3822, act. 32, Ziff. 3). Mit Zwischenverfügung vom selben Tage ersuchte der lokale Polizeiposten das Polizeikommando des Kantons Aargau um Weiterleitung der Akten an die Tessiner Behörden zwecks Befragung der Beschuldigten und Eröffnung der Verzeigung an die zuständige Amtsstelle im Kanton Tessin (Verfahrensakten ST.2009.3822, act. 37). Das Polizeikommando des Kantons Aargau ersuchte die Tessiner Behörden in der Folge jedoch offenbar nicht um Übernahme des Verfahrens sondern bloss um Eröffnung der Anzeige an die Beschuldigte sowie um deren Befragung auf dem Rechtshilfeweg (Verfahrensakten ST.2009.3822, act. 38). Nach erfolgter Erledigung dieses Ersuchens durch die Tessiner Polizeibehörden nahm die Kantonspolizei Aargau am 24. Dezember 2009 eine Einvernahme der Geschädigten vor (Verfahrensakten ST.2009.3822., act. 46 ff.). In der Folge dann leiteten die Strafverfolgungsbehörden des Kantons Aargau den Meinungsaustausch mit den Behörden des Kantons Tessin ein. Dass vorliegend von einer konkludenten Anerkennung des Gerichtsstandes durch die Behörden des Gesuchstellers auszugehen ist, muss verneint werden bzw. erscheint zumindest als fraglich. Zwar verstrichen zwischen dem Zeitpunkt, in welchem klar sein musste, dass sich der gesetzliche Gerichtsstand im Kanton Tessin befindet, und der Einleitung des Meinungsaustausches knapp über fünf Monate. Dies ist jedoch nicht auf Versäumnisse der Behörden des Gesuchstellers zurückzuführen, sondern hauptsächlich auf den Umstand, dass die Beschuldigte erst der dritten Vorladung durch die Tessiner Kantonspolizei zur Einvernahme Folge geleistet hat (vgl. Verfahrensakten ST.2009.3822, act. 39 ff.). Des Weiteren beschränkte sich die weitere Tätigkeit der Strafverfolgungsbehörden des Kantons Aargau auf eine kurze Einvernahme der in ihrem Kantonsgebiet wohnhaften Anzeigeerstatterin. Selbst wenn man das irrtümlicherweise anstelle eines Ersuchens um Verfahrensübernahme gestellte Ersuchen um Rechtshilfe als konkludente Anerkennung betrachten wollte, so beruhte diese offenbar auf einem Versehen. Weder liegt vorliegend der
gesetzliche Gerichtsstand im Kanton Aargau noch gibt es triftige Gründe, weshalb vom gesetzlichen Gerichtsstand abgewichen werden sollte. Es würde zudem den berechtigten Interessen der Beschuldigten zuwiderlaufen, wollte man den Gesuchsteller auf seinem Versehen behaften (vgl. Schweri/Bänziger, a.a.O., N. 455 mit Hinweis auf BGE 117 IV 90 E. 4b).
4. Nach dem Gesagten ist das Gesuch gutzuheissen und es sind die Strafverfolgungsbehörden des Kantons Tessin für berechtigt und verpflichtet zu erklären, die B. zur Last gelegten Straftaten zu verfolgen und zu beurteilen.
5. Es werden keine Gerichtskosten erhoben (Art. 245 Abs. 1

SR 311.0 Schweizerisches Strafgesetzbuch vom 21. Dezember 1937 StGB Art. 179septies - Wer eine Fernmeldeanlage zur Beunruhigung oder Belästigung missbraucht, wird, auf Antrag, mit Freiheitsstrafe bis zu einem Jahr oder Geldstrafe bestraft. |

SR 173.110 Bundesgesetz vom 17. Juni 2005 über das Bundesgericht (Bundesgerichtsgesetz, BGG) - Bundesgerichtsgesetz BGG Art. 66 Erhebung und Verteilung der Gerichtskosten - 1 Die Gerichtskosten werden in der Regel der unterliegenden Partei auferlegt. Wenn die Umstände es rechtfertigen, kann das Bundesgericht die Kosten anders verteilen oder darauf verzichten, Kosten zu erheben. |
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1 | Die Gerichtskosten werden in der Regel der unterliegenden Partei auferlegt. Wenn die Umstände es rechtfertigen, kann das Bundesgericht die Kosten anders verteilen oder darauf verzichten, Kosten zu erheben. |
2 | Wird ein Fall durch Abstandserklärung oder Vergleich erledigt, so kann auf die Erhebung von Gerichtskosten ganz oder teilweise verzichtet werden. |
3 | Unnötige Kosten hat zu bezahlen, wer sie verursacht. |
4 | Dem Bund, den Kantonen und den Gemeinden sowie mit öffentlich-rechtlichen Aufgaben betrauten Organisationen dürfen in der Regel keine Gerichtskosten auferlegt werden, wenn sie in ihrem amtlichen Wirkungskreis, ohne dass es sich um ihr Vermögensinteresse handelt, das Bundesgericht in Anspruch nehmen oder wenn gegen ihre Entscheide in solchen Angelegenheiten Beschwerde geführt worden ist. |
5 | Mehrere Personen haben die ihnen gemeinsam auferlegten Gerichtskosten, wenn nichts anderes bestimmt ist, zu gleichen Teilen und unter solidarischer Haftung zu tragen. |
Demnach erkennt die I. Beschwerdekammer:
1. Die Strafverfolgungsbehörden des Kantons Tessin sind berechtigt und verpflichtet, die B. zur Last gelegten Straftaten zu verfolgen und zu beurteilen.
2. Es werden keine Gerichtskosten erhoben.
Bellinzona, 21. April 2010
Im Namen der I. Beschwerdekammer des Bundesstrafgerichts
Der Präsident: Der Gerichtsschreiber:
Zustellung an
- Staatsanwaltschaft des Kantons Aargau
- Ministero pubblico
Rechtsmittelbelehrung
Gegen diesen Entscheid ist kein ordentliches Rechtsmittel gegeben.