Bundesstrafgericht

Tribunal pénal fédéral Tribunale penale federale Tribunal penal federal

Geschäftsnummer: BG.2009.30

Entscheid vom 26. Oktober 2009 I. Beschwerdekammer

Besetzung

Bundesstrafrichter Emanuel Hochstrasser, Vorsitz, Tito Ponti und Alex Staub , Gerichtsschreiber Stefan Graf

Parteien

Kanton Luzern, Staatsanwaltschaft des Kantons Luzern,

Gesuchsteller

gegen

CANTONE TICINO, Ministero pubblico,

Gesuchsgegner

Gegenstand

Örtlicher Gerichtsstand (Art. 279 Abs. 1 BStP i.V.m. Art. 345 StGB)

Sachverhalt:

A. Das Amtsstatthalteramt Luzern führt ein Sammelverfahren gegen A. und bis dato nicht identifizierte verschiedene Mittäter wegen des Verdachts des gewerbs- und bandenmässig begangenen Diebstahls, des Hausfriedensbruchs und der Sachbeschädigung sowie gegen A. zusätzlich wegen des Verdachts der Widerhandlungen gegen das Bundesgesetz vom 16. Dezember 2005 über die Ausländerinnen und Ausländer (AuG; SR 142.20), der Fälschung von Ausweisen und der Widerhandlungen gegen das Strassenverkehrsgesetz vom 19. Dezember 1958 (SVG; SR 741.01). Zusammenfassend wird A. zur Hauptsache vorgeworfen, in der Zeit vom 27. Dezember 2007 bis 8. April 2009 an verschiedenen Orten in den Kantonen Tessin, Zürich, Luzern und Thurgau an insgesamt 21 Einbruchdiebstählen beteiligt gewesen zu sein (vgl. Schlussbericht der Kantonspolizei Luzern vom 7. September 2009, Untersuchungs-Akten I, Faszikel 4). Der erste zur Anzeige gebrachte Einbruchdiebstahl wurde im Kanton Tessin verübt (Untersuchungs-Akten II, Faszikel 29).

B. Mit Schreiben vom 10. bzw. 17. September 2009 lehnten sowohl die Staatsanwaltschaft Winterthur als auch die Oberstaatsanwaltschaft des Kantons Zürich die Ersuchen des Amtsstatthalteramtes Luzern um Übernahme des gegen A. geführten Strafverfahrens ab. Das Amtsstatthalteramt Luzern versuchte darauf am 21. September 2009, die Strafsache an die Strafverfolgungsbehörden des Kantons Tessin abzutreten. Das Ministero pubblico des Kantons Tessin (nachfolgend „Ministero pubblico“) lehnte das entsprechende Ersuchen am 28. September 2009 ab. Am selben Tag verneinte auch das ebenfalls angegangene Bezirksamt Münchwilen die Zuständigkeit der Strafverfolgungsbehörden des Kantons Thurgau (vgl. zum Ganzen Untersuchungs-Akten I, Faszikel Gerichtsstandsakten).

C. Mit Gesuch vom 8. Oktober 2009 gelangte die Staatsanwaltschaft des Kantons Luzern an die I. Beschwerdekammer des Bundesstrafgerichts und beantragte, die Behörden des Kantons Tessin seien als berechtigt und verpflichtet zu erklären, das zur Zeit im Rahmen des vom Kanton Luzern gegen A. und bis dato nicht identifizierte Mittäterschaft geführten Sammelverfahrens hängige Strafverfahren zu übernehmen (act. 1).

Das Ministero pubblico schloss in seiner Gesuchsantwort vom 19. Oktober 2009 auf Abweisung des Gesuchs und beantragte die Bezeichnung der Strafverfolgungsbehörden des Kantons Luzern als zur Verfolgung und Beurteilung der A. zur Last gelegten Straftaten zuständige Behörden (act. 3).

Die Gesuchsantwort des Ministero pubblico wurde der Staatsanwaltschaft des Kantons Luzern am 20. Oktober 2009 zur Kenntnis gebracht (act. 4).

Auf die Ausführungen der Parteien und die eingereichten Akten wird, soweit erforderlich, in den folgenden rechtlichen Erwägungen Bezug genommen.

Die I. Beschwerdekammer zieht in Erwägung:

1.

1.1 Die Zuständigkeit der I. Beschwerdekammer des Bundesstrafgerichts zum Entscheid über Gerichtsstandsstreitigkeiten ergibt sich aus Art. 345 StGB i.V.m. Art. 279 Abs. 1 BStP, Art. 28 Abs. 1 lit. g SGG und Art. 9 Abs. 2 des Reglements vom 20. Juni 2006 für das Bundesstrafgericht (SR 173.710). Voraussetzung für die Anrufung der I. Beschwerdekammer ist allerdings, dass ein Streit über einen interkantonalen Gerichtsstand vorliegt und dass die Kantone über diesen Streit einen Meinungsaustausch durchgeführt haben (Schweri/Bänziger, Interkantonale Gerichtsstandsbestimmung in Strafsachen, 2. Aufl., Bern 2004, N. 599). Die Behörden, welche berechtigt sind, ihren Kanton im Meinungsaustausch und im Verfahren vor der I. Beschwerdekammer zu vertreten, bestimmen sich nach dem jeweiligen kantonalen Recht (Schweri/Bänziger, a.a.O., N. 564; Guidon/Bänziger, Die aktuelle Rechtsprechung des Bundesstrafgerichts zum interkantonalen Gerichtsstand in Strafsachen, in: Jusletter 21. Mai 2007, [Rz 12] in fine). Eine Frist für die Anrufung der I. Beschwerdekammer besteht für die Kantone nicht (Schweri/Bänziger, a.a.O., N. 623).

1.2 Die Staatsanwaltschaft des Kantons Luzern ist berechtigt, den Gesuchsteller bei interkantonalen Gerichtsstandskonflikten vor der I. Beschwerde-kammer zu vertreten (§ 24 Abs. 3 des Gesetzes über die Strafprozessordnung des Kantons Luzern vom 3. Juni 1957 [StPO/LU; SRL 305]). Bezüglich des Gesuchsgegners steht diese Befugnis praxisgemäss dem Ministero pubblico des Kantons Tessin zu (Schweri/Bänziger, a.a.O., Anhang II – der dort enthaltene Hinweis auf die entsprechende gesetzliche Grundlage ist mittlerweile jedoch veraltet; vgl. zuletzt Entscheid des Bundesstrafgerichts BG.2009.23 vom 13. Oktober 2009, E. 1.2). Der Gesuchsteller hat mit dem Gesuchsgegner vor Einreichung des Gesuchs einen Meinungsaustausch durchgeführt. Auch die übrigen Eintretensvoraussetzungen geben vorliegend zu keinen weiteren Bemerkungen Anlass, so dass auf das Gesuch einzutreten ist.

2.

2.1 Zwischen den Parteien unumstritten ist die Frage nach dem gesetzlichen Gerichtsstand. Dieser liegt auf Grund des Art. 344 Abs. 1 Satz 2 StGB im Kanton Tessin (sog. forum praeventionis). An dieser Stelle erübrigen sich unnötige Weiterungen hierzu. Der Gesuchsgegner hält jedoch dafür, dass im vorliegenden Fall aus verschiedenen Gründen vom gesetzlichen Gerichtsstand abzuweichen sei.

2.2 Wo es zweckmässig erscheint, kann die I. Beschwerdekammer von den gesetzlichen Gerichtsstandsregeln abweichen und gemäss Art. 263 Abs. 3 BStP den Gerichtsstand beim Zusammentreffen mehrerer strafbarer Handlungen anders als in Art. 344 StGB bestimmen. Von dieser Möglichkeit ist jedoch zurückhaltend Gebrauch zu machen. Die Überlegungen, die den gesetzlichen Gerichtsstand als unzweckmässig erscheinen lassen, müssen sich gebieterisch aufdrängen. Nach der Praxis darf vom gesetzlichen Gerichtsstand also nur ausnahmsweise abgewichen werden, wenn triftige Gründe – insbesondere solche der Zweckmässigkeit, Wirtschaftlichkeit und Prozessökonomie – es gebieten und ein örtlicher Anknüpfungspunkt in demjenigen Kanton besteht, der die Strafverfolgung übernehmen soll (BGE 129 IV 202 E. 2; 123 IV 23 E. 2a; 121 IV 224 E. 3a; TPF 2007 118 E. 3; Schweri/Bänziger, a.a.O., N. 428, 435; Guidon/Bänziger, a.a.O., [Rz 45]; Hauser/Schweri/Hartmann, Schweizerisches Strafprozessrecht, 6. Aufl., Basel 2005, S. 132 f. N. 45; Nay/Thommen, in Niggli/Wiprächtiger [Hrsg.], Basler Kommentar Strafrecht II, 2. Aufl., Basel 2007, Vor Art. 340 StGB N. 18 f.).

Ein triftiger Grund für das Abweichen vom gesetzlichen Gerichtsstand besteht zum Beispiel dann, wenn in einem Kanton ein offensichtliches Schwergewicht der deliktischen Tätigkeit liegt. Dazu genügt es allerdings nicht, dass in einem Kanton einige Delikte mehr verübt wurden und / oder die Deliktssumme etwas höher ist als in dem nach Art. 344 StGB zuständigen Kanton, sondern das Übergewicht muss so offensichtlich und bedeutsam sein, dass sich das Abweichen vom gesetzlichen Gerichtsstand geradezu aufdrängt. Wenn mehr als zwei Drittel einer grösseren Anzahl von vergleichbaren Straftaten auf einen einzelnen Kanton entfallen, kann in der Regel davon ausgegangen werden, dass in diesem Kanton ein Schwergewicht besteht, welches ein Abweichen vom gesetzlichen Gerichtsstand rechtfertigt. Die genannten Regeln gelten indessen nicht absolut, sondern müssen einer Überprüfung vor allem nach prozessökonomischen Gesichtspunkten standhalten. Insbesondere sollen grobe Verfahrensverzögerungen und deshalb nach Möglichkeit ein unnötiger prozessualer Aufwand verhindert werden (Schweri/Bänziger, a.a.O., N. 458, 460; Nay/Thommen, a.a.O., Vor Art. 340 StGB N. 18; vgl. zum Ganzen auch zuletzt die Entscheide des Bundesstrafgerichts BG.2009.3 vom 1. April 2009, E. 3.1, BG.2008.25 vom 9. Januar 2009, E. 3.2; jeweils m.w.H.).

2.3 Ein Schwergewicht deliktischer Tätigkeit im Sinne der angeführten Rechtsprechung und Doktrin im Kanton Luzern liegt im vorliegenden Fall keines vor. So wurden dort zwölf der 21 insgesamt Gegenstand des Strafverfahrens bildenden Einbruchdiebstähle verübt, deren fünf im Kanton Thurgau, sowie je zwei in den Kantonen Zürich und Tessin. Somit wurden im Kanton Luzern keine zwei Drittel der für die Bestimmung des Gerichtsstandes massgeblichen Einbruchdiebstähle verübt. Zudem drängt sich ein Abweichen vom gesetzlichen Gerichtsstand bei einer bloss mittleren Anzahl von Delikten ohnehin nicht auf (vgl. hierzu bereits die Entscheide des Bundesstrafgerichts BG.2009.23 vom 13. Oktober 2009, E. 2.4; BG.2005.9 vom 4. Juli 2005, E. 3.2; BK_G 038/04 vom 13. Juli 2004, E. 5; Guidon/Bänziger, a.a.O., [Rz 46 f.]). Von einer vom Gesuchsgegner suggerierten konkludenten Anerkennung des Gerichtsstandes durch den Gesuchsteller kann vorliegend ebenfalls keine Rede sein. Aus der blossen Bereitschaft des Gesuchstellers, im Zusammenhang mit der Gerichtsstandsbestimmung ein Sammelverfahren durchzuführen, kann nicht auf dessen Anerkennung des Gerichtsstandes geschlossen werden (TPF 2008 183 E. 3.4; Entscheide des Bundesstrafgerichts BG.2009.21 vom 7. September 2009, E. 3.4; BG.2006.9 vom 22. Mai 2006, E. 5.3). Ebenso wenig stellt das Argument, wonach sich im Kanton Tessin eine Behörde neu mit dem Fall zu befassen habe, einen triftigen Grund für ein Abweichen vom gesetzlichen Gerichtsstand dar. Auch im Kanton Luzern hätte sich nach dem nun erfolgten Abschluss des polizeilichen Ermittlungsverfahrens eine andere Behörde neu in den Fall einzuarbeiten. Nachdem die Angaben der Geschädigten zu ihren Feststellungen, zum Deliktsgut und ihrer Prozesstellung vorliegen, ist auch nicht zu erwarten, dass sich aus der weiteren Beteiligung von überwiegend deutschsprachigen Geschädigten am Strafverfahren im Kanton Tessin ein unverhältnismässiger Aufwand ergeben wird. Allfällige diesbezügliche Nachteile sind durch die italienische Muttersprache des Beschuldigten wohl mehr als kompensiert.

3. Nach dem Gesagten drängt sich kein Abweichen vom gesetzlichen Gerichtsstand auf. Das Gesuch ist somit gutzuheissen und es sind die Strafverfolgungsbehörden des Kantons Tessin für berechtigt und verpflichtet zu erklären, die A. zur Last gelegten Straftaten zu verfolgen und zu beurteilen.

4. Es werden keine Gerichtskosten erhoben (Art. 245 Abs. 1 BStP i.V.m. Art. 66 Abs. 4
SR 173.110 Loi du 17 juin 2005 sur le Tribunal fédéral (LTF) - Organisation judiciaire
LTF Art. 66 Recouvrement des frais judiciaires - 1 En règle générale, les frais judiciaires sont mis à la charge de la partie qui succombe. Si les circonstances le justifient, le Tribunal fédéral peut les répartir autrement ou renoncer à les mettre à la charge des parties.
1    En règle générale, les frais judiciaires sont mis à la charge de la partie qui succombe. Si les circonstances le justifient, le Tribunal fédéral peut les répartir autrement ou renoncer à les mettre à la charge des parties.
2    Si une affaire est liquidée par un désistement ou une transaction, les frais judiciaires peuvent être réduits ou remis.
3    Les frais causés inutilement sont supportés par celui qui les a engendrés.
4    En règle générale, la Confédération, les cantons, les communes et les organisations chargées de tâches de droit public ne peuvent se voir imposer de frais judiciaires s'ils s'adressent au Tribunal fédéral dans l'exercice de leurs attributions officielles sans que leur intérêt patrimonial soit en cause ou si leurs décisions font l'objet d'un recours.
5    Sauf disposition contraire, les frais judiciaires mis conjointement à la charge de plusieurs personnes sont supportés par elles à parts égales et solidairement.
BGG).

Demnach erkennt die I. Beschwerdekammer:

1. Die Strafverfolgungsbehörden des Kantons Tessin sind berechtigt und verpflichtet, die A. zur Last gelegten Straftaten zu verfolgen und zu beurteilen.

2. Es werden keine Gerichtskosten erhoben.

Bellinzona, 26. Oktober 2009

Im Namen der I. Beschwerdekammer des Bundesstrafgerichts

Der Präsident: Der Gerichtsschreiber:

Zustellung an

- Staatsanwaltschaft des Kantons Luzern

- Ministero pubblico (mitsamt Akten)

Rechtsmittelbelehrung

Gegen diesen Entscheid ist kein ordentliches Rechtsmittel gegeben.

Information de décision   •   DEFRITEN
Document : BG.2009.30
Date : 26 octobre 2009
Publié : 30 novembre 2009
Source : Tribunal pénal fédéral
Statut : Non publié
Domaine : Cour des plaintes: procédure pénale
Objet : Örtlicher Gerichtsstand (Art. 279 Abs. 1 BStP i.V.m. Art. 345 StGB).


Répertoire des lois
CP: 340  344  345
LTF: 66
SR 173.110 Loi du 17 juin 2005 sur le Tribunal fédéral (LTF) - Organisation judiciaire
LTF Art. 66 Recouvrement des frais judiciaires - 1 En règle générale, les frais judiciaires sont mis à la charge de la partie qui succombe. Si les circonstances le justifient, le Tribunal fédéral peut les répartir autrement ou renoncer à les mettre à la charge des parties.
1    En règle générale, les frais judiciaires sont mis à la charge de la partie qui succombe. Si les circonstances le justifient, le Tribunal fédéral peut les répartir autrement ou renoncer à les mettre à la charge des parties.
2    Si une affaire est liquidée par un désistement ou une transaction, les frais judiciaires peuvent être réduits ou remis.
3    Les frais causés inutilement sont supportés par celui qui les a engendrés.
4    En règle générale, la Confédération, les cantons, les communes et les organisations chargées de tâches de droit public ne peuvent se voir imposer de frais judiciaires s'ils s'adressent au Tribunal fédéral dans l'exercice de leurs attributions officielles sans que leur intérêt patrimonial soit en cause ou si leurs décisions font l'objet d'un recours.
5    Sauf disposition contraire, les frais judiciaires mis conjointement à la charge de plusieurs personnes sont supportés par elles à parts égales et solidairement.
LTPF: 28
PPF: 245  263  279
Répertoire ATF
121-IV-224 • 123-IV-23 • 129-IV-202
Répertoire de mots-clés
Trié par fréquence ou alphabet
cour des plaintes • tribunal pénal fédéral • requérant • affaire pénale • échange de vues • thurgovie • infraction • loi fédérale sur la circulation routière • frais judiciaires • greffier • soupçon • procédure pénale • loi fédérale sur les étrangers • lucerne • code de procédure pénale suisse • frais • pratique judiciaire et administrative • condition de recevabilité • étiquetage • enquête pénale
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