TPF 2023 156
17. Auszug aus dem Beschluss der Beschwerdekammer in Sachen Kanton Aargau gegen Kanton Tessin vom 18. August 2023 (BG.2023.25)
Gerichtsstandskonflikt; Amtssprache; Abweichen vom gesetzlichen Gerichtsstand; nachträgliche Änderung eines Gerichtsstands Art. 40 Abs. 3

SR 312.0 Schweizerische Strafprozessordnung vom 5. Oktober 2007 (Strafprozessordnung, StPO) - Strafprozessordnung StPO Art. 40 Gerichtsstandskonflikte - 1 Ist der Gerichtsstand unter Strafbehörden des gleichen Kantons streitig, so entscheidet die Ober- oder Generalstaatsanwaltschaft oder, wenn keine solche vorgesehen ist, die Beschwerdeinstanz dieses Kantons.17 |

SR 312.0 Schweizerische Strafprozessordnung vom 5. Oktober 2007 (Strafprozessordnung, StPO) - Strafprozessordnung StPO Art. 42 Gemeinsame Bestimmungen - 1 Bis zur verbindlichen Bestimmung des Gerichtsstands trifft die zuerst mit der Sache befasste Behörde die unaufschiebbaren Massnahmen. Wenn nötig bezeichnet die zum Entscheid über den Gerichtsstand zuständige Behörde jene Behörde, die sich vorläufig mit der Sache befassen muss. |

SR 312.0 Schweizerische Strafprozessordnung vom 5. Oktober 2007 (Strafprozessordnung, StPO) - Strafprozessordnung StPO Art. 67 Verfahrenssprache - 1 Bund und Kantone bestimmen die Verfahrenssprachen ihrer Strafbehörden. |
Die Amtssprache eines Kantons ist im Normalfall kein triftiger Grund für das Abweichen vom gesetzlichen Gerichtsstand bzw. kein wichtiger Grund zur nachträglichen Änderung eines Gerichtsstands.
Conflit de fors; langue officielle; fixation d'un autre for; modification ultérieure du for Art. 40 al. 3, 42 al. 3, 67 al. 1 CPP
La langue officielle d'un canton ne constitue en règle générale pas un motif pertinent pour la détermination d'un for en dérogation du for ordinaire, respectivement un motif important pour une modification ultérieure du for.
Conflitto in materia di foro; lingua ufficiale; determinazione di un foro derogatorio; modifica successiva del foro Art. 40 cpv. 3, 42 cpv. 3, 67 cpv. 1 CPP La lingua ufficiale di un Cantone di regola non rappresenta un motivo pertinente per la determinazione di un foro derogatorio, risp. un motivo grave per una successiva modifica del foro.
Aus den Erwägungen:
2.7
2.7.1 Der Kanton Tessin führt sodann aus, auch die italienische Amtssprache sei ein Grund gegen die Tessiner Zuständigkeit: Die umfangreiche Dokumentation sei in Deutsch. Dies und ihre Analyse würden eine schwere administrative Belastung darstellen. Weder die Tessiner Staatsanwaltschaft noch die Gerichte würden über genügend deutsche Sprachkompetenzen für diesen komplexen Fall verfügen. Umgekehrt würde der Kanton Aargau auch durch Rechtshilfeersuchen auf Italienisch belastet.
Der Kanton Tessin führte bei Gerichtsstandskonflikten mit Kantonen, die über eine deutsche Amtssprache verfügen, verschiedentlich seine Amtssprache Italienisch an, die gegen eine Verfahrensübernahme spreche (z.B. Beschlüsse des Bundesstrafgerichts BG.2022.46 vom 30. Januar 2023 E. 3.2; BG.2021.24 vom 4. Oktober 2021 E. 5.2; BG.2020.14 vom 10. Juli 2020 E. 2.2; BG.2018.1 vom 2. März 2018 E. 2.5; BG.2013.16 vom 18. Juli 2013 E. 2.2; BG.2013.1 vom 6. Februar 2013 E. 2; BG.2009.25 vom 16. November 2009 E. 2.3).
2.7.2 Bund und Kantone bestimmen die Verfahrenssprachen ihrer Strafbehörden (Art. 67 Abs. 1

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SR 101 Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft vom 18. April 1999 BV Art. 18 Sprachenfreiheit - Die Sprachenfreiheit ist gewährleistet. |
Die kantonalen Amtssprachen, seien sie deutsch, italienisch oder französisch, dürfen kein Hindernis für die interkantonale Zusammenarbeit in der Strafverfolgung sein; für die Zusammenarbeit (wozu auch das Weiterführen von übernommenen Strafverfahren gehört) genügt zumeist eine nur passive d.h. rezeptive Sprachkompetenz. Von in der Schweiz tätigen Anwälten ist zu erwarten, dass sie die Amtssprachen kennen (Urteile des Bundesgerichts 1A.71/2005 vom 11. Mai 2005 E. 4.1; 1A.87/2004 vom 3. Juni 2004 E. 1 mit Verweis auf BGE 126 II 258) bzw. zumindest passiv verstehen (TPF 2009 3 E. 1.4.3; im Detail bezüglich Sprachkompetenz TPF 2004 48 E. 2.4).
Mehrsprachiges Arbeiten zeichnet die juristische Tätigkeit in der Schweiz aus. Das Schweizer Recht ist ein Recht in mehreren Sprachen - bei der Auslegung von Gesetzestexten, bei der Anwendung mehrsprachiger Judikatur, Lehre und Hilfsmitteln und darüber hinaus (GARRÉ, Un solo diritto, più lingue: il multilinguismo interpretativo elvetico, LeGes 30 [2019] 3, S. 2 ff.; EGGER, A norma di (chi) legge, 2019, S. 34 ff.; KESHELAVA, Der Methodenpluralismus und die ratio legis, 2012, S. 32 f.; BORGHI/PREVITALI, Droit suisse des langues, in: Ehrenzeller [Hrsg.], Schweizerisches Bundesverwaltungsrecht Band IX, Bildungs-, Kulturund Sprachenrecht, 2018, N. 15-30, 141 ff.; CARONI, Einleitungsartikel des Zivilgesetzbuches, 1996, S. 104-106). Verstehen Juristen ihr Handwerk - ob sie nun in der Privatwirtschaft oder Verwaltung, bei der Staatsanwaltschaft oder Gerichten arbeiten - so wissen sie ihr mehrsprachiges Handwerkzeug zu gebrauchen. Es gilt dies in allen Kantonen gleichermassen. Sprachkenntnisse sind eine Grundlage der sachgerechten Zusammenarbeit der Strafbehörden. Die Verfahrenssprache ist daher im Normalfall kein triftiger Grund für einen abweichenden Gerichtsstand (Art. 40 Abs. 3

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