S. 367 / Nr. 69 Obligationenrecht (d)

BGE 54 II 367

69. Auszug aus dem Urteil der I. Zivilabteilung vom 10. Oktober 1928 i.S.
Rutishauser und Gen. gegen Buser.

Regeste:
1. Einschränkung des Grundsatzes der Nichtgebundenheit des Zivilrichters an
das freisprechende Strafurteil (OR Art. 53 ) durch Art. 81 OG. Begriff der
Aktenwidrigkeit (Erw. 1).
2. Entschädigung für Verlust des Versorgers bei Wiederverheiratung der Witwe
während der Hängigkeit des Prozesses (Erw. 4 a).

Tatbestand (gekürzt).
Der 34-jährige Malermeister Hans Roth starb am 11. April 1927 an den Folgen
der Verletzungen, die er bei einem Zusammenstosse seines Fahrrades mit einem
Motorrad in Olten erlitten hatte. Gegen den Motorradfahrer Buser wurde eine
Strafuntersuchung wegen fahrlässiger Tötung und Übertretung des Konkordates
über den Verkehr mit Motorfahrzeugen durchgeführt. Die Witwe und die Kinder
des Verunglückten machten adhäsionsweise Entschädigungsforderungen geltend.
Während das Amtsgericht Olten-Gösgen Buser schuldig erklärte und zu einer
Busse von 200 Fr. verurteilte, sowie die Zivilklagen in reduzierten Beträgen
schützte, gelangte das solothurnische Obergericht zu der Freisprechung und der
gänzlichen Abweisung der Entschädigungsforderungen. Die Witwe Roths war
inzwischen eine neue Ehe mit Emil Rutishauser, Inhaber eines
Zimmereigeschäftes in Märstetten, eingegangen. Sie erklärte gegen das Urteil
des Obergerichts die Berufung an das Bundesgericht, mit dem Antrag auf
Zusprechung einer Entschädigung von 5000 Fr. Die Berufung wird gutgeheissen.

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Aus den Erwägungen:
1.- Nach Art. 53
SR 220 Erste Abteilung: Allgemeine Bestimmungen Erster Titel: Die Entstehung der Obligationen Erster Abschnitt: Die Entstehung durch Vertrag
OR Art. 53 - 1 Bei der Beurteilung der Schuld oder Nichtschuld, Urteilsfähigkeit oder Urteilsunfähigkeit ist der Richter an die Bestimmungen über strafrechtliche Zurechnungsfähigkeit oder an eine Freisprechung durch das Strafgericht nicht gebunden.
1    Bei der Beurteilung der Schuld oder Nichtschuld, Urteilsfähigkeit oder Urteilsunfähigkeit ist der Richter an die Bestimmungen über strafrechtliche Zurechnungsfähigkeit oder an eine Freisprechung durch das Strafgericht nicht gebunden.
2    Ebenso ist das strafgerichtliche Erkenntnis mit Bezug auf die Beurteilung der Schuld und die Bestimmung des Schadens für den Zivilrichter nicht verbindlich.
OR ist der Zivilrichter, falls in der nämlichen Sache bereits
ein Strafurteil ergangen ist, an die Würdigung des Tatbestandes durch den
Strafrichter nicht gebunden (vgl. BGE 45 II 307 und die dortigen Zitate). Doch
ist für das Bundesgericht als Berufungsinstanz im Adhäsionsprozesse diese
Freiheit insofern beschränkt, als es gemäss Art. 81 Abs. 1
SR 220 Erste Abteilung: Allgemeine Bestimmungen Erster Titel: Die Entstehung der Obligationen Erster Abschnitt: Die Entstehung durch Vertrag
OR Art. 53 - 1 Bei der Beurteilung der Schuld oder Nichtschuld, Urteilsfähigkeit oder Urteilsunfähigkeit ist der Richter an die Bestimmungen über strafrechtliche Zurechnungsfähigkeit oder an eine Freisprechung durch das Strafgericht nicht gebunden.
1    Bei der Beurteilung der Schuld oder Nichtschuld, Urteilsfähigkeit oder Urteilsunfähigkeit ist der Richter an die Bestimmungen über strafrechtliche Zurechnungsfähigkeit oder an eine Freisprechung durch das Strafgericht nicht gebunden.
2    Ebenso ist das strafgerichtliche Erkenntnis mit Bezug auf die Beurteilung der Schuld und die Bestimmung des Schadens für den Zivilrichter nicht verbindlich.
OG die
tatsächlichen Feststellungen des kantonalen Gerichts seinem Urteile
zugrundezulegen hat, vorausgesetzt, dass dieselben nicht gegen
bundesrechtliche Beweisnormen verstossen oder mit dem Inhalt der Akten im
Widerspruch stehen. Die Kläger haben unter letzterem Gesichtspunkt in der
Berufungsschrift eine Reihe von Rügen erhoben. Allein wenn die Vorinstanz bei
der Würdigung des gesamten Beweismaterials und der Abwägung der sich
vielerorts nicht deckenden Zeugenaussagen da und dort eine Folgerung gemacht
haben sollte, welche als zweifelhaft oder wenigstens nicht als absolut
schlüssig erschiene, so könnte hierin nicht schon eine Aktenwidrigkeit im
Sinne von Art. 81 OG erblickt werden. Eine solche könnte erst dann angenommen
werden, wenn eine vorinstanzliche Feststellung entweder mit einem bestimmt
bezeichneten Aktenstücke und dessen klarem Inhalt oder beim glaubwürdig
befundenen Zeugen mit seiner protokollarischen Aussage in Widerspruch stünde.
Dagegen kann von Aktenwidrigkeit nicht die Rede sein, wenn das kantonale
Gericht einem Zeugen allgemein oder in einer einzelnen Aussage nicht folgt und
dessen Darstellung des Sachverhaltes den Richter nicht zu überzeugen vermag,
da die Beweiswürdigung als solche und die Beurteilung der Glaubwürdigkeit der
Zeugen im besonderen der Berufungsinstanz entzogen ist (vgl. WEISS, Berufung
S. 242; BGE 34 II 465; 40 II 247).
4.- a) Inbezug auf die Witwe des Verunglückten

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erhebt sich die Frage, ob die im Laufe des Prozesses erfolgte
Wiederverheiratung mit Emil Rutishauser zur Folge habe, dass sie von diesem
Zeitpunkt hinweg nicht mehr als entschädigungsberechtigt angesehen werden
könne. Dass die Tatsache der Wiederverheiratung, welche schon vor Erlass des
letztinstanzlichen kantonalen Urteils eintrat, an sich von der
Berufungsinstanz zu berücksichtigen ist, kann im Hinblick darauf, dass bei der
Bestimmung der Höhe solcher Entschädigungen nach der allgemeinen Vorschrift
des Art. 43
SR 220 Erste Abteilung: Allgemeine Bestimmungen Erster Titel: Die Entstehung der Obligationen Erster Abschnitt: Die Entstehung durch Vertrag
OR Art. 43 - 1 Art und Grösse des Ersatzes für den eingetretenen Schaden bestimmt der Richter, der hiebei sowohl die Umstände als die Grösse des Verschuldens zu würdigen hat.
1    Art und Grösse des Ersatzes für den eingetretenen Schaden bestimmt der Richter, der hiebei sowohl die Umstände als die Grösse des Verschuldens zu würdigen hat.
1bis    Im Falle der Verletzung oder Tötung eines Tieres, das im häuslichen Bereich und nicht zu Vermögens- oder Erwerbszwecken gehalten wird, kann er dem Affektionswert, den dieses für seinen Halter oder dessen Angehörige hatte, angemessen Rechnung tragen.27
2    Wird Schadenersatz in Gestalt einer Rente zugesprochen, so ist der Schuldner gleichzeitig zur Sicherheitsleistung anzuhalten.
OR der Richter alle Umstände zu würdigen hat, nicht zweifelhaft
sein. Während aber im Urteil vom 27. Mai 1905 i. S. Streit gegen Messerli (BGE
31 II 288) das Bundesgericht die Entschädigungsberechtigung der Witwe wegen
Verlustes des Versorgers mit dem Zeitpunkt ihrer Wiederverehelichung hatte
aufhören lassen (weil sie damit wieder einen Versorger gefunden habe), hat es
in einem späteren Falle bei einer Witwe, die zwar noch keine neue Ehe
eingegangen war, deren Wiederverheiratung aber als möglich oder gar als
wahrscheinlich erschien (BGE 36 II 83 ff.) ausgeführt, dass es zu gewichtigen
Bedenken Anlass gebe, an die Wiederverheiratung ohne weiteres die Folge der
Verwirkung der zugesprochenen Rente zu knüpfen, ohne Rücksicht darauf, ob der
zweite Ehemann in gleichem Masse wie der erste ein Versorger sein werde. Auch
könne die zweite Ehe bald nach ihrem Abschlusse durch Tod oder Scheidung
aufgelöst werden, oder es können sonstwie Umstände eintreten, infolge derer
die Frau sich in ihren, auf die zweite Ehe gesetzten Erwartungen getäuscht
sehe. In allen diesen Fällen wäre es stossend und der Absicht des Gesetzgebers
offenbar nicht entsprechend, dass die Witwe des Verunglückten, bloss weil sie
sich wieder verehelicht hat, ihren Entschädigungsanspruch unwiderruflich
verlieren sollte. Das Bundesgericht ist in jenem Urteil dazu gelangt, die
Härte des Wegfalles der Rentenverpflichtung dadurch zu mildern, dass es der
Witwe für den Fall

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der Wiederverheiratung noch eine Abfindungssumme im dreifachen Betrage der
jährlichen Rente zugesprochen hat. Ein neuestes Urteil vom 26. Juni 1928 i.S.
Hinnen und Genossen gegen Jäger (BGE 54 II 297 fl.) steht grundsätzlich auf
demselben Boden und bemerkt, dass in solchen Fällen gegenüber der Witwe eine
Kapitalabfindung nicht schlechthin abzulehnen sei; denn der Möglichkeit einer
Wiederverheiratung könne auch dadurch Rechnung getragen werden, dass zum
Voraus ein entsprechender Abzug am Rentenkapital vorgenommen werde.
Diese Grundsätze dürfen auf den Fall, wo eine nach Art. 45 Abs. 3
SR 220 Erste Abteilung: Allgemeine Bestimmungen Erster Titel: Die Entstehung der Obligationen Erster Abschnitt: Die Entstehung durch Vertrag
OR Art. 45 - 1 Im Falle der Tötung eines Menschen sind die entstandenen Kosten, insbesondere diejenigen der Bestattung, zu ersetzen.
1    Im Falle der Tötung eines Menschen sind die entstandenen Kosten, insbesondere diejenigen der Bestattung, zu ersetzen.
2    Ist der Tod nicht sofort eingetreten, so muss namentlich auch für die Kosten der versuchten Heilung und für die Nachteile der Arbeitsunfähigkeit Ersatz geleistet werden.
3    Haben andere Personen durch die Tötung ihren Versorger verloren, so ist auch für diesen Schaden Ersatz zu leisten.
OR
entschädigungsberechtigte Witwe sich während der Hängigkeit des Prozesses
bereits wieder verheiratet hat, in dem Sinne übertragen werden, dass es
alsdann Aufgabe des Richters ist, zu beurteilen, ob und inwieweit die neue
Lage der Witwe einen ökonomischen Unterschied bringt gegenüber derjenigen,
welche sie unter ihrem früheren Ehemann gehabt hat und mit Recht beanspruchen
konnte. Bietet der zweite Ehemann nach allen Richtungen dieselben Garantien
für ihre Lebensversorgung, so besteht kein wirtschaftlicher Nachteil, und
demgemäss von der Wiederverheiratung an auch kein Entschädigungsanspruch mehr;
trifft diese Voraussetzung aber nicht zu, so ist anhand der tatsächlichen
Unterlagen das Mass, in welchem die neue Versorgung hinter der früheren
zurückbleibt, wenigstens annähernd zu bestimmen, und es bleibt für den Ausfall
die Ersatzpflicht des Schädigers bestehen.
Die Akten enthalten über die finanziellen Verhältnisse des neuen Ehemannes der
Witwe Roth nur spärliche Angaben; immerhin ergibt sich, dass Emil Rutishauser,
welcher im Sommer 1927 bereits mit seinen Gläubigern einen Nachlassvertrag
abgeschlossen hatte, wobei die Dividende bloss 20 Prozent betrug, seither
wieder betrieben worden und am 23. Juni 1928 in Konkurs gefallen ist. In
Würdigung dieser Umstände kann der

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Betrag von 5000 Fr., auf den die Erstklägerin ihre ursprüngliche Forderung von
38489 Fr. 50 Cts. ermässigt hat, nicht als übersetzt angesehen werden. Nach
ihrem Alter zur Zeit des Unfalles (32 Jahre) würde die Ausrichtung einer
lebenslänglichen Jahresrente von 1200 Fr. bei einem Zinsfuss von 4,5 Prozent
(Piccard'sche Barwerttafel 4) ein Kapital von etwas über 20000 Fr. erfordern.
Werden hievon für das Mitverschulden Roths am Unfall 50 Prozent und für die
Vorteile der Kapitalabfindung 10 Prozent abgezogen, so verbliebe ein Kapital
von rund 8000 Fr. Ein weiterer Abzug von 3000 Fr. wegen Wiederverheiratung
erscheint als reichlich bemessen.
Entscheidinformationen   •   DEFRITEN
Dokument : 54 II 367
Datum : 01. Januar 1927
Publiziert : 10. Oktober 1928
Quelle : Bundesgericht
Status : 54 II 367
Sachgebiet : BGE - Zivilrecht
Gegenstand : 1. Einschränkung des Grundsatzes der Nichtgebundenheit des Zivilrichters an das freisprechende...


Gesetzesregister
OG: 53  81
OR: 43 
SR 220 Erste Abteilung: Allgemeine Bestimmungen Erster Titel: Die Entstehung der Obligationen Erster Abschnitt: Die Entstehung durch Vertrag
OR Art. 43 - 1 Art und Grösse des Ersatzes für den eingetretenen Schaden bestimmt der Richter, der hiebei sowohl die Umstände als die Grösse des Verschuldens zu würdigen hat.
1    Art und Grösse des Ersatzes für den eingetretenen Schaden bestimmt der Richter, der hiebei sowohl die Umstände als die Grösse des Verschuldens zu würdigen hat.
1bis    Im Falle der Verletzung oder Tötung eines Tieres, das im häuslichen Bereich und nicht zu Vermögens- oder Erwerbszwecken gehalten wird, kann er dem Affektionswert, den dieses für seinen Halter oder dessen Angehörige hatte, angemessen Rechnung tragen.27
2    Wird Schadenersatz in Gestalt einer Rente zugesprochen, so ist der Schuldner gleichzeitig zur Sicherheitsleistung anzuhalten.
45 
SR 220 Erste Abteilung: Allgemeine Bestimmungen Erster Titel: Die Entstehung der Obligationen Erster Abschnitt: Die Entstehung durch Vertrag
OR Art. 45 - 1 Im Falle der Tötung eines Menschen sind die entstandenen Kosten, insbesondere diejenigen der Bestattung, zu ersetzen.
1    Im Falle der Tötung eines Menschen sind die entstandenen Kosten, insbesondere diejenigen der Bestattung, zu ersetzen.
2    Ist der Tod nicht sofort eingetreten, so muss namentlich auch für die Kosten der versuchten Heilung und für die Nachteile der Arbeitsunfähigkeit Ersatz geleistet werden.
3    Haben andere Personen durch die Tötung ihren Versorger verloren, so ist auch für diesen Schaden Ersatz zu leisten.
53
SR 220 Erste Abteilung: Allgemeine Bestimmungen Erster Titel: Die Entstehung der Obligationen Erster Abschnitt: Die Entstehung durch Vertrag
OR Art. 53 - 1 Bei der Beurteilung der Schuld oder Nichtschuld, Urteilsfähigkeit oder Urteilsunfähigkeit ist der Richter an die Bestimmungen über strafrechtliche Zurechnungsfähigkeit oder an eine Freisprechung durch das Strafgericht nicht gebunden.
1    Bei der Beurteilung der Schuld oder Nichtschuld, Urteilsfähigkeit oder Urteilsunfähigkeit ist der Richter an die Bestimmungen über strafrechtliche Zurechnungsfähigkeit oder an eine Freisprechung durch das Strafgericht nicht gebunden.
2    Ebenso ist das strafgerichtliche Erkenntnis mit Bezug auf die Beurteilung der Schuld und die Bestimmung des Schadens für den Zivilrichter nicht verbindlich.
BGE Register
31-II-281 • 34-II-463 • 36-II-79 • 40-II-246 • 45-II-304 • 54-II-294 • 54-II-367
Stichwortregister
Sortiert nach Häufigkeit oder Alphabet
witwe • wiederverheiratung • ehe • bundesgericht • zeuge • bus • kapitalabfindung • weiler • olten • mass • vorinstanz • beendigung • vorteil • berechnung • zivilpartei • sachverhalt • ehegatte • schaden • solothurn • richterliche behörde
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