BGE 65 I 266
45. Urteil vom 10. November 1939 i. S. Andris gegen Schaffhausen.
Regeste:
Die Befugnis zur selbständigen Erhebung der staatsrechtlichen Beschwerde steht
in der Regel nur handlungsfähigen Personen zu. Eine Ausnahme besteht für
urteilsfähige entmündigte Personen, die sich gegen die Einschliessung in einer
Anstalt wehren (OG Art. 175 Ziff. 3 Art. 178; ZGB Art. 19 Abs. 2.
Seules les personnes capables ont, en principe, qualité pour former de leur
propre chef un recours de droit publie. Il y a une exception pour les
interdits capables de discernement qui recourent contre leur internement. Art.
1 75 eh. 3 OJ; art. 19 al. 2 CC.
Soltanto le persone capaci di agire civilmente hanno, di regola, qualità per
interporre, in modo indipendente, ricorso di diritto pubblico. Eccezione è
fatta per gli interdetti capaci di discernimento che ricorrono contro il loro
internamento in un istituto. Art. 175 cifra 3 OGF; art. 19 cp. 2 CC.
Der Bevormundete Andris ist durch Verfügung der vormundschaftlichen Behörden
in einer Anstalt versorgt worden und hat hiegegen die staatsrechtliche
Beschwerde wegen Rechtsverweigerung ergriffen.
Das Bundesgericht ist auf die Beschwerde eingetreten
in Erwägung:
Die Befugnis zur selbständigen Beschwerdeführung nach Art. 175 Ziff. 3 , 178 OG
steht, wie das Recht zur selbständigen Vornahme gerichtlicher Handlungen
überhaupt, gemäss Art. 22
SR 273 Bundesgesetz vom 4. Dezember 1947 über den Bundeszivilprozess BZP Art. 22 - Die Klage ist unzulässig, wenn der Anspruch bereits rechtshängig oder rechtskräftig beurteilt ist. |
SR 273 Bundesgesetz vom 4. Dezember 1947 über den Bundeszivilprozess BZP Art. 5 - 1 Ein Instruktionsrichter leitet den Schriftenwechsel und bereitet den Rechtsstreit für die Hauptverhandlung vor. |
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1 | Ein Instruktionsrichter leitet den Schriftenwechsel und bereitet den Rechtsstreit für die Hauptverhandlung vor. |
2 | Er bestimmt die von den Parteien für Gerichtskosten und Entschädigungen zu leistenden Sicherstellungen und Vorschüsse nach den Artikeln 62 und 63 BGG9.10 Er entscheidet über die Gerichtskosten bei Streitbeendigung vor der Hauptverhandlung durch gerichtlichen Vergleich oder Abstand und bestimmt bei Abstand die Höhe der Parteientschädigung. |
3 | Zu Zeugeneinvernahmen, Augenschein und Parteiverhör ist ein zweiter Richter beizuziehen. |
SR 273 Bundesgesetz vom 4. Dezember 1947 über den Bundeszivilprozess BZP Art. 28 - 1 Die Klage wird dem Beklagten unter Ansetzung einer Frist zur Beantwortung zugestellt. |
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1 | Die Klage wird dem Beklagten unter Ansetzung einer Frist zur Beantwortung zugestellt. |
2 | Stellt der Beklagte das Begehren um Sicherstellung der Parteikosten nach Artikel 62 Absatz 2 BGG15, so wird der Lauf der Antwortfrist unterbrochen.16 Wird das Begehren abgewiesen oder die Sicherheit geleistet, so setzt der Richter eine neue Antwortfrist an. |
BZP und allgemeinen Rechtsgrundsätzen in der Regel nur handlungsfähigen
Personen zu (Entscheide des Bundesgerichtes i. S. Suter g. St. Gallen vom 21.
September 1923, i. S. Zimmermann g.
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Baselland vom 11. Dezember 1936). Der Rekurrent ist aber entmündigt und daher
handlungsunfähig. Wenn er auch urteilsfähig ist, so kann er doch im
allgemeinen nur mit Zustimmung oder Genehmigung seines gesetzlichen
Vertreters, des Vormundes, im Sinne der Art. 19, 410 des Zivilgesetzbuches
eine staatsrechtliche Beschwerde erheben. Diese Zustimmung oder Genehmigung
fehlt hier. Sie kann nicht darin liegen, dass der Vormund des Rekurrenten
dessen Beschwerdeschrift dem Bundesgericht eingereicht hat, weil der Vormund
gleichzeitig betont hat, dass der angefochtene Entscheid gerechtfertigt sei
und er in der Sache nur handle, um den Rekurrenten an der Geltendmachung eines
höchst persönlichen Rechtes nicht zu hindern. Freilich kann der Rekurrent,
weil er urteilsfähig ist, selbständig gegen die Handlungen des Vormundes und
die Beschlüsse der Vormundschaftsbehörde nach Art. 420
SR 210 Schweizerisches Zivilgesetzbuch vom 10. Dezember 1907 ZGB Art. 420 - Werden der Ehegatte, die eingetragene Partnerin oder der eingetragene Partner, die Eltern, ein Nachkomme, ein Geschwister, die faktische Lebenspartnerin oder der faktische Lebenspartner der betroffenen Person als Beistand oder Beiständin eingesetzt, so kann die Erwachsenenschutzbehörde sie von der Inventarpflicht, der Pflicht zur periodischen Berichterstattung und Rechnungsablage und der Pflicht, für bestimmte Geschäfte die Zustimmung einzuholen, ganz oder teilweise entbinden, wenn die Umstände es rechtfertigen. |
Aber dabei handelt es sich um eine für das Gebiet des Vormundschaftsrechtes
geltende Sondervorschrift, die auf die staatsrechtliche Beschwerde nicht
anwendbar ist, weil diese nicht Bestandteil eines für das Vormundschaftsrecht
vorgesehenen Verfahrens ist, sondern einen selbständigen neuen, vom kantonalen
nach seinem Gegenstand durchaus verschiedenen Rechtsstreit einleitet. Das
Bundesgericht hat denn auch stets daran festgehalten. dass die Frage der
Prozessfähigkeit und Aktivlegitimation im staatsrechtlichen Rekursverfahren
sich selbständig, nach dem besondern Charakter dieses Rechtsmittels und ohne
Rücksicht auf die Lösung, welche den gleichen Fragen im kantonalen Verfahren
zu geben war, beantworte (Entscheid des Bundesgerichtes i. S. Suter g. Bern
vom 21. September 1923). Vorzubehalten sind immerhin die Fälle des Art. 19
Abs. 2
SR 210 Schweizerisches Zivilgesetzbuch vom 10. Dezember 1907 ZGB Art. 19 - 1 Urteilsfähige handlungsunfähige Personen können nur mit Zustimmung ihres gesetzlichen Vertreters Verpflichtungen eingehen oder Rechte aufgeben.14 |
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1 | Urteilsfähige handlungsunfähige Personen können nur mit Zustimmung ihres gesetzlichen Vertreters Verpflichtungen eingehen oder Rechte aufgeben.14 |
2 | Ohne diese Zustimmung vermögen sie Vorteile zu erlangen, die unentgeltlich sind, sowie geringfügige Angelegenheiten des täglichen Lebens zu besorgen.15 |
3 | Sie werden aus unerlaubten Handlungen schadenersatzpflichtig. |
Zustimmung ihres gesetzlichen Vertreters Rechte auszuüben vermögen, die ihnen
um ihrer Persönlichkeit willen zustehen, können sie diese Rechte auch
selbständig gerichtlich geltend machen, wie
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z. B. durch staatsrechtliche Beschwerde (BGE 51 II S. 478 ff.; EGGER, Komm. z.
ZGB 2. Aufl. Art. 19 N. 5, 8, 9, 11). Darunter fällt zwar nicht scholl die
Weigerung der Vormundschaftsbehörde, dem Mündel einen Wechsel des Wohnsitzes
zu bewilligen, weshalb auch dem Entmündigten die Befugnis abgesprochen worden
ist, selbständig die Niederlassung an einem Orte mit staatsrechtlicher
Beschwerde aus Art. 45
SR 101 Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft vom 18. April 1999 BV Art. 45 Mitwirkung an der Willensbildung des Bundes - 1 Die Kantone wirken nach Massgabe der Bundesverfassung an der Willensbildung des Bundes mit, insbesondere an der Rechtsetzung. |
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1 | Die Kantone wirken nach Massgabe der Bundesverfassung an der Willensbildung des Bundes mit, insbesondere an der Rechtsetzung. |
2 | Der Bund informiert die Kantone rechtzeitig und umfassend über seine Vorhaben; er holt ihre Stellungnahmen ein, wenn ihre Interessen betroffen sind. |
Anspruch auf persönliche Freiheit jedenfalls insoweit gerechnet werden, als er
auf Schutz gegen ungerechtfertigte Einschliessung in einer Anstalt gerichtet
ist; denn diese Einschliessung bildet einen höchst einschneidenden Eingriff in
die höchstpersönliche Rechtssphäre, der in seinen Wirkungen einer
Freiheitsstrafe gleichkommt, selbst wenn er nicht als solche, sondern als
armenpolizeiliche Massnahme oder solche der vormundschaftlichen Fürsorge
verfügt wird. Das Bundesgericht hat denn auch daraus nach anderer Richtung
ebenfalls schon entsprechende Folgerungen gezogen, indem es eine derartige
Anordnung in ständiger Praxis nur nach Anhörung des Betroffenen zugelassen
hat, abweichend von dem allgemeinen Grundsatz, wonach der aus Art. 4
SR 101 Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft vom 18. April 1999 BV Art. 4 Landessprachen - Die Landessprachen sind Deutsch, Französisch, Italienisch und Rätoromanisch. |
folgende Anspruch auf rechtliches Gehör nur im Zivil- und
Strafprozessverfahren, nicht für Verwaltungsverfügungen besteht (BGE 30 I S.
280; 43 I S. 165).