BGE 63 II 204
45. Urteil der II. Zivilabteilung vom 13. Mai 1937 i. S. Brenn und Woern gegen
Appenzellerbahn A.-G.
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Regeste:
Tödlicher Sturz einer Drittperson in einem im Bau befindlichen
Werkstattgebäude der Eisenbahn auf dem für das Publikum nicht offenen
Bahnhofareal: Eisenbahnhaftpflichtgesetz anwendbar. Selbstverschulden des
Verunfallten. (Art. 1 und 7 EHG, 58 OR.)
A. - Am 28. November 1932 um 17.30 Uhr verunglückte in dem auf dem
Bahnhofareal in Herisau im Bau befindlichen Werkstattgebäude der
Appenzellerbahn der 22 jährige Johannes Brenn, der hier seinen Freund
Pajarola, Heizungsmonteur bei der am Neubau beschäftigten Firma Nigg,
besuchte. Zu dem Neubau konnte man auf zwei Zugängen gelangen: der nördliche,
über 4 Geleise führende, war in der Regel mit einer 10 m langen Kette
abgesperrt und mit einer wenig auffälligen Warnungstafel «Übergang verboten»
versehen; der andere, südöstliche, führte von der Bahnhofstrasse auf einem
kleinen, nicht öffentlichen Fussweg längs eines steilen Bordes und war
ebenfalls mittelst einer Tafel dem Publikum verboten. Vor dem den Arbeitern
der Firma Nigg als Werkstatt dienenden Raume auf der Seite dieses Fussweges
liegt längs der Fassade ein Lichtschacht von 2,45 m Tiefe, über den eine
damals geländerlose Betonbrücke von 1,20 m Länge und 1,45 m Breite zur
gegenüberliegenden Stützmauer führt. Am genannten Abend erschien Brenn zur
Zeit des Arbeitsschlusses (17.30 Uhr), nach der Auffassung der 1. Instanz und
der Parteien vom Bahnhof her über die Geleise, nach der - für das
Bundesgericht verbindlichen - Annahme des Obergerichts von der Bahnhofstrasse
her über den Fussweg, bei den sich zum Gehen anschickenden
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Arbeitern. Durch die auf die Betonbrücke führende Eisentüre betrat er diese
als erster; ein Arbeiter rief ihm von hinten eine Warnung zu. Er machte eine
Bewegung zur Seite und fiel in den Schacht, wobei er sich einen tödlichen
Schädelbruch zuzog.
B. - Die Mutter und der Bruder des Verunfallten belangten in der Folge die
Appenzellerbahn auf Zahlung von Fr. 40000.- nebst Zins für Schadenersatz. Die
Beklagte verkündete der Baufirma Scheiwiller & Cie in Herisau den Streit, die
als Unternehmerin des Neubaus die allenfalls die Bauherrin treffende
Haftbarkeit übernommen und sich dafür versichert hatte.
C. - Beide kantonalen Instanzen haben die Klage unter Kostenfolge zulasten der
Klägerschaft abgewiesen. Gegen dieses Urteil richtet sich die vorliegende
Berufung der letztern mit dem Antrag auf Gutheissung der Klage unter
Kostenfolge. Die Beklagte und die Litisdenunziatin tragen auf Abweisung der
Berufung an.
Das Bundesgericht zieht in Erwägung:
1.- Das von den Klägern in erster Linie angerufene Eisenbahnhaftpflichtgesetz
von 1905, das in Art. l die Kausalhaftpflicht für Unfälle «beim Bau oder
Betrieb einer Eisenbahn» einführt, findet, gemäss feststehender
Rechtsprechung, auf den vorliegenden Fall Anwendung. Unter «Bau» hat die
Praxis von Anfang an nicht nur die der Eröffnung der Bahnlinie vorausgehenden
Arbeiten verstanden, sondern auch spätere Bauarbeiten wie Reparatur- und
Unterhaltsarbeiten (BGE 8 S. 334, 10 S. 133, 26 II 28 ff.). Der «Bau einer
Eisenbahn» umfasst nicht nur den Bahnkörper und die für diesen nötigen
Kunstbauten, sondern auch Hochbauten (BGE 36 II 575 ff.), insbesondere die
Errichtung von Bahnhofgebäuden und zugehöriger Bauten, also auch eines
Werkstattgebäudes. Es ist nicht erforderlich, dass diese Bauarbeiten die mit
dem Eisenbahnbetrieb verbundenen besonderen Gefahren aufweisen (BGE 35 II 407
ff., 36 II 244 ff. und 582 f.). Endlich findet das
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Eisenbahnhaftpflichtgesetz auch Anwendung auf Drittpersonen im strengen Sinne
des Wortes, d. h. der Eisenbahnunternehmung gänzlich fernstehende (BGE 36 II
582).
2.- Ist somit das Eisenbahnhaftpflichtgesetz in casu anwendbar, so ist - da
höhere Gewalt zum vorneherein nicht in Betracht fällt - zu prüfen, ob der
Unfall nicht durch Verschulden des Verunfallten selbst verursacht worden ist.
Nach Art. 7 kann die Ersatzpflicht ermässigt oder ganz verneint werden, «wenn
der Getötete sich durch wissentliche Übertretung polizeilicher Vorschriften in
Berührung mit der Eisenbahn gebracht hat». Art. 1 des Eisenbahnpolizeigesetzes
(vom 18. Febr. 1878) bestimmt:
«Es ist allen nicht zum Bahndienst gehörigen Personen verboten, ohne Erlaubnis
der Bahnverwaltung oder ohne eine auf privatrechtlichem Titel beruhende
Berechtigung an andern als an den ihrer Bestimmung nach dem Publikum
geöffneten Stellen das Gebiet einer dem Betriebe Übergebenen Eisenbahn oder
ihrer Zugehören zu betreten».
Brenn nun hatte mit der Eisenbahn nichts zu tun und keinerlei gültigen Grund,
sich in den Neubau zu begeben. Dieser liegt vollständig auf Bahnhofareal. Auch
ohne besondere Verbottafel und Absperrung war es für jedermann offensichtlich,
dass die zu demselben führenden Zugänge nicht öffentlich waren. Brenn betrat
somit das weder für die Reisenden noch für das allgemeine Publikum bestimmte
Gebäude ohne ein Recht hiezu. Vor allem aber war es eine grobe Fahrlässigkeit
seinerseits, bei einbrechender Nacht einen ihm nicht näher bekannten Neubau zu
betreten und ihn als erster ohne irgendwelche Vorsichtsmassregeln durch eine
Aussentüre zu verlassen, ohne sich zuvor zu vergewissern, wohin diese führte
und wie der Schacht zu überschreiten war, mit dessen Vorhandensein er rechnen
musste. Der Unfall ist deshalb eingetreten, weil Brenn den Schacht nicht
beachtet, sondern die Türe durchschritten hat, als ob es sich um ein fertiges,
mit der Umgebung normal verbundenes Haus handelte, während jedermann weiss,
dass dies bei Häusern im Bau nicht der Fall ist.
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Wer solche Gefahren ausser Acht lässt, begeht eine schwere Fahrlässigkeit, für
deren Folgen er selber einstehen muss.
Demgegenüber kann nicht gesagt werden, die Eisenbahn treffe ihrerseits ein
Verschulden, indem sie den Zugang zum Neubau nicht wirksamer verboten habe. Es
handelte sich um ein Gebäude, bei dem man auf den ersten Blick sah, dass es
nicht für das Publikum bestimmt war; es waren daher auch keine besonderen
Massnahmen zu treffen, um dieses davon fernzuhalten. Solche Teile von
Bahnanlagen, die von den für das Publikum bestimmten Bahnhofanlagen reinlich
und sichtbar getrennt sind, wie z. B. Lokomotivremise, Stellwerkanlage,
Lagerhaus, Werkstätte, bedürfen nicht noch besonderer Abschlussvorrichtungen
oder Verbottafeln. Wo das Publikum keinen legitimen Grund hat, hinzugehen,
braucht es auch nicht durch besondere Vorkehren davon abgehalten zu werden.
Brenn wusste (denn er sah es), dass er fremden Boden und eine Baustelle
betrat, wo seine Anwesenheit durch nichts gerechtfertigt war. Der
Geleiseübergang, die schwer leserliche Verbottafel und die - vielleicht in
jenem Moment nicht gespannte - Kette fallen ausser Betracht, da nach der
Annahme der Vorinstanz für das Bundesgericht feststeht, dass Brenn nicht
diesen Zugang, sondern denjenigen über den kleinen Fussweg längs des Bordes
benützt hat, der, wie jedermann sehen musste, nicht für das Publikum bestimmt
war.
Die beklagte Eisenbahn kann auch nicht etwa für ein Verschulden der
Bauunternehmung verantwortlich gemacht werden, das darin bestände, dass der
Betonsteg nicht mit einem Geländer versehen war. Es liegt in der Natur der
Sache, dass jedes im Bau befindliche Gebäude in jedem Stadium unfertige Teile
und damit gewisse Gefahren aufweist, welch letztere aber in Wirklichkeit keine
sind, weil sie den Personen, die allein auf dem Bauplatz etwas zu suchen
haben, den Arbeitern, bekannt sind. Übrigens war der Betonsteg von 1,45 m
Breite auf eine Länge von 1,20 m ein durchaus genügendes und normales
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Mittel zur Ermöglichung des Verkehrs über den Schacht, solange die Arbeiter
allein ihn zu benutzen hatten. Für die Sicherheit unbefugterweise
eingedrungener Drittpersonen hatte die Bauunternehmung nicht zu sorgen.
Auf Grund des Eisenbahnhaftpflichtgesetzes besteht somit eine Haftbarkeit der
Beklagten nicht.
3.- Nicht anders verhielte es sich, wenn man das Eisenbahnhaftpflichtgesetz
als unanwendbar betrachten und die Sache auf Grund des Art. 58
SR 220 Parte prima: Disposizioni generali Titolo primo: Delle cause delle obbligazioni Capo primo: Delle obbligazioni derivanti da contratto CO Art. 58 - 1 Il proprietario di un edificio o di un'altra opera è tenuto a risarcire i danni cagionati da vizio di costruzione o da difetto di manutenzione. |
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1 | Il proprietario di un edificio o di un'altra opera è tenuto a risarcire i danni cagionati da vizio di costruzione o da difetto di manutenzione. |
2 | Gli è riservato il regresso verso altre persone, che ne sono responsabili in suo confronto. |
wollte, den die Klägerschaft in zweiter Linie angerufen hat. Wie das
Bundesgericht in zahlreichen Urteilen ausgesprochen hat, bezieht sich Art. 58
SR 220 Parte prima: Disposizioni generali Titolo primo: Delle cause delle obbligazioni Capo primo: Delle obbligazioni derivanti da contratto CO Art. 58 - 1 Il proprietario di un edificio o di un'altra opera è tenuto a risarcire i danni cagionati da vizio di costruzione o da difetto di manutenzione. |
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1 | Il proprietario di un edificio o di un'altra opera è tenuto a risarcire i danni cagionati da vizio di costruzione o da difetto di manutenzione. |
2 | Gli è riservato il regresso verso altre persone, che ne sono responsabili in suo confronto. |
OR grundsätzlich nur auf Schädigungen, die durch den gewöhnlichen Zustand des
Werkes verursacht sind, nicht auf solche, die die Folge einer vorübergehenden,
durch den Errichtungs- bezw. Reparaturzustand bedingten Unfertigkeit oder
Unbenutzbarkeit sind (BGE 46 II 257, 41 II 697). Auch in diesem Zusammenhang
wäre ohne weiteres auf das oben zum Eisenbahnhaftpflichtgesetz gesagte zu
verweisen: Massnahmen zum Schutze des Publikums gegen die dem Neubau
innewohnenden Gefahren waren umso überflüssiger, als dieser Bau sich auf einem
dem Publikum nicht offenstehenden Areal befand.
Demnach erkennt das Bundesgericht:
Die Berufung wird abgewiesen und das Urteil des Obergerichts des Kantons
Appenzell A/Rh. vom 25. Januar 1937 bestätigt.