S. 350 / Nr. 62 Motorfahrzeug- und Fahrradverkehr (d)

BGE 64 I 350

62. Urteil des Kassationshofs vom 14. November 1938 i. S. Chicherio gegen
Staatsanwaltschaft Schwyz.

Regeste:
Überholen auf gerader Kantonsstrasse ausserorts zulässig trotz links liegender
Häusergruppe mit ausmündendem Privatsträsschen; Signalpflicht, Abstand vom
linken Strassenrande Geschwindigkeit? (Art. 20, 25, 26, 27 MFG, 46 MFV).

A. - Am 10. Dezember 1936 gegen 11 Uhr vormittags fuhr Chicherio mit seinem
Personenauto auf der Kantonsstrasse von Pfäffikon gegen Lachen. Als er beim
Restaurant «Freihof» in der Breiten-Pfäffikon dem in gleicher Richtung
fahrenden Auto des E. Homberger mit einer Geschwindigkeit von ca. 50 km links
vorzufahren im Begriffe war und sich auf gleicher Höhe mit diesem befand, bog
links aus einem 1,5 m breiten, zwischen Vorgärten verlaufenden, durch
aufgehängte Wäsche teilweise verdeckten Privatweg auf seinem Fahrrad der dort
wohnende Sattlermeister Koster in die Kantonsstrasse ein, wurde vom linken
vorderen Kotflügel des Autos Chicherio erfasst, zur Seite geschleudert und
tödlich verletzt.
B. - In Bestätigung des Urteils des Bezirksgerichts Höfe verurteilte das
Kantonsgericht Schwyz den Chicherio wegen fahrlässiger Tötung zu einer Busse
von Fr. 400.- und wegen Übertretung der Art. 25 Abs. 1, 26 Abs. 4 MFG und 46
Abs. 3 MFV zu einer solchen von Fr. 100.- und verwies die Zivilansprüche der
Hinterbliebenen auf den Zivilweg. In tatsächlicher Beziehung stellt das
Kantonsgericht fest, dass die Kantonsstrasse an jener Stelle 6,90 m breit und
modern ausgebaut ist und vor wie nach

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der Einmündung des Privatsträsschens mehrere hundert Meter schnurgerade
verläuft. Die ausserorts liegende Häusergruppe in der Breiten beeinträchtigt
die Übersichtlichkeit der Strasse in keiner Weise; zur Zeit des Unfalls war
diese von andern Benützern frei. Ein Hupsignal hat Chicherio vor dem Überholen
nicht gegeben. Das Auto Homberger hielt sich ganz am rechten Strassenrande mit
ca. 25-30 km Geschwindigkeit; Chicherio fuhr in «scharfem Tempo», nach der
bezirksgerichtlichen Feststellung mit 50 km, vor, links von sich einen
Fahrbahnstreifen von 1,5 m freilassend.
In rechtlicher Hinsicht führt das Kantonsgericht aus, Chicherio habe
grundsätzlich das Recht gehabt, an jener Stelle dem andern Auto vorzufahren;
er habe es jedoch an der dabei gemäss Art. 26 Abs. 4 MFG und 46 Abs. 3 MFV zu
beobachtenden besonderen Vorsicht und Rücksichtnahme fehlen lassen, indem er
trotz der links liegenden Häusergruppe und der im Vorgarten aufgehängten
Wäsche, von woher er mit dem unvermuteten Auftauchen einer Person habe rechnen
müssen, nicht Signal gegeben, einen zu geringen Abstand vom linken
Strassenrande eingehalten und in übersetztem Tempo überholt habe. Ein
erhebliches Selbstverschulden treffe den Verunfallten insofern, als dieser aus
dem teilweise verdeckten Nebenweg ohne genügende Orientierung nach links und
rechts in die Kantonsstrasse eingefahren sei.
C. - Mit der vorliegenden Nichtigkeitsbeschwerde beantragt Chicherio
Freisprechung von Schuld und Strafe, ev. Rückweisung der Akten an die
Vorinstanz, ev. Vornahme eines Augenscheins durch den Kassationshof, alles
unter Kosten- und Entschädigungsfolge. Das Kantonsgericht trägt auf Abweisung
der Nichtigkeitsbeschwerde an.
Der Kassationshof zieht in Erwägung:
1.- .....
2.- Mit Recht geht die Vorinstanz davon aus, dass die Vorschriften des Art. 27
MFG über das

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Vortrittsrecht hier nicht zur Anwendung kommen, weil es sich bei dem von
Koster benutzten 1,5 m breiten privaten Fussweg nicht um eine Strasse im Sinne
des MFG handelt (BGE 64 I 124), bei dessen Einmündung in die Kantonsstrasse
also nicht um eine Strassengabelung bezw. -Kreuzung im Sinne des Art. 27. Die
Konsequenz davon ist, dass der Beschwerdeführer sich allerdings nicht auf ein
Vortrittsrecht aus Art. 27 (Abs. 2) berufen kann, aber nicht in dem Sinne,
dass er diesen Vortritt dem Seitenweg gegenüber etwa nicht hätte; vielmehr hat
er m e h r als das aus Art. 27 fliessende Vorrecht, nämlich den absoluten
Vortritt vor dem aus dem Privatsträsschen Kommenden, ohne die bei
Strassengabelungen nach Art. 27 auch den Vortrittsberechtigten treffende
Pflicht des Verlangsamens. Die Frage des Vortrittsrechts stellt sich also
überhaupt nicht, und entscheidend ist einzig die, ob der Beschwerdeführer
unter den gegebenen Umständen dem Auto Homberger vorfahren durfte, und wenn
ja, ob er es vorschriftsgemäss getan hat.
Dass er das Recht zum Vorfahren hatte, zieht auch die Vorinstanz mit Recht
nicht in Zweifel. Die als Hauptstrasse gekennzeichnete Kantonsstrasse verläuft
vor und nach der Unfallstelle auf mehrere 100 m ganz gerade, ist modern
ausgebaut, nicht gewölbt und 6,9 m breit; die Unfallstelle befindet sich ca.
500 m ausserhalb der Ortstafel, und die zum Überholen erforderliche Strecke
war frei und vollkommen übersichtlich. Die Einmündung des Privatsträsschens
bildete sowenig eine Strassenkreuzung im Sinne des Art. 26 Abs. 3 (46 Abs. 2
Vo) als in dem des Art. 27.
Die Vorinstanz findet nun aber in der Art, wie der Beschwerdeführer das
Vorfahrmanöver ausführte, Verfehlungen hinsichtlich Signalabgabe, Abstand vom
linken Strassenrande und Geschwindigkeit, und zwar in jedem dieser drei Punkte
mit Rücksicht auf die links befindliche Häusergruppe mit der im Vorgarten
aufgehängten Wäsche, deretwegen er damit habe rechnen müssen, dass von

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dorther unvermutet jemand in die von ihm beanspruchte linke Fahrbahn treten
könnte.
Dieser Auffassung kann nicht beigepflichtet werden. Wie der Kassationshof
wiederholt ausgesprochen hat, verlangen Art. 20 und 25 MFG keineswegs, dass
vor jedem Hause, vor jedem unübersichtlichen Hausplatze, vor jeder Hofausfahrt
oder jedem sonstigen Objekt an der Strasse, aus oder hinter dem hervor jemand
überraschend auf die Strasse treten könnte, gehupt bezw. verlangsamt werde. Es
ist nicht Sache des Fahrzeugführers, sich auf der Strasse anzukündigen,
sondern Sache desjenigen, der an verdeckter Stelle die Strasse betreten will,
sich gehörig umzuschauen (BGE 61 I 432, 438). Damit muss der Fahrer rechnen
können; etwas anderes würde die Negation jedes sinngemässen, flüssigen
Automobilverkehrs bedeuten. Und zwar steht dieses absolute Vortrittsrecht
gegenüber dem von der Seite die Strasse Betretenden nicht, wie die Vorinstanz
annimmt, dem Fahrer nur dann zu, wenn er auf seiner rechten Strassenhälfte
fährt, sondern auch beim Überholen im Gegensatz zum Vortrittsrecht nach Art.
27, auf das sich natürlich derjenige nicht berufen kann, der entgegen dem
ausdrücklichen Verbot in Art. 26 Abs. 3 MFG (= 46 Abs. 2 Vo) an einer
Strassenkreuzung überholt.
Ein Hupsignal war wegen der Häuser und Gärten sowenig geboten als mit
Rücksicht auf das zu überholende Auto. Es ist unnütze Lärmmacherei, das
Vorfahren anzukündigen, wenn das zu überholende Fahrzeug bereits seine rechte
Seite einhält und für das Vorfahren reichlich Platz lässt und nicht besondere
Umstände erkennen lassen, dass mit einer gefährdenden Bewegung desselben
gerechnet werden muss. Hier ist festgestellt, dass Homberger ohnehin schon
dicht am rechten Strassenrande fuhr, da er die Überholungsabsicht des
Beschwerdeführers im Rückspiegel wahrgenommen hatte.
Unbegründet ist auch der Vorwurf, der Beschwerdeführer sei beim Überholen zu
nah an den linken Strassenrand

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gefahren. Es ist möglich, dass er beim Vorfahren den Abstand von Homberger
noch knapper hätte nehmen können. Dazu lag aber gar kein Grund vor, da die
ganze linke Strassenseite völlig frei war. Die in Art. 46 MFV dem Vorfahrenden
auferlegte Vorsicht bezieht sich, wie aus Abs. 1 Satz 2 hervorgeht, in erster
Linie auf das zu überholende Fahrzeug, dessen Sicherheit gerade einen
genügenden Abstand von ihm erfordert. Der links noch freibleibende
Fahrbahnstreifen von 1,5 m hätte selbst für die Sicherheit eines in der
Gegenrichtung auf der Strasse kommenden Fussgängers oder Radfahrers genügt.
Mit dem plötzlichen Einbiegen eines solchen aus dem verdeckten
Privatsträsschen über den freien Streifen von 1,5 m hinweg in die Fahrbahn
brauchte, wie oben ausgeführt, der Beschwerdeführer nicht zu rechnen.
Endlich kann auch die vom Beschwerdeführer beim Überholen entwickelte
Geschwindigkeit von 45-50 km nicht als übersetzt bezeichnet werden. Auf der
fraglichen geraden Ausserortsstrecke war, wenn mit Rücksicht auf die
Häusergruppe nicht jede Geschwindigkeit (BGE 61 I 433 E. 4, 62 II 196), so
doch eine 50 km erheblich übersteigende noch zulässig. Ausserdem erfordert das
Vorfahren immer eine Steigerung der Geschwindigkeit, und es liegt im Interesse
der Verkehrssicherheit, dass das Manöver möglichst rasch beendigt werde, was
eine starke Beschleunigung des Vorfahrenden rechtfertigt die grundsätzlichen
Bedingungen für das Vorfahren natürlich immer vorausgesetzt. Eine
Geschwindigkeit von bloss 30-35 km hätte einerseits das Vorfahrmanöver auf
eine unerwünscht lange Strecke ausgedehnt, anderseits aber die Gefährdung
eines in der Weise Kosters vorschriftswidrig in der Strasse auftauchenden
Radfahrers kaum vermindert, da ein noch rechtzeitiges Anhalten des Autos auch
dann nicht möglich gewesen wäre.
Vielmehr war es, wie auch die Vorinstanz zutreffend ausführt, Sache des
Koster, sich der Ausmündung seines Strässchens in die Kantonsstrasse so
langsam zu nähern,

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dass er diese nach beiden Richtungen überschauen konnte, und wenn ihm dies
wegen irgendwelcher Hindernisse wie der hängenden Wäsche nicht gut im Fahren
möglich war, war ihm zuzumuten, am Strassenrande vom Velo abzusteigen.
3.- .....
Demnach erkennt der Kassationshof:
Die Nichtigkeitsbeschwerde wird gutgeheissen, das angefochtene Urteil
aufgehoben, der Beschwerdeführer bezüglich der Übertretung des MFG
freigesprochen und die Sache zur Freisprechung desselben bezüglich der
fahrlässigen Tötung an die Vorinstanz zurückgewiesen.
Decision information   •   DEFRITEN
Document : 64 I 350
Date : 01. Januar 1937
Published : 14. November 1938
Source : Bundesgericht
Status : 64 I 350
Subject area : BGE - Verwaltungsrecht und internationales öffentliches Recht
Subject : Überholen auf gerader Kantonsstrasse ausserorts zulässig trotz links liegender Häusergruppe mit...


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