Bundesstrafgericht

Tribunal pénal fédéral Tribunale penale federale Tribunal penal federal

Geschäftsnummer: BG.2020.14

Beschluss vom 10. Juli 2020 Beschwerdekammer

Besetzung

Bundesstrafrichter Roy Garré, Vorsitz, Andreas J. Keller und Stephan Blättler, Gerichtsschreiber Martin Eckner

Parteien

Kanton Zürich, Oberstaatsanwaltschaft, Gesuchsteller

gegen

Kanton Tessin, Ministero pubblico, Gesuchsgegner

Gegenstand

Gerichtsstandskonflikt (Art. 40 Abs. 2
SR 312.0 Schweizerische Strafprozessordnung vom 5. Oktober 2007 (Strafprozessordnung, StPO) - Strafprozessordnung
StPO Art. 40 Gerichtsstandskonflikte - 1 Ist der Gerichtsstand unter Strafbehörden des gleichen Kantons streitig, so entscheidet die Ober- oder Generalstaatsanwaltschaft oder, wenn keine solche vorgesehen ist, die Beschwerdeinstanz dieses Kantons.17
1    Ist der Gerichtsstand unter Strafbehörden des gleichen Kantons streitig, so entscheidet die Ober- oder Generalstaatsanwaltschaft oder, wenn keine solche vorgesehen ist, die Beschwerdeinstanz dieses Kantons.17
2    Können sich die Strafverfolgungsbehörden verschiedener Kantone über den Gerichtsstand nicht einigen, so unterbreitet die Staatsanwaltschaft des Kantons, der zuerst mit der Sache befasst war, die Frage unverzüglich, in jedem Fall vor der Anklageerhebung, dem Bundesstrafgericht zum Entscheid.
3    Die zum Entscheid über den Gerichtsstand zuständige Behörde kann einen andern als den in den Artikeln 31-37 vorgesehenen Gerichtsstand festlegen, wenn der Schwerpunkt der deliktischen Tätigkeit oder die persönlichen Verhältnisse der beschuldigten Person es erfordern oder andere triftige Gründe vorliegen.
StPO)

Sachverhalt:

A. Die Staatsanwaltschaft des Kantons Zürich wirft A. vor, seine Ehefrau B. (nachfolgend «Geschädigte») im Zeitraum von Dezember 2016 bis Februar 2018 am damaligen ehelichen Wohnort in Z. (TI) vergewaltigt, der Freiheit beraubt und weiter in ihrer körperlichen Integrität verletzt zu haben. Ab März 2018 bis Juli 2019 soll er weitere häusliche Gewalt gegen die Geschädigte am neuen ehelichen Wohnort in Y. (ZH) begangen haben. Die Geschädigte hatte sich am 17. Dezember 2019 an die Stadtpolizei Winterthur gewandt, um die ganze Gewaltgeschichte zur Anzeige zu bringen. Das Statthalteramt Pfäffikon ZH hatte gegen A. bereits am 1. Juni 2018 einen Strafbefehl erlassen, wegen mehrfachen Tätlichkeiten gegen die Geschädigte.

B. Aufgrund der Vorstrafe trat am 25. März 2020, gestützt auf die Weisungen der Zürcher Oberstaatsanwaltschaft, die Staatsanwaltschaft See/Oberland das Strafverfahren an die Staatsanwaltschaft I (Schwere Gewaltkriminalität) ab. Am 24. März 2020 stellte diese eine Gerichtsstandsanfrage an die Staatsanwaltschaft des Kantons Tessin (nachfolgend «StA/TI»): Die schwerste Tat sei eine Vergewaltigung, in Z. (TI) geschehen. Die StA/TI lehnte die Übernahme am 3. April 2020 ab. Auch mit der Zürcher Oberstaatsanwaltschaft konnte im Meinungsaustausch keine Einigung erzielt werden. Er endete am 12. Mai 2020 erfolglos.

C. Die Oberstaatsanwaltschaft des Kantons Zürich gelangte am 18. Mai 2020 an die Beschwerdekammer des Bundesstrafgerichts zwecks Bestimmung des Gerichtsstandes. Die Gesuchsantwort der StA/TI wurde am 29. Mai 2020 erstattet. Die Kantone Zürich und Tessin beantragten vor der Beschwerdekammer, es sei der jeweils andere Kanton für zuständig zu erklären.

Auf die Ausführungen der Parteien und die eingereichten Akten wird, soweit erforderlich, in den nachfolgenden rechtlichen Erwägungen Bezug genommen.

Die Beschwerdekammer zieht in Erwägung:

1. Die Eintretensvoraussetzungen (durchgeführter Meinungsaustausch zwischen den involvierten Kantonen und zuständigen Behörden, Frist und Form, vgl. Beschluss des Bundesstrafgerichts BG.2019.50 vom 22. Januar 2020 E. 1.1) sind vorliegend erfüllt und geben zu keinen Bemerkungen Anlass. Auf das Gesuch ist einzutreten.

2.

2.1 Hat eine beschuldigte Person mehrere Straftaten an verschiedenen Orten verübt, so sind für die Verfolgung und Beurteilung sämtlicher Taten die Behörden des Ortes zuständig, an dem die mit der schwersten Strafe bedrohte Tat begangen worden ist (Art. 34 Abs. 1
SR 312.0 Schweizerische Strafprozessordnung vom 5. Oktober 2007 (Strafprozessordnung, StPO) - Strafprozessordnung
StPO Art. 34 - 1 Hat eine beschuldigte Person mehrere Straftaten an verschiedenen Orten verübt, so sind für die Verfolgung und Beurteilung sämtlicher Taten die Behörden des Ortes zuständig, an dem die mit der schwersten Strafe bedrohte Tat begangen worden ist. Bei gleicher Strafdrohung sind die Behörden des Ortes zuständig, an dem zuerst Verfolgungshandlungen vorgenommen worden sind.
1    Hat eine beschuldigte Person mehrere Straftaten an verschiedenen Orten verübt, so sind für die Verfolgung und Beurteilung sämtlicher Taten die Behörden des Ortes zuständig, an dem die mit der schwersten Strafe bedrohte Tat begangen worden ist. Bei gleicher Strafdrohung sind die Behörden des Ortes zuständig, an dem zuerst Verfolgungshandlungen vorgenommen worden sind.
2    Ist in einem beteiligten Kanton im Zeitpunkt des Gerichtsstandsverfahrens nach den Artikeln 39-42 wegen einer der Straftaten schon Anklage erhoben worden, so werden die Verfahren getrennt geführt.
3    Ist eine Person von verschiedenen Gerichten zu mehreren gleichartigen Strafen verurteilt worden, so setzt das Gericht, das die schwerste Strafe ausgesprochen hat, auf Gesuch der verurteilten Person eine Gesamtstrafe fest.
StPO). Vorliegend ist unbestritten (act. 1 S. 5 Ziff. 4.2; act. 3 S. 2), dass die von der Geschädigten angezeigte Vergewaltigung (Art. 190 Abs. 1
SR 311.0 Schweizerisches Strafgesetzbuch vom 21. Dezember 1937
StGB Art. 190 - 1 Wer gegen den Willen einer Person den Beischlaf oder eine beischlafsähnliche Handlung, die mit einem Eindringen in den Körper verbunden ist, an dieser vornimmt oder von dieser vornehmen lässt oder zu diesem Zweck einen Schockzustand einer Person ausnützt, wird mit Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren bestraft.
1    Wer gegen den Willen einer Person den Beischlaf oder eine beischlafsähnliche Handlung, die mit einem Eindringen in den Körper verbunden ist, an dieser vornimmt oder von dieser vornehmen lässt oder zu diesem Zweck einen Schockzustand einer Person ausnützt, wird mit Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren bestraft.
2    Wer eine Person zur Vornahme oder Duldung des Beischlafs oder einer beischlafsähnlichen Handlung, die mit einem Eindringen in den Körper verbunden ist, nötigt, namentlich indem er sie bedroht, Gewalt anwendet, sie unter psychischen Druck setzt oder zum Widerstand unfähig macht, wird mit Freiheitsstrafe von einem Jahr bis zu zehn Jahren bestraft.
3    Handelt der Täter nach Absatz 2 grausam, verwendet er eine gefährliche Waffe oder einen anderen gefährlichen Gegenstand, so ist die Strafe Freiheitsstrafe nicht unter drei Jahren.
StGB) in Z. (TI) vom Januar 2017 die schwerste Tat im Gerichtsstandsverfahren darstellt. Eine Vergewaltigung wird mit Freiheitsstrafe von einem Jahr bis zu zehn Jahren bestraft. Der ordentliche Gerichtsstand des Art. 34 Abs. 1
SR 312.0 Schweizerische Strafprozessordnung vom 5. Oktober 2007 (Strafprozessordnung, StPO) - Strafprozessordnung
StPO Art. 34 - 1 Hat eine beschuldigte Person mehrere Straftaten an verschiedenen Orten verübt, so sind für die Verfolgung und Beurteilung sämtlicher Taten die Behörden des Ortes zuständig, an dem die mit der schwersten Strafe bedrohte Tat begangen worden ist. Bei gleicher Strafdrohung sind die Behörden des Ortes zuständig, an dem zuerst Verfolgungshandlungen vorgenommen worden sind.
1    Hat eine beschuldigte Person mehrere Straftaten an verschiedenen Orten verübt, so sind für die Verfolgung und Beurteilung sämtlicher Taten die Behörden des Ortes zuständig, an dem die mit der schwersten Strafe bedrohte Tat begangen worden ist. Bei gleicher Strafdrohung sind die Behörden des Ortes zuständig, an dem zuerst Verfolgungshandlungen vorgenommen worden sind.
2    Ist in einem beteiligten Kanton im Zeitpunkt des Gerichtsstandsverfahrens nach den Artikeln 39-42 wegen einer der Straftaten schon Anklage erhoben worden, so werden die Verfahren getrennt geführt.
3    Ist eine Person von verschiedenen Gerichten zu mehreren gleichartigen Strafen verurteilt worden, so setzt das Gericht, das die schwerste Strafe ausgesprochen hat, auf Gesuch der verurteilten Person eine Gesamtstrafe fest.
StPO liegt damit im Kanton Tessin.

Die zum Entscheid über den Gerichtsstand zuständige Behörde kann einen andern als den in den Artikeln 31–37 vorgesehenen Gerichtsstand festlegen, wenn der Schwerpunkt der deliktischen Tätigkeit oder die persönlichen Verhältnisse der beschuldigten Person es erfordern oder andere triftige Gründe vorliegen (Art. 40 Abs. 3
SR 312.0 Schweizerische Strafprozessordnung vom 5. Oktober 2007 (Strafprozessordnung, StPO) - Strafprozessordnung
StPO Art. 40 Gerichtsstandskonflikte - 1 Ist der Gerichtsstand unter Strafbehörden des gleichen Kantons streitig, so entscheidet die Ober- oder Generalstaatsanwaltschaft oder, wenn keine solche vorgesehen ist, die Beschwerdeinstanz dieses Kantons.17
1    Ist der Gerichtsstand unter Strafbehörden des gleichen Kantons streitig, so entscheidet die Ober- oder Generalstaatsanwaltschaft oder, wenn keine solche vorgesehen ist, die Beschwerdeinstanz dieses Kantons.17
2    Können sich die Strafverfolgungsbehörden verschiedener Kantone über den Gerichtsstand nicht einigen, so unterbreitet die Staatsanwaltschaft des Kantons, der zuerst mit der Sache befasst war, die Frage unverzüglich, in jedem Fall vor der Anklageerhebung, dem Bundesstrafgericht zum Entscheid.
3    Die zum Entscheid über den Gerichtsstand zuständige Behörde kann einen andern als den in den Artikeln 31-37 vorgesehenen Gerichtsstand festlegen, wenn der Schwerpunkt der deliktischen Tätigkeit oder die persönlichen Verhältnisse der beschuldigten Person es erfordern oder andere triftige Gründe vorliegen.
StPO).

2.2 Der Kanton Tessin bringt vorliegend diverse Gründe vor, um vom gesetzlichen Gerichtsstand abzuweichen (vgl. Art. 40 Abs. 3
SR 312.0 Schweizerische Strafprozessordnung vom 5. Oktober 2007 (Strafprozessordnung, StPO) - Strafprozessordnung
StPO Art. 40 Gerichtsstandskonflikte - 1 Ist der Gerichtsstand unter Strafbehörden des gleichen Kantons streitig, so entscheidet die Ober- oder Generalstaatsanwaltschaft oder, wenn keine solche vorgesehen ist, die Beschwerdeinstanz dieses Kantons.17
1    Ist der Gerichtsstand unter Strafbehörden des gleichen Kantons streitig, so entscheidet die Ober- oder Generalstaatsanwaltschaft oder, wenn keine solche vorgesehen ist, die Beschwerdeinstanz dieses Kantons.17
2    Können sich die Strafverfolgungsbehörden verschiedener Kantone über den Gerichtsstand nicht einigen, so unterbreitet die Staatsanwaltschaft des Kantons, der zuerst mit der Sache befasst war, die Frage unverzüglich, in jedem Fall vor der Anklageerhebung, dem Bundesstrafgericht zum Entscheid.
3    Die zum Entscheid über den Gerichtsstand zuständige Behörde kann einen andern als den in den Artikeln 31-37 vorgesehenen Gerichtsstand festlegen, wenn der Schwerpunkt der deliktischen Tätigkeit oder die persönlichen Verhältnisse der beschuldigten Person es erfordern oder andere triftige Gründe vorliegen.
StPO). Er weist auf den Zustand grosser Fragilität der Geschädigten hin. Sie leide unter einer posttraumatischen Belastungsstörung, die eine stationäre psychiatrische Unterbringung erfordert habe und welche noch nicht geheilt sei. Sie während der Untersuchung, aber auch für eine Gerichtsverhandlung, aus ihrer Umgebung herauszureissen wirke destabilisierend. Im Kanton Zürich befänden sich neben der Geschädigten auch der Beschuldigte, die Zeugen C., D. und E., die Ärzte, das Personal des Frauenhauses und dort seien auch die psychiatrische Begutachtung wie die Konfrontationseinvernahmen vorzunehmen. Ein Tunnelblick auf das Strafmass trage den Umständen und Besonderheiten des speziellen Falles gar keine Rechnung. Für ein Abweichen vom Gerichtsstand spräche, dass sich schwerwiegende Vorfälle auch im Kanton Zürich ereigneten, die Sprache der beteiligten Personen, die Logistik, die Prozessökonomie, die enormen Kosten, das Beschleunigungsprinzip sowie dass die Beweise auf dem Gebiet des Kantons Zürich zu sammeln seien. Es entbehre vorliegend jeglicher Logik und laufe einer grundlegendsten Prozessökonomie entgegen, hätte der Kanton Tessin das vorliegende Strafverfahren «ferngesteuert» mittels interkantonaler Rechtshilfe zu führen. Die Unmittelbarkeit gehe verloren, es entstünden Doppelspurigkeiten und die Übersetzung sämtlicher Aktenstücke koste Zeit wie Geld. Die Verzögerungen gingen zulasten der Parteien.

Der Kanton Tessin erwähnt schliesslich noch ein Schwergewicht von Taten im Kanton Zürich sowie die Pandemie als Gründe, um vom gesetzlichen Gerichtsstand abzuweichen.

2.3 Art. 40 Abs. 3
SR 312.0 Schweizerische Strafprozessordnung vom 5. Oktober 2007 (Strafprozessordnung, StPO) - Strafprozessordnung
StPO Art. 40 Gerichtsstandskonflikte - 1 Ist der Gerichtsstand unter Strafbehörden des gleichen Kantons streitig, so entscheidet die Ober- oder Generalstaatsanwaltschaft oder, wenn keine solche vorgesehen ist, die Beschwerdeinstanz dieses Kantons.17
1    Ist der Gerichtsstand unter Strafbehörden des gleichen Kantons streitig, so entscheidet die Ober- oder Generalstaatsanwaltschaft oder, wenn keine solche vorgesehen ist, die Beschwerdeinstanz dieses Kantons.17
2    Können sich die Strafverfolgungsbehörden verschiedener Kantone über den Gerichtsstand nicht einigen, so unterbreitet die Staatsanwaltschaft des Kantons, der zuerst mit der Sache befasst war, die Frage unverzüglich, in jedem Fall vor der Anklageerhebung, dem Bundesstrafgericht zum Entscheid.
3    Die zum Entscheid über den Gerichtsstand zuständige Behörde kann einen andern als den in den Artikeln 31-37 vorgesehenen Gerichtsstand festlegen, wenn der Schwerpunkt der deliktischen Tätigkeit oder die persönlichen Verhältnisse der beschuldigten Person es erfordern oder andere triftige Gründe vorliegen.
StPO erlaubt der Beschwerdekammer, von einer Gerichtsstandsregel im Interesse des Einzelfalles abzuweichen («wenn der Schwerpunkt der deliktischen Tätigkeit oder die persönlichen Verhältnisse der beschuldigten Person es erfordern oder andere triftige Gründe vorliegen»). Auch die beteiligten Kantone können dies nach Art. 38
SR 312.0 Schweizerische Strafprozessordnung vom 5. Oktober 2007 (Strafprozessordnung, StPO) - Strafprozessordnung
StPO Art. 38 Bestimmung eines abweichenden Gerichtsstands - 1 Die Staatsanwaltschaften können untereinander einen anderen als den in den Artikeln 31-37 vorgesehenen Gerichtsstand vereinbaren, wenn der Schwerpunkt der deliktischen Tätigkeit oder die persönlichen Verhältnisse der beschuldigten Person es erfordern oder andere triftige Gründe vorliegen.
1    Die Staatsanwaltschaften können untereinander einen anderen als den in den Artikeln 31-37 vorgesehenen Gerichtsstand vereinbaren, wenn der Schwerpunkt der deliktischen Tätigkeit oder die persönlichen Verhältnisse der beschuldigten Person es erfordern oder andere triftige Gründe vorliegen.
2    Zur Wahrung der Verfahrensrechte einer Partei kann die Beschwerdeinstanz des Kantons auf Antrag dieser Partei oder von Amtes wegen nach Erhebung der Anklage die Beurteilung in Abweichung der Gerichtsstandsvorschriften dieses Kapitels einem andern sachlich zuständigen erstinstanzlichen Gericht des Kantons zur Beurteilung überweisen.
StPO tun. Die Beschwerdekammer hat die Sprache alleine nie als Grund angesehen, um von der gesetzlichen Gerichtsstandsordnung abzuweichen. Strafbehörden in der Eidgenossenschaft organisieren sich so, dass sie auch auf der Grundlage des sprachlichen Territorialitätsprinzips (Art. 70 Abs. 2
SR 101 Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft vom 18. April 1999
BV Art. 70 Sprachen - 1 Die Amtssprachen des Bundes sind Deutsch, Französisch und Italienisch. Im Verkehr mit Personen rätoromanischer Sprache ist auch das Rätoromanische Amtssprache des Bundes.
BV) der Realität der Mehrsprachigkeit des Landes gerecht werden (vgl. z.B. zum Verständigungsprinzip Kägi-Diener, Die schweizerische Bundesverfassung, St. Galler Kommentar, 3. Aufl. 2014, Art. 70 N. 39, 43 f.). Die Einvernahmen der Geschädigten als wichtige Beweismittel («Vier-Augen-Delikte») müssen vorliegend zudem so oder so übersetzt werden, da sie in Russisch oder allenfalls in Englisch durchzuführen sind.

Die Beschwerdekammer ist auch im Übrigen zurückhaltend, einen abweichenden Gerichtsstand zu bejahen (vgl. Baumgartner, Die Zuständigkeit im Strafverfahren, 2014, S. 355 ff.). Vermöchte eine unbestimmte Kombination an Faktoren wie Distanz, Sprache, Logistik, Kosten etc. den Gerichtsstand ohne weiteres zu ändern, verlöre die Gerichtsstandsordnung an Rechtssicherheit. Dies würde Gerichtsstandskonflikte wie auch Ungleichheiten fördern und erwiese den Kantonen letztlich keinen guten Dienst.

Auch wenn einige praktische Gründe für ein Abweichen vom gesetzlichen Gerichtsstand sprechen, erfüllt die vorliegende Konstellation die hohen Anforderungen an den dafür notwendigen triftigen Grund im Sinne von Art. 40 Abs. 3
SR 312.0 Schweizerische Strafprozessordnung vom 5. Oktober 2007 (Strafprozessordnung, StPO) - Strafprozessordnung
StPO Art. 40 Gerichtsstandskonflikte - 1 Ist der Gerichtsstand unter Strafbehörden des gleichen Kantons streitig, so entscheidet die Ober- oder Generalstaatsanwaltschaft oder, wenn keine solche vorgesehen ist, die Beschwerdeinstanz dieses Kantons.17
1    Ist der Gerichtsstand unter Strafbehörden des gleichen Kantons streitig, so entscheidet die Ober- oder Generalstaatsanwaltschaft oder, wenn keine solche vorgesehen ist, die Beschwerdeinstanz dieses Kantons.17
2    Können sich die Strafverfolgungsbehörden verschiedener Kantone über den Gerichtsstand nicht einigen, so unterbreitet die Staatsanwaltschaft des Kantons, der zuerst mit der Sache befasst war, die Frage unverzüglich, in jedem Fall vor der Anklageerhebung, dem Bundesstrafgericht zum Entscheid.
3    Die zum Entscheid über den Gerichtsstand zuständige Behörde kann einen andern als den in den Artikeln 31-37 vorgesehenen Gerichtsstand festlegen, wenn der Schwerpunkt der deliktischen Tätigkeit oder die persönlichen Verhältnisse der beschuldigten Person es erfordern oder andere triftige Gründe vorliegen.
StPO nicht. Es liegt auch kein Schwergewicht von Taten im Sinne der Rechtsprechung vor (vgl. Baumgartner, a.a.O., S. 362 ff.). COVID-19 bringt der Strafrechtspflege sodann Erschwernisse, die Pandemie stellt neue Anforderungen an Abläufe, die interne Behördenorganisation. Richtigerweise ist ihr dort zu begegnen und nicht in der Zuweisung der kantonalen Zuständigkeit (Gerichtsstände). Die StA/TI könnte der Geschädigten wie dem Beschuldigten und weiteren Personen damit entgegenkommen, dass sie nach Absprache Einvernahmen selbst im Kanton Zürich durchführt. Die Kantone haben schliesslich ihre Rechtspflege so mit Mitteln auszustatten, dass sie ihre Aufgaben erfüllen kann (vgl. BGE 119 III 1 E. 3; 107 III 3 E. 3; 107 Ib 160 E. 3c S. 164; 103 V 190 E. 5c S. 198 f.).

2.4 Insgesamt sind die Behörden des Kantons Tessin berechtigt und verpflichtet, die Vorwürfe gegen A. zu verfolgen und zu beurteilen.

3. Es ist keine Gerichtsgebühr zu erheben.

Demnach erkennt die Beschwerdekammer:

1. Die Behörden des Kantons Tessin sind berechtigt und verpflichtet, die Vorwürfe gegen A. zu verfolgen und zu beurteilen.

2. Es wird keine Gerichtsgebühr erhoben.

Bellinzona, 10. Juli 2020

Im Namen der Beschwerdekammer des Bundesstrafgerichts

Der Präsident: Der Gerichtsschreiber:

Zustellung an

- Oberstaatsanwaltschaft des Kantons Zürich

- Ministero pubblico del Cantone Ticino

Rechtsmittelbelehrung

Gegen diesen Entscheid ist kein ordentliches Rechtsmittel gegeben.
Entscheidinformationen   •   DEFRITEN
Dokument : BG.2020.14
Datum : 10. Juli 2020
Publiziert : 02. September 2020
Quelle : Bundesstrafgericht
Status : Unpubliziert
Sachgebiet : Beschwerdekammer: Strafverfahren
Gegenstand : Gerichtsstandskonflikt (Art. 40 Abs. 2 StPO).


Gesetzesregister
BV: 70
SR 101 Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft vom 18. April 1999
BV Art. 70 Sprachen - 1 Die Amtssprachen des Bundes sind Deutsch, Französisch und Italienisch. Im Verkehr mit Personen rätoromanischer Sprache ist auch das Rätoromanische Amtssprache des Bundes.
StGB: 190
SR 311.0 Schweizerisches Strafgesetzbuch vom 21. Dezember 1937
StGB Art. 190 - 1 Wer gegen den Willen einer Person den Beischlaf oder eine beischlafsähnliche Handlung, die mit einem Eindringen in den Körper verbunden ist, an dieser vornimmt oder von dieser vornehmen lässt oder zu diesem Zweck einen Schockzustand einer Person ausnützt, wird mit Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren bestraft.
1    Wer gegen den Willen einer Person den Beischlaf oder eine beischlafsähnliche Handlung, die mit einem Eindringen in den Körper verbunden ist, an dieser vornimmt oder von dieser vornehmen lässt oder zu diesem Zweck einen Schockzustand einer Person ausnützt, wird mit Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren bestraft.
2    Wer eine Person zur Vornahme oder Duldung des Beischlafs oder einer beischlafsähnlichen Handlung, die mit einem Eindringen in den Körper verbunden ist, nötigt, namentlich indem er sie bedroht, Gewalt anwendet, sie unter psychischen Druck setzt oder zum Widerstand unfähig macht, wird mit Freiheitsstrafe von einem Jahr bis zu zehn Jahren bestraft.
3    Handelt der Täter nach Absatz 2 grausam, verwendet er eine gefährliche Waffe oder einen anderen gefährlichen Gegenstand, so ist die Strafe Freiheitsstrafe nicht unter drei Jahren.
StPO: 34 
SR 312.0 Schweizerische Strafprozessordnung vom 5. Oktober 2007 (Strafprozessordnung, StPO) - Strafprozessordnung
StPO Art. 34 - 1 Hat eine beschuldigte Person mehrere Straftaten an verschiedenen Orten verübt, so sind für die Verfolgung und Beurteilung sämtlicher Taten die Behörden des Ortes zuständig, an dem die mit der schwersten Strafe bedrohte Tat begangen worden ist. Bei gleicher Strafdrohung sind die Behörden des Ortes zuständig, an dem zuerst Verfolgungshandlungen vorgenommen worden sind.
1    Hat eine beschuldigte Person mehrere Straftaten an verschiedenen Orten verübt, so sind für die Verfolgung und Beurteilung sämtlicher Taten die Behörden des Ortes zuständig, an dem die mit der schwersten Strafe bedrohte Tat begangen worden ist. Bei gleicher Strafdrohung sind die Behörden des Ortes zuständig, an dem zuerst Verfolgungshandlungen vorgenommen worden sind.
2    Ist in einem beteiligten Kanton im Zeitpunkt des Gerichtsstandsverfahrens nach den Artikeln 39-42 wegen einer der Straftaten schon Anklage erhoben worden, so werden die Verfahren getrennt geführt.
3    Ist eine Person von verschiedenen Gerichten zu mehreren gleichartigen Strafen verurteilt worden, so setzt das Gericht, das die schwerste Strafe ausgesprochen hat, auf Gesuch der verurteilten Person eine Gesamtstrafe fest.
38 
SR 312.0 Schweizerische Strafprozessordnung vom 5. Oktober 2007 (Strafprozessordnung, StPO) - Strafprozessordnung
StPO Art. 38 Bestimmung eines abweichenden Gerichtsstands - 1 Die Staatsanwaltschaften können untereinander einen anderen als den in den Artikeln 31-37 vorgesehenen Gerichtsstand vereinbaren, wenn der Schwerpunkt der deliktischen Tätigkeit oder die persönlichen Verhältnisse der beschuldigten Person es erfordern oder andere triftige Gründe vorliegen.
1    Die Staatsanwaltschaften können untereinander einen anderen als den in den Artikeln 31-37 vorgesehenen Gerichtsstand vereinbaren, wenn der Schwerpunkt der deliktischen Tätigkeit oder die persönlichen Verhältnisse der beschuldigten Person es erfordern oder andere triftige Gründe vorliegen.
2    Zur Wahrung der Verfahrensrechte einer Partei kann die Beschwerdeinstanz des Kantons auf Antrag dieser Partei oder von Amtes wegen nach Erhebung der Anklage die Beurteilung in Abweichung der Gerichtsstandsvorschriften dieses Kapitels einem andern sachlich zuständigen erstinstanzlichen Gericht des Kantons zur Beurteilung überweisen.
40
SR 312.0 Schweizerische Strafprozessordnung vom 5. Oktober 2007 (Strafprozessordnung, StPO) - Strafprozessordnung
StPO Art. 40 Gerichtsstandskonflikte - 1 Ist der Gerichtsstand unter Strafbehörden des gleichen Kantons streitig, so entscheidet die Ober- oder Generalstaatsanwaltschaft oder, wenn keine solche vorgesehen ist, die Beschwerdeinstanz dieses Kantons.17
1    Ist der Gerichtsstand unter Strafbehörden des gleichen Kantons streitig, so entscheidet die Ober- oder Generalstaatsanwaltschaft oder, wenn keine solche vorgesehen ist, die Beschwerdeinstanz dieses Kantons.17
2    Können sich die Strafverfolgungsbehörden verschiedener Kantone über den Gerichtsstand nicht einigen, so unterbreitet die Staatsanwaltschaft des Kantons, der zuerst mit der Sache befasst war, die Frage unverzüglich, in jedem Fall vor der Anklageerhebung, dem Bundesstrafgericht zum Entscheid.
3    Die zum Entscheid über den Gerichtsstand zuständige Behörde kann einen andern als den in den Artikeln 31-37 vorgesehenen Gerichtsstand festlegen, wenn der Schwerpunkt der deliktischen Tätigkeit oder die persönlichen Verhältnisse der beschuldigten Person es erfordern oder andere triftige Gründe vorliegen.
BGE Register
103-V-190 • 107-IB-160 • 107-III-3 • 119-III-1
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