121 I 138
20. Urteil der I. öffentlichrechtlichen Abteilung vom 19. April 1995 i.S. Willi Rohner gegen Kantonsrat und Regierungsrat von Appenzell A.Rh. (staatsrechtliche Beschwerde)
Regeste (de):
- Art. 85 lit. a OG, Gewährleistung der Stimm- und Wahlfreiheit an Landsgemeinden.
- Grundsätze des bundesrechtlich gewährleisteten Stimm- und Wahlrechts (E. 3).
- Eigenheiten des direktdemokratischen Systems der Landsgemeinden (E. 4).
- Anerkennung der kantonalrechtlichen Institution der Landsgemeinde (E. 5b).
- Vorfrageweise Überprüfung der Kantonsverfassung (E. 5c)?
- Die Anordnung einer Landsgemeindeabstimmung verletzt die Abstimmungsfreiheit trotz systembedingter Unzulänglichkeiten nicht (E. 5c).
Regeste (fr):
- Art. 85 let. a OJ, garantie de la liberté de vote et d'élection dans les Landsgemeinde.
- Portée des droits de voter et d'élire garantis par le droit fédéral (consid. 3).
- Particularités du système de démocratie directe des Landsgemeinde (consid. 4).
- Reconnaissance de la Landsgemeinde en tant qu'institution du droit cantonal (consid. 5b).
- Contrôle préjudiciel de la constitution cantonale (consid. 5c)?
- En dépit de certaines insuffisances inhérentes au système, l'institution d'un vote par Landsgemeinde ne viole pas la liberté de vote (consid. 5c).
Regesto (it):
- Art. 85 lett. a OG, garanzia della libertà di voto e di elezione nelle Landsgemeinde.
- Principi del diritto di voto ed elettorale garantiti dal diritto federale (consid. 3).
- Particolarità del sistema di democrazia diretta delle Landsgemeinde (consid. 4).
- Riconoscimento della Landsgemeinde come istituzione del diritto cantonale (consid. 5b).
- Controllo a titolo pregiudiziale della costituzione cantonale (consid. 5c)?
- Nonostante determinate insufficienze inerenti al sistema, l'indire uno scrutinio per Landsgemeinde non viola la libertà di voto (consid. 5c).
Sachverhalt ab Seite 139
BGE 121 I 138 S. 139
Der Kantonsrat von Appenzell A.Rh. beriet am 20. Februar 1995 in zweiter Lesung die Vorlage für eine neue totalrevidierte Kantonsverfassung. Er nahm den bereinigten Entwurf "zuhanden der Landsgemeinde 1995" mit nur wenigen Gegenstimmen an. Am 13. März 1995 genehmigte der Kantonsrat die Geschäftsordnung für die Landsgemeinde vom 30. April 1995 mit einer Gegenstimme; diese sah u.a. die Abstimmung über die neue Kantonsverfassung vor. Willi Rohner wandte sich vorerst an den Regierungsrat des Kantons Appenzell A.Rh. und hat am 22. März 1995 direkt beim Bundesgericht Stimmrechtsbeschwerde im Sinne von Art. 85 lit. a OG erhoben. Er stellt den Antrag, die Beschlüsse des Kantonsrates vom 20. Februar und vom 13. März 1995 seien aufzuheben, soweit mit ihnen die Abstimmung über die neue Kantonsverfassung an der Landsgemeinde 1995 angeordnet werde. Zur Begründung seiner Stimmrechtsbeschwerde macht er im wesentlichen geltend, über ein derart wichtiges Geschäft wie eine neue Kantonsverfassung könne wegen der Unzulänglichkeiten von Landsgemeinden nicht ohne Verletzung der bundesrechtlich garantierten Abstimmungsfreiheit abgestimmt werden. Das Bundesgericht weist die Beschwerde ab.
Erwägungen
Erwägungen:
1. Der Beschwerdeführer verfolgt mit seiner Stimmrechtsbeschwerde das Ziel, dass über die neue Kantonsverfassung, wie sie vom Kantonsrat in zwei Lesungen und nach durchgeführter Volksdiskussion verabschiedet worden ist, nicht an der Landsgemeinde vom 30. April 1995, sondern anlässlich einer Urnenabstimmung Beschluss gefasst wird. Die Beschwerde richtet sich gegen die beiden Beschlüsse des Kantonsrates, mit denen der Verfassungsentwurf zuhanden der Landsgemeinde verabschiedet bzw. die Geschäftsordnung für die Landsgemeinde vom 30. April 1995 beschlossen worden ist. Diese Beschlüsse stellen Vorbereitungshandlungen zur Landsgemeinde dar, welche nach der bundesgerichtlichen Rechtsprechung sofort anzufechten sind (BGE 110 Ia 176 E. 1a S. 178, BGE 118 Ia 271 E. d S. 274, BGE 118 Ia 415 E. 2 S. 417). In bezug auf beide Beschlüsse hat der Beschwerdeführer die Frist nach Art. 89 OG
BGE 121 I 138 S. 140
eingehalten. Ein kantonales Rechtsmittel ist nicht gegeben, so dass auch der Instanzenzug nach Art. 86 Abs. 1 OG ausgeschöpft ist. Der Beschwerdeführer ist unbestrittenermassen im Kanton Appenzell A.Rh. stimmberechtigt und demnach zur Beschwerde im Sinne von Art. 85 lit. a OG legitimiert (BGE 119 Ia 167 S. 169). Schliesslich sind auch die Anträge - Aufhebung der angefochtenen Beschlüsse und damit Absetzung der Abstimmung über die Kantonsverfassung bzw. Aufhebung der Abstimmung, falls das Geschäft wegen Verweigerung der aufschiebenden Wirkung von der Landsgemeinde behandelt würde - zulässig (BGE 113 Ia 46 E. 1c S. 50, BGE 110 Ia 176 S. 180, mit Hinweisen). Demnach kann auf die vorliegende Stimmrechtsbeschwerde eingetreten werden.
2. Die Verfassung des Kantons Appenzell A.Rh. vom 26. April 1908 (KV/AR; SR 131.224.1) ordnet die Landsgemeinde in den Art. 40 ff. Nach Art. 40 besteht die Landsgemeinde aus allen stimmberechtigten Kantonseinwohnern. Als gesetzgebender Behörde steht ihr gemäss Art. 42 Ziff. 1 u.a. der Entscheid über die Revision der Verfassung zu. Anträge an die Landsgemeinde können nach Art. 44 vom Kantonsrat oder von einer bestimmten Anzahl von Stimmbürgern ausgehen. In bezug auf die Revision der Verfassung bestimmt Art. 83, dass die Verfassung jederzeit abgeändert werden kann und dass Verfassungsänderungen auf dem in den Art. 42 und 44 vorgezeichneten Wege erfolgen; wird eine Gesamtrevision begehrt, spricht sich die Landsgemeinde zuerst über die Grundsatzfrage der Totalrevision aus und beauftragt im bejahenden Fall den Kantonsrat oder einen besonders zu wählenden Revisionsrat damit (vgl. zum Ganzen HANSUELI MÖSLE, Verfassungsgebung und einfache Gesetzgebung im Kanton Appenzell Ausserrhoden, Diss. St. Gallen 1986, S. 166 ff. und 169 ff.). Im vorliegenden Fall macht der Beschwerdeführer nicht geltend, mit der Anordnung, dass an der Landsgemeinde vom 30. April 1995 über die vom Kantonsrat ausgearbeitete Totalrevision der Kantonsverfassung abgestimmt werden soll, würden formelle Bestimmungen der noch gültigen Kantonsverfassung oder anderer Erlasse verletzt. Aus den genannten Bestimmungen der Kantonsverfassung ergibt sich klar, dass über Änderungen der Kantonsverfassung die Landsgemeinde Beschluss fasst. Es deutet nichts darauf hin, dass es sich bei einer Totalrevision der Kantonsverfassung anders verhalten sollte. Eine Urnenabstimmung ist für Revisionen der Verfassung nirgends vorgesehen. Es ist daher davon auszugehen, dass die
BGE 121 I 138 S. 141
angefochtene Abstimmungsanordnung mit dem kantonalen Verfassungsrecht im Einklang steht. Der Beschwerdeführer rügt indessen, dass das Abstimmungsprozedere an der Landsgemeinde im Widerspruch zu den Stimmrechtsgarantien stehe, wie sie sich aus der Bundesverfassung und der Rechtsprechung des Bundesgerichts zu Art. 85 lit. a OG ergeben. Die Unzulänglichkeiten der Landsgemeinde erlaubten es nicht, über ein derart wichtiges Geschäft wie eine Verfassungstotalrevision in einer offenen Abstimmung zu befinden. Das geltende Abstimmungsverfahren und die entsprechenden Bestimmungen der Kantonsverfassung seien daher vorfrageweise auf diese Bundesgarantien hin zu überprüfen, und demnach sei für die Beschlussfassung über die neue Kantonsverfassung eine Urnenabstimmung vorzusehen.
3. Das vom Verfassungsrecht des Bundes gewährleistete Stimm- und Wahlrecht räumt dem Bürger nach konstanter Rechtsprechung allgemein den Anspruch darauf ein, dass kein Abstimmungs- oder Wahlergebnis anerkannt wird, das nicht den freien Willen der Stimmbürger zuverlässig und unverfälscht zum Ausdruck bringt (BGE 119 Ia 271 E. 3a S. 272, BGE 118 Ia 259 E. 3 S. 261, BGE 116 Ia 41 E. 5 S. 46, BGE 116 Ia 359 S. 365, BGE 116 Ia 452 E. 3a S. 455, BGE 115 Ia 201 E. 4 S. 206, BGE 113 Ia 46 E. 4a S. 52, mit Hinweisen). Es soll garantiert werden, dass jeder Stimmbürger seinen Entscheid gestützt auf einen möglichst freien und umfassenden Prozess der Meinungsbildung treffen und entsprechend mit seiner Stimme zum Ausdruck bringen kann (vgl. die zitierte Rechtsprechung). Auf diese Grundsätze, welche auch als Wahl- und Abstimmungsfreiheit bezeichnet werden, hat das Bundesgericht eine Reihe von Prinzipien abgestützt (vgl. die Übersicht bei TOMAS POLEDNA/STEPHAN WIDMER, Die Wahl- und Abstimmungsfreiheit - ein verfassungsmässiges Recht des Bundes?, in ZBl 88/1987 S. 282; CHRISTOPH HILLER, Die Stimmrechtsbeschwerde, Zürich 1990, S. 115 ff.). So werden auf die Wahl- und Abstimmungsfreiheit zurückgeführt etwa die Ansprüche auf richtige Zusammensetzung der Aktivbürgerschaft (BGE 116 Ia 359 S. 365, mit Hinweisen), Wahrung der Einheit der Materie (BGE 113 Ia 46 E. 4 S. 52, mit Hinweisen), korrekte Formulierung der Abstimmungsfragen (BGE 106 Ia 20, mit Hinweisen), rechtmässige Durchführung von Wahlen und Abstimmungen (BGE 104 Ia 236, BGE 104 Ia 360 E. 3 S. 363, BGE 98 Ia 602 E. 9 und 10 S. 610, BGE 97 I 659 E. 4 S. 663, BGE 75 I 234) und korrekte und zurückhaltende behördliche sowie private Informationen im Vorfeld von
BGE 121 I 138 S. 142
Wahlen und Abstimmungen (BGE 119 Ia 271, BGE 118 Ia 259 E. 3 S. 261, mit Hinweisen). Die bundesgerichtliche Anerkennung dieser auf (ungeschriebenes) Bundesverfassungsrecht abgestützten Wahl- und Abstimmungsgrundsätze geht im wesentlichen auf die frühere Praxis von Bundesversammlung und Bundesrat aus den Jahren vor 1912 zurück. Bereits damals war davon die Rede, dass Wahlen dem wahren, gesetzmässigen und unverfälschten Volkswillen entsprechen müssten und der Stimmbürger sein Stimmrecht frei und ungehindert sollte ausüben können, damit der wahre Volkswille zum unverfälschten Ausdruck komme (vgl. die Hinweise bei POLEDNA/WIDMER, a.a.O., S. 285 ff.; L. R. VON SALIS, Schweizerisches Bundesrecht, 2. Auflage, Bern 1903, Band III, Nr. 1175 - 11184 und 1210 - 1234; WALTHER BURCKHARDT, Schweizerisches Bundesrecht, Frauenfeld 1930, Band II, Nr. 402-421). Mit dem Organisationsgesetz von 1911 ist die Kompetenz zur Beurteilung von Stimmrechtsbeschwerden dem Bundesgericht übertragen worden (Art. 180 Ziff. 5; AS 28/1912 S. 45). Dieses hat an die frühere Praxis angeknüpft und ausgeführt, ein Wahlsystem müsse die Voraussetzungen "d'égalité, d'ordre et de sûreté" garantieren und die Wahlresultate müssten wahrhaftiger Ausdruck der Mehrheit der Stimmberechtigten sein (BGE 38 I 466 S. 477 und 40 I 354 S. 364, mit Verweisen auf die Literatur). Formulierungen der Wahl- und Abstimmungsfreiheit, die den heute verwendeten entsprechen, finden sich in der Rechtsprechung des Bundesgerichts seit dem Jahre 1949 (vgl. BGE 75 I 234 S. 240, BGE 75 I 244 S. 245 sowie POLEDNA/WIDMER, a.a.O., S. 281). Das Bundesgericht hat diese Stimm- und Wahlrechtsgarantien auch auf Verfahren vor der Landsgemeinde angewendet und sich in zwei Entscheiden zu den zu beachtenden Verfahren geäussert (BGE 100 Ia 362, BGE 104 Ia 428 E. 3 S. 431). Wird im kantonalen Recht vorgesehen, dass das Abstimmungsergebnis an der Landsgemeinde lediglich durch Schätzung bestimmt wird, so ist die das Mehr feststellende Behörde zu grosser Sorgfalt verpflichtet; die kantonalen Vorschriften zur Ermittlung des Abstimmungsergebnisses sind im Lichte des bundesrechtlichen Grundsatzes auszulegen und anzuwenden, damit kein Ergebnis zustande kommt, das nicht den freien Willen der Stimmbürger zuverlässig und unverfälscht zum Ausdruck bringt. Unter diesen Gesichtspunkten beurteilte das Bundesgericht Beschwerden in bezug auf die Ermittlung des Stimmenverhältnisses durch Handmehr und Abschätzung (BGE 100 Ia 362) und betreffend die unmittelbare Wiederholung einer
BGE 121 I 138 S. 143
Landsgemeinde-Abstimmung (BGE 104 Ia 428).
4. a) Die Einrichtung der Landsgemeinden entspricht einer besondern herkömmlichen Form der direktdemokratischen Beteiligung der Stimmbürger. Mit ihren offen durchgeführten Wahlen und Abstimmungen weist die Landsgemeinde Eigenheiten auf, die in der Literatur sowie anlässlich von Partial- oder Totalrevisionen der Kantonsverfassungen von Landsgemeindekantonen einlässlich diskutiert wurden. Im Sinne einer kurzen Übersicht kann auf die folgenden Punkte hingewiesen werden. Im Vordergrund stehen die Bedenken in bezug auf das Wahlgeheimnis und (in vermindertem Ausmass) hinsichtlich des Abstimmungsgeheimnisses. Die offene Abstimmung kann unter psychologischen und sozialen Gesichtspunkten Beeinflussungen des Stimmbürgers bewirken, nämlich durch einen gewissen Konformitätsdruck, durch eigentliche unzulässige Druckausübung in allen möglichen Formen und Abstufungen oder durch Falschinformationen (vgl. RAINER J. SCHWEIZER, Kommentar zum Entwurf für eine Verfassung des Kantons Glarus, Glarus 1981, S. 179; WERNER STAUFFACHER, Die Versammlungsdemokratie im Kanton Glarus, Diss. Zürich 1962, S. 24 f.; MARTIN USTERI, Ausübung des Stimm- und Wahlrechtes nach freiheitsstaatlichen Prinzipien, in: ZSR 78/1959 II S. 424a f.). Einem Teil der Stimmbürgerschaft mag es aus unverschuldeten und nicht beeinflussbaren Gründen nicht möglich sein, an der Landsgemeinde tatsächlich teilzunehmen und das Stimmrecht auszuüben; dies trifft auf betagte und kranke Personen ebenso zu wie auf Angestellte etwa aus dem öffentlichen Dienst oder dem Gastwirtschaftsgewerbe, für welche auch keine Möglichkeit einer Stimmabgabe auf dem Korrespondenzweg oder zu einem andern Zeitpunkt besteht (vgl. SCHWEIZER, a.a.O., S. 177). Ferner wird angenommen, dass die Beteiligung an der Landsgemeinde aus unterschiedlichen Gründen wesentlich geringer ist als die Stimmbeteiligung bei Urnenabstimmungen und -wahlen und demnach die demokratische Legitimation der Landsgemeindebeschlüsse kleiner ist (vgl. SCHWEIZER, a.a.O., S. 178; STAUFFACHER, a.a.O., S. 350). Schliesslich ist die Kritik von erheblichem Gewicht, dass das Abstimmungs- oder gar das Wahlresultat nicht leicht und nur mit geringer Genauigkeit festgestellt werden kann (vgl. SCHWEIZER, a.a.O., S. 180; STAUFFACHER, a.a.O., S. 311 ff.).
Diesen Bedenken werden auch Vorteile der Landsgemeinde gegenübergestellt. Ein Vorteil wird in der Bürgernähe erblickt; der Stimmbürger steht in direktem Kontakt mit den Behörden, erhält in der (mehr oder weniger
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zugelassenen) Diskussion Informationen aus erster Hand und kann somit den Entscheidungsvorgang unmittelbar selbst miterleben. Die Landsgemeinde kann (je nach der Ausgestaltung des Verfahrens) auf bestimmte Voten, Vorbringen und Vorschläge unmittelbar reagieren und gegenüber den vorberatenen Vorlagen Änderungen beschliessen. Gewissen Gefahren der offenen Abstimmung kann mit Vorkehren betreffend die Verfahrensausgestaltung begegnet werden (vgl. zum Ganzen STAUFFACHER, a.a.O., S. 26 ff.). Die Vor- und Nachteile der Landsgemeinde gegenüber einem (reinen) System der Urnenwahl und -abstimmung sind im Zusammenhang mit dem rechtlichen, politischen und sozialen Umfeld zu betrachten und lassen sich nicht leicht gegeneinander abwägen (vgl. STAUFFACHER, a.a.O., S. 29). Es wird darauf hingewiesen, dass das System der Landsgemeinde hohe Anforderungen an alle Beteiligten stellt und neben weitern Faktoren vor dem Hintergrund des tatsächlich Gelebten verstanden werden muss (SILVANO MÖCKLI, Die schweizerischen Landsgemeinde-Demokratien, Bern 1987, S. 56 f.). All diese Überlegungen treffen in gleicher Weise auch auf die Versammlungsdemokratie auf kommunaler Stufe, insbesondere auf Gemeindeversammlungen zu. b) Der Beschwerdeführer nimmt in seiner Stimmrechtsbeschwerde Bezug auf die eben dargelegten Bedenken allgemeiner Art gegenüber Landsgemeindeabstimmungen. Im einzelnen bringt er vor, es fehle bei einer Landsgemeinde bereits an der richtigen Zusammensetzung der Aktivbürgerschaft, weil viele Personen wegen körperlicher Behinderungen (Alter, Krankheit, Gebrechen), aus beruflichen Gründen, wegen der allgemeinen Schulferien oder aus Witterungsgründen nicht teilnähmen bzw. wegen des Fehlens der vorzeitigen oder schriftlichen Stimmabgabe nicht teilnehmen könnten. Die Stimmbeteiligung belaufe sich auf lediglich rund 25%, während bei (eidgenössischen) Urnenabstimmungen rund 50% der Stimmberechtigten ihre Stimme abgäben. Weiter rügt er die Ungenauigkeiten bei der Ermittlung der Stimmenverhältnisse. Und schliesslich macht er darauf aufmerksam, dass beim heutigen Verfahrensablauf der Einfluss unberechtigter Teilnehmer nicht ausgeschlossen werden könne. Diese Rügen werden im vorliegenden Verfahren gewissermassen abstrakt und ohne Bezug zu konkreten Unregelmässigkeiten, welche sich auf die Abstimmung auswirken könnten, erhoben. Nach der Auffassung des Beschwerdeführers erlauben es die geltend gemachten Unzulänglichkeiten nicht, an der Landsgemeinde über eine neue Kantonsverfassung zu entscheiden; erforderlich
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sei vielmehr eine Urnenabstimmung. Die vorliegende Beschwerde steht einzig im Zusammenhang mit der Abstimmung über die totalrevidierte Kantonsverfassung. Demgegenüber beanstandet der Beschwerdeführer nicht, dass andere Geschäfte (Staatsrechnung, Wahlen, Gesetzesvorlagen) von der Landsgemeinde behandelt und entschieden werden. Nach der Meinung des Beschwerdeführers ergibt sich zwischen der Totalrevision der Verfassung und den andern Wahl- und Sachgeschäften ein erheblicher Unterschied.
5. a) Der Beschwerdeführer beschränkt seine Stimmrechtsbeschwerde, wie dargelegt, auf die Sachabstimmung über eine neue Kantonsverfassung. Ihre Tragweite geht indessen weit über das konkrete Geschäft hinaus und betrifft die Landsgemeinde als solche. Denn aus der Sicht des Verfassungsgerichts, welches über die Wahrung der Stimmfreiheit zu befinden hat, kann nicht zwischen wichtigen und weniger wichtigen Geschäften, zwischen der Vorlage einer neuen Kantonsverfassung und Gesetzen oder Wahlen unterschieden werden; entsprechende Differenzierungen könnten lediglich durch den Verfassungsgeber selber vorgenommen werden (vgl. etwa Art. 68 und 70 ff. der Kantonsverfassung Glarus in bezug auf Wahlen; Art. 61 und 65 der Kantonsverfassung Obwalden in bezug auf Sachgeschäfte). Aus diesem Grunde wird mit der vorliegenden Beschwerde, obwohl sie sich nur auf ein bestimmtes Sachgeschäft bezieht, die Landsgemeinde als Institution in Frage gestellt. b) Die Kantone sind im Rahmen von Art. 6
SR 101 Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft vom 18. April 1999 BV Art. 6 Individuelle und gesellschaftliche Verantwortung - Jede Person nimmt Verantwortung für sich selber wahr und trägt nach ihren Kräften zur Bewältigung der Aufgaben in Staat und Gesellschaft bei. |
SR 101 Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft vom 18. April 1999 BV Art. 6 Individuelle und gesellschaftliche Verantwortung - Jede Person nimmt Verantwortung für sich selber wahr und trägt nach ihren Kräften zur Bewältigung der Aufgaben in Staat und Gesellschaft bei. |
BGE 121 I 138 S. 146
zur Einrichtung der Landsgemeinden bekannt. Mit Beschluss vom 13. Dezember 1991 hat die Bundesversammlung den Internationalen Pakt über die bürgerlichen und politischen Rechte (UNO-Pakt II, SR 0.103.2, AS 1993 747 und 750) ratifiziert; in bezug auf Art. 25 lit. b
IR 0.103.2 Internationaler Pakt vom 16. Dezember 1966 über bürgerliche und politische Rechte UNO-Pakt-II Art. 25 - Jeder Staatsbürger hat das Recht und die Möglichkeit, ohne Unterschied nach den in Artikel 2 genannten Merkmalen und ohne unangemessene Einschränkungen |
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a | an der Gestaltung der öffentlichen Angelegenheiten unmittelbar oder durch frei gewählte Vertreter teilzunehmen; |
b | bei echten, wiederkehrenden, allgemeinen, gleichen und geheimen Wahlen, bei denen die freie Äusserung des Wählerwillens gewährleistet ist, zu wählen und gewählt zu werden; |
c | unter allgemeinen Gesichtspunkten der Gleichheit zu öffentlichen Ämtern seines Landes Zugang zu haben. |
SR 131.217 Verfassung des Kantons Glarus, vom 1. Mai 1988 KV/GL Art. 68 Wahlbefugnisse - Die Landsgemeinde ist zuständig für: |
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a | die Wahl des Landammanns und des Landesstatthalters; |
b | die Wahl der Gerichtspräsidien, der teilamtlichen Vizepräsidien und der weiteren Richterinnen und Richter; |
c | ... |
SR 131.217 Verfassung des Kantons Glarus, vom 1. Mai 1988 KV/GL Art. 69 Gesetzgebung und Sachbefugnisse - 1 Die Landsgemeinde ist zuständig für die Änderung der Kantonsverfassung. Sie erlässt zudem in der Form des Gesetzes alle grundlegenden und wichtigen Bestimmungen. |
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1 | Die Landsgemeinde ist zuständig für die Änderung der Kantonsverfassung. Sie erlässt zudem in der Form des Gesetzes alle grundlegenden und wichtigen Bestimmungen. |
2 | Sie ist im Weiteren zuständig für: |
a | die Zustimmung zu Konkordaten und andern Verträgen, wenn diese einen Gegenstand der Verfassung oder der Gesetzgebung oder eine Ausgabe nach Buchstabe b betreffen; |
b | Beschlüsse über alle frei bestimmbaren einmaligen Ausgaben für den gleichen Zweck von mehr als 1 Million Franken und über alle frei bestimmbaren wiederkehrenden Ausgaben für den gleichen Zweck von mehr als 200 000 Franken im Jahr; |
c | den freien Erwerb von Grundstücken als Anlage oder zur Vorsorge im Betrag von mehr als 5 000 000 Franken; |
d | weitere durch den Landrat vorgelegte Beschlüsse; |
e | die Festsetzung des Steuerfusses. |
3 | Die Landsgemeinde kann ihre Befugnisse dem Landrat oder dem Regierungsrat übertragen, sofern die Ermächtigung auf ein bestimmtes Gebiet beschränkt und nach Zweck und Umfang näher umschrieben wird. |
SR 131.224.1 Verfassung des Kantons Appenzell A. Rh., vom 30. April 1995 KV/AR Art. 42 d. Behinderte - Kanton und Gemeinden fördern in Zusammenarbeit mit privaten Organisationen die Schulung sowie die berufliche und soziale Eingliederung Behinderter. |
BGE 121 I 138 S. 147
Vereinbarkeit mit übergeordnetem Recht hin zu überprüfen. Es erachtete diese Prüfung als Aufgabe der Bundesversammlung, welche diese im Zusammenhang mit der Gewährleistung kantonaler Verfassungen nach Art. 6 Abs. 2 lit. a
SR 101 Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft vom 18. April 1999 BV Art. 6 Individuelle und gesellschaftliche Verantwortung - Jede Person nimmt Verantwortung für sich selber wahr und trägt nach ihren Kräften zur Bewältigung der Aufgaben in Staat und Gesellschaft bei. |
SR 101 Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft vom 18. April 1999 BV Art. 85 * - 1 Der Bund kann auf dem Schwerverkehr eine leistungs- oder verbrauchsabhängige Abgabe erheben, soweit der Schwerverkehr der Allgemeinheit Kosten verursacht, die nicht durch andere Leistungen oder Abgaben gedeckt sind. |
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1 | Der Bund kann auf dem Schwerverkehr eine leistungs- oder verbrauchsabhängige Abgabe erheben, soweit der Schwerverkehr der Allgemeinheit Kosten verursacht, die nicht durch andere Leistungen oder Abgaben gedeckt sind. |
2 | Der Reinertrag der Abgabe wird zur Deckung von Kosten verwendet, die im Zusammenhang mit dem Landverkehr stehen.47 |
3 | Die Kantone werden am Reinertrag beteiligt. Bei der Bemessung der Anteile sind die besonderen Auswirkungen der Abgabe in Berg- und Randgebieten zu berücksichtigen. |
BGE 121 I 138 S. 148
Wahlrechts vom Bundesgericht erst im Laufe seiner Rechtsprechung herausgebildet worden. Demnach ist eine inzidente Verfassungsüberprüfung trotz des Umstandes, dass sich an der Institution der Landsgemeinde als solche nichts geändert hat, nicht grundsätzlich ausgeschlossen. Eine solche erweist sich indessen, wie sich im folgenden zeigt, nicht als erforderlich. cc) Der Beschwerdeführer beruft sich zu Recht nicht auf den UNO-Pakt II. Diese Konvention räumt in Art. 25 lit. b grundsätzlich einen Anspruch darauf ein, "de voter et d'être élu". Die Bestimmung bezieht sich nach dem Zusammenhang und der deutschen Übersetzung ausschliesslich auf Wahlen (vgl. MANFRED NOVAK, CCPR-Kommentar, Kehl/Strassburg/Arlington 1989, Rz. 15 ff. zu Art. 25
IR 0.103.2 Internationaler Pakt vom 16. Dezember 1966 über bürgerliche und politische Rechte UNO-Pakt-II Art. 25 - Jeder Staatsbürger hat das Recht und die Möglichkeit, ohne Unterschied nach den in Artikel 2 genannten Merkmalen und ohne unangemessene Einschränkungen |
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a | an der Gestaltung der öffentlichen Angelegenheiten unmittelbar oder durch frei gewählte Vertreter teilzunehmen; |
b | bei echten, wiederkehrenden, allgemeinen, gleichen und geheimen Wahlen, bei denen die freie Äusserung des Wählerwillens gewährleistet ist, zu wählen und gewählt zu werden; |
c | unter allgemeinen Gesichtspunkten der Gleichheit zu öffentlichen Ämtern seines Landes Zugang zu haben. |
IR 0.103.2 Internationaler Pakt vom 16. Dezember 1966 über bürgerliche und politische Rechte UNO-Pakt-II Art. 25 - Jeder Staatsbürger hat das Recht und die Möglichkeit, ohne Unterschied nach den in Artikel 2 genannten Merkmalen und ohne unangemessene Einschränkungen |
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a | an der Gestaltung der öffentlichen Angelegenheiten unmittelbar oder durch frei gewählte Vertreter teilzunehmen; |
b | bei echten, wiederkehrenden, allgemeinen, gleichen und geheimen Wahlen, bei denen die freie Äusserung des Wählerwillens gewährleistet ist, zu wählen und gewählt zu werden; |
c | unter allgemeinen Gesichtspunkten der Gleichheit zu öffentlichen Ämtern seines Landes Zugang zu haben. |
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Wahlergebnissen, die den freien Willen der Stimmbürger nicht zuverlässig wiedergeben würden. Jeder oder fast jeder Stimmbürger hat die Möglichkeit, an der Landsgemeinde tatsächlich teilzunehmen; dies gilt für Befürworter einer Vorlage in gleichem Ausmass wie für Gegner. Es kann abstrakt auch nicht gesagt werden, dass eine freie Willensäusserung trotz denkbarer Beeinflussungen zum vornherein nicht möglich sein sollte; denn es kann nicht bestimmt werden, in welcher Weise, ob zugunsten oder zuungunsten einer bestimmten Vorlage sich solche auswirken würden. Auch der Umfang der Stimmbeteiligung hat nicht klar Einfluss in der einen oder andern Richtung; der Beschwerdeführer tut auf jeden Fall nicht dar, dass eine hohe oder niedrige Stimmbeteiligung die Abstimmung über eine neue Kantonsverfassung bevorzugen oder benachteiligen würde. Gleich verhält es sich mit den Schwierigkeiten der Feststellung des Ergebnisses, welche nur in einem Einzelfall, nicht aber abstrakt Anlass zu Verfälschungen geben könnten. All diese Rügen und Bedenken sind aus der Sicht der Versammlungsdemokratie gewissermassen systembedingt. Sie haben sich gegenseitig überschneidende und kompensierende Auswirkungen und sind demgemäss in bezug auf die Ergebnisse von Wahlen und Abstimmungen neutral. Es kann nicht abstrakt gesagt werden, dass im Verhältnis zum tatsächlichen Resultat an einer Landsgemeindeabstimmung wesentlich mehr Befürworter als Gegner einer Vorlage krankheits- oder arbeitsbedingt oder aus beliebig andern Gründen der Landsgemeinde fernbleiben und dadurch das Ergebnis klar in der einen oder andern Richtung beeinflusst würde. Das Abschätzen des Resultats, welches, wie das Bundesgericht unterstrichen hat, von den Behörden grosse Sorgfalt verlangt (BGE 100 Ia 362 S. 363), mag im Einzelfall zu Diskussionen Anlass geben. Die Schwierigkeiten vermögen indessen das System nicht grundsätzlich und vollkommen unabhängig von einer konkreten Abstimmung in Frage zu stellen. Die konkreten Unzulänglichkeiten des Abstimmungssystems an Landsgemeinden führen daher abstrakt gesehen nicht zu Wahl- und Abstimmungsergebnissen, welche den freien Willen der Stimmbürger nicht zuverlässig und unverfälscht zum Ausdruck brächten. Aus diesen Gründen dringt der Beschwerdeführer mit seiner Stimmrechtsbeschwerde nicht durch.