Urteilskopf

113 Ia 426

63. Auszug aus dem Urteil der 1. öffentlichrechtlichen Abteilung vom 18. November 1987 i.S. Quartierverein Rotmonten gegen Stadtrat St. Gallen und Regierungsrat des Kantons St. Gallen (staatsrechtliche Beschwerde)
Regeste (de):

Regeste (fr):

Regesto (it):


Sachverhalt ab Seite 427

BGE 113 Ia 426 S. 427

Auf den Zeitpunkt der Eröffnung der Nationalstrasse N 1/SN 1 auf dem Gebiet der Stadt St. Gallen beschloss der Stadtrat verschiedene Verkehrsmassnahmen, um das sogenannte Wohnschutzkonzept Rosenberg zu verwirklichen. Damit wird das Ziel verfolgt, soviel Verkehr wie möglich auf die Autobahn zu bringen und den verbleibenden innerstädtischen Verkehr auf das übergeordnete Strassennetz zu kanalisieren, um so die Wohngebiete vom Fremdverkehr zu entlasten. Die Verkehrsmassnahmen umfassen Anordnungen, welche gestützt auf das Strassenverkehrsgesetz getroffen wurden; namentlich die Schliessung der Durchfahrt an den beiden Strassenkreuzungen Dufourstrasse/Lessingstrasse und Goethestrasse/Wartensteinstrasse. Sodann sind bauliche Massnahmen vorgesehen, die ihre Grundlage im kantonalen Strassengesetz finden. Sie betreffen gemäss dem "Massnahmenpaket Rosenberg I" die Dufourstrasse (Korrektion der Einmüdungen Winkelriedstrasse/Tigerbergstrasse und Varnbüelstrasse) und die General Guisan-Strasse (Aufpflästerung der Fahrbahn bei der Verzweigung der Varnbüel- und Gatterstrasse, der Holzstrasse und des Freibergweges) sowie gemäss dem "Massnahmenpaket Rosenberg II" die Aufpflästerung des Knotenbereichs Dufourstrasse/Lessingstrasse und Goethestrasse/Wartensteinstrasse, ferner die Erstellung von Trottoirüberfahrten bei den Einmündungen der Dufourstrasse und der Wartensteinstrasse in die Gerhaldenstrasse sowie beim Knoten Leimatstrasse/Böcklinstrasse. Mit diesen Massnahmen ist der Quartierverein Rotmonten nicht einverstanden. Das Quartier Rotmonten liegt im Norden der Stadt St. Gallen. Über die genannten Strassenzüge gelangt man nach Rotmonten, so vom Rosenbergquartier über die Dufourstrasse, Varnbüelstrasse und General Guisan-Strasse, vom Langgassquartier u.a. über die Dufourstrasse, die Leimatstrasse, Lessingstrasse, Goethestrasse und Gerhaldenstrasse. Weil die Massnahmen den Durchfahrtsverkehr zu dem am Rande der Stadt gelegenen Rotmontenquartier
BGE 113 Ia 426 S. 428

erschweren, erhob der Quartierverein Einsprache beim Stadtrat sowie gegen dessen Entscheid Beschwerde an den Regierungsrat. Am 16. Juni 1987 beschloss der Regierungsrat:
"...
2. Auf den Rekurs des Quartiervereins Rotmonten betreffend bauliche Massnahmen Rosenberg I wird nicht eingetreten. 3. Der Rekurs der Quartiervereine Rotmonten und Langgasse-Heiligkreuz betreffend bauliche Massnahmen Rosenberg II wird abgewiesen, soweit darauf einzutreten ist. ..."
Der Quartierverein Rotmonten beantragt mit staatsrechtlicher Beschwerde, unter anderem die Disp. Ziffern 2 und 3 des Entscheides des Regierungsrates seien aufzuheben. Er bezeichnet es als schlechthin unhaltbar, dass der Regierungsrat auf den Rekurs betreffend bauliche Massnahmen Rosenberg I wegen fehlender Beeinträchtigung in schutzwürdigen Interessen nicht eingetreten sei. Den Beschluss über die Ablehnung der Beschwerde betreffend bauliche Massnahmen Rosenberg II bezeichnet der Quartierverein sowohl aus formellen Gründen - wegen angeblicher Nichtigkeit der Planauflage - als auch in materieller Hinsicht als schlechterdings unvertretbar. Das Bundesgericht weist die staatsrechtliche Beschwerde ab, soweit es auf sie eintritt. Es begründet seinen Entscheid
Erwägungen

mit folgenden Erwägungen:

1. Das Recht zur Erhebung einer staatsrechtlichen Beschwerde richtet sich unabhängig davon, ob dem Beschwerdeführer im kantonalen Verfahren Parteistellung zukam, ausschliesslich nach Art. 88 OG. Danach steht die Beschwerdebefugnis Bürgern (Privaten) und Korporationen bezüglich solcher Rechtsverletzungen zu, die sie durch allgemein verbindliche oder sie persönlich treffende Erlasse oder Verfügungen erlitten haben. Zur staatsrechtlichen Beschwerde ist demnach nur legitimiert, wer durch den angefochtenen Hoheitsakt in rechtlich geschützten eigenen Interessen beeinträchtigt wird; zur Verfolgung bloss tatsächlicher Interessen wie auch zur Wahrung allgemeiner öffentlicher Interessen ist die Beschwerde nicht gegeben (BGE 112 Ia 177 E. 3; BGE 110 Ia 74 E. 1, 78 E. 2; je mit Hinweisen). Im Lichte dieser Grundsätze ist die Legitimation zur Geltendmachung jeder Rüge einzeln zu prüfen.

2. Soweit der Regierungsrat auf den Rekurs des Beschwerdeführers gegen die im Massnahmenpaket Rosenberg II enthaltenen
BGE 113 Ia 426 S. 429

baulichen Massnahmen eintrat, den Rekurs jedoch abwies, macht der Beschwerdeführer in seiner staatsrechtlichen Beschwerde geltend, die Ablehnung sei willkürlich. a) Wie Erwägung 1 zeigt, ergibt sich aus der Beschwerdeberechtigung im kantonalen Verfahren nicht ohne weiteres auch das Recht zur Beschwerdeführung im staatsrechtlichen Beschwerdeverfahren gemäss Art. 84 ff . OG. Als ideeller Verein, der sich für die Interessen seiner Mitglieder einsetzt, ist der Beschwerdeführer zur staatsrechtlichen Beschwerde nur legitimiert, wenn er als juristische Person konstituiert ist, die einzelnen Mitglieder zur staatsrechtlichen Beschwerde berechtigt wären, die Wahrung der durch ein verfassungsmässiges Recht geschützten Interessen zu seinen statutarischen Aufgaben gehört und tatsächlich ein Interesse der Mehrheit oder mindestens einer Grosszahl der Mitglieder geltend gemacht wird (BGE 112 Ia 33 E. 2a; 109 Ia 35 E. 2b; je mit Hinweisen). Gemäss § 2 seiner Statuten setzt sich der Quartierverein Rotmonten ein "für die Wahrung und Förderung der öffentlichen Interessen im Quartier, insbesondere auch in Bau- und Verkehrsfragen". Die Wahrung der privaten, durch ein verfassungsmässiges Recht geschützten Interessen seiner Mitglieder gehört somit nicht zu seinen statutarischen Aufgaben. Selbst wenn der Quartierverein auch den Nachweis erbringen würde, dass er mit seiner Beschwerde ein Interesse der Mehrheit oder mindestens einer Grosszahl seiner Mitglieder geltend machen würde, was er indessen unterlässt, könnte seine Legitimation nicht anerkannt werden, weil die staatsrechtliche Beschwerde gerade nicht zur Verfolgung der von ihm gemäss Statuten zu wahrenden öffentlichen Interessen offensteht. Dass der Regierungsrat im Verwaltungsrekursverfahren weniger strenge Anforderungen an die Rekursberechtigung stellte und daher in begrenztem Ausmass auf die Einwendungen gegen die baulichen Massnahmen Rosenberg II eingetreten ist, ändert hieran nichts, denn das staatsrechtliche Beschwerdeverfahren ist rechtlich keine Fortsetzung des kantonalen Verfahrens, sondern ein neues, selbständiges, bundesrechtliches Verfahren. Auf die Rügen gegen Disp. Ziffer 3 des angefochtenen Entscheides ist somit nicht einzutreten. b) Da neben dem Quartierverein keines seiner Mitglieder oder ein anderer, im betroffenen Gebiet wohnender Privater Beschwerde führt, kann offenbleiben, ob diese zur Rüge zuzulassen wären, der Regierungsrat habe durch die völlig unhaltbare Auslegung und Anwendung der Bestimmung über die öffentliche Auflage im Planverfahren gemäss Art. 24 des Gesetzes über das Strassenwesen
BGE 113 Ia 426 S. 430

vom 17. März 1930 (StrG) sinngemäss eine formelle Rechtsverweigerung geschützt und er habe die baulichen Massnahmen Rosenberg II, soweit er sie überprüfte, mit willkürlichen Erwägungen als rechtmässig anerkannt. Da das allgemeine Willkürverbot für sich allein dem Betroffenen noch keine geschützte Rechtsstellung verschafft (BGE 110 Ia 75 E. 2a mit Hinweisen), wäre massgebend, ob diejenigen Normen, welche der Regierungsrat bei seinem Entscheid angewendet hat, neben den öffentlichen auch die privaten Interessen der Quartierbewohner schützen. für Art. 24 StrG müsste dies wohl bejaht werden, wogegen Art. 20 und Art. 62 StrG in bezug auf diese Frage näher untersucht werden müssten. Bei dieser Sachlage braucht auch nicht zur Frage Stellung genommen zu werden, ob an der bundesgerichtlichen Rechtsprechung, dass selbst ein Anstösser - anderslautende gesetzliche Bestimmungen vorbehalten - kein besseres Recht auf Benützung einer im Gemeingebrauch stehenden Strasse besitze als jeder andere Benützer (vgl. dazu BGE 91 I 408 E. 2 mit Hinweisen), ausnahmslos festgehalten werden kann (vgl. immerhin BGE 95 I 305 E. 5b sowie die Kritik bei IMBODEN/RHINOW, Schweizerische Verwaltungsrechtsprechung, 5. Auflage, Basel 1976, Nr. 117 B III, S. 823 ff.).
c) Beigefügt sei, dass die Einwendungen des Beschwerdeführers, falls auf sie eingetreten werden könnte, nicht geeignet wären, dem Regierungsrat Willkür vorzuwerfen. Seine Behauptung, die öffentliche Auflage der baulichen Massnahmen Rosenberg II sei nichtig, geht klarerweise fehl. Die Nennung der Massnahmen mit der Möglichkeit der Einsichtnahme in die Pläne genügt offensichtlich den Anforderungen gemäss Art. 24 StrG. Desgleichen durfte der Regierungsrat ohne Willkür die Auffassung des Beschwerdeführers, es fehle eine gesetzliche Grundlage für die Anordnung der Massnahmen, mit Berufung auf das kantonale Strassengesetz, insbesondere dessen Art. 17 ff., zurückweisen. Die Bedürfnisse des heutigen intensiven Motorfahrzeugverkehrs, nach dem sich die Strassen gemäss Art. 20 StrG zu richten haben, können auch Massnahmen zur Kanalisierung des Verkehrs umfassen.
3. Ungeachtet der fehlenden Legitimation in der Sache selbst kann mit staatsrechtlicher Beschwerde die Verletzung solcher Rechte gerügt werden, deren Missachtung eine formelle Rechtsverweigerung darstellt oder auf eine solche hinausläuft (BGE 107 Ia 75 E. 2d; BGE 105 Ia 190 E. 1c; je mit Hinweisen). Soweit der Beschwerdeführer einwendet, der Regierungsrat sei zu Unrecht auf
BGE 113 Ia 426 S. 431

einen Teil seines Rekurses nicht eingetreten, ist er ohne weiteres zur Beschwerde legitimiert. a) Ob der Regierungsrat in vollem Umfange auf den Rekurs des Beschwerdeführers hätte eintreten müssen, beurteilt sich nach kantonalem Verfahrensrecht (Gesetz über die Verwaltungsrechtspflege vom 16. Mai 1965, VRP) und ist demzufolge allein unter dem Gesichtswinkel der Willkür zu prüfen. In Frage stehen bauliche Strassenkorrektionsarbeiten im bestehenden Strassenbereich. Bei den entsprechenden Bauprojekten zur Kanalisierung und Eindämmung des Strassenverkehrs geht es nicht um den Vollzug von Nutzungsplänen im Sinne des eidgenössischen Raumplanungsgesetzes, sondern um gezielte Umbauarbeiten an Strassenkreuzungen und -einmündungen im Interesse des Wohnschutzes. Demgemäss kommen die Vorschriften des BG über das Verwaltungsverfahren vom 20. Dezember 1968 (VwVG) und des BG über die Organisation der Bundesrechtspflege vom 16. Dezember 1943 (OG) über die Verwaltungsgerichtsbeschwerde (Art. 97 ff.) nicht zur Anwendung (BGE 103 Ia 18 E. 2a). b) aa) Die umstrittenen Anordnungen betreffen bauliche Massnahmen, die gemäss dem kantonalen Gesetz über das Strassenwesen vom 17. März 1930 (StrG) vom hiefür zuständigen Stadtrat St. Gallen beschlossen wurden. Nach Art. 25 Abs. 2 dieses Erlasses und Art. 43 Abs. 1 VRP konnte diese Beschlüsse beim Regierungsrat anfechten, wer an deren Änderung oder Aufhebung ein eigenes schutzwürdiges Interesse dartat (Art. 45 Abs. 1 VRP). bb) Der Regierungsrat bejaht gestützt auf Art. 45 Abs. 1 VRP die Rekursberechtigung zur Anfechtung eines Strassenbauprojektes, wenn sich das Interesse des Rekurrenten aus einer nahen räumlichen Beziehung zum Streitgegenstand ergibt und er durch die konkrete Ausgestaltung des Projektes unmittelbar und in höherem Masse als irgendein Dritter oder die Allgemeinheit in eigenen, aktuellen tatsächlichen oder rechtlichen Interessen berührt ist. Dabei genügt nach der Praxis des Regierungsrates nicht jedes noch so entfernte Interesse; es muss sich vielmehr um ein schutzwürdiges handeln (Sanktgallische Gerichts- und Verwaltungspraxis, 1977, Nr. 23). Allein der Umstand, dass ein Rekurrent eine bestimmte Strasse mehr oder weniger regelmässig benützt, genügt nicht zur Begründung der Rekursberechtigung. Nach diesen Regeln beurteilt der Regierungsrat auch das Rekursrecht eines Vereins, der als solcher nicht unmittelbar betroffen ist, dessen Mitglieder jedoch im höherem Masse als jedermann berührt sind, weshalb sie selbst Beschwerde führen könnten.
BGE 113 Ia 426 S. 432

cc) Diese Rechtsprechung ist entgegen der Auffassung des Beschwerdeführers keineswegs willkürlich. Wollte man Strassenbenützern, welche mehr oder weniger regelmässig eine Strasse befahren, um zu ihrer Wohnung oder ihrem Arbeitsort zu gelangen, das Beschwerderecht gegen Strassenkorrektionsmassnahmen einräumen, so käme dies einer Popularbeschwerde gleich. Als "schutzwürdiges Interesse" im Sinne von Art. 45 VRP darf ohne Willkür nur eine deutlich wahrnehmbare Beeinträchtigung in speziellen, klar fassbaren Interessen bezeichnet werden. Eine blosse Erschwerung bei als der Befahrung des Strassennetzes, wie sie sowohl durch Verkehrsanordnungen als auch durch bauliche Massnahmen entstehen kann und wie sie jeder Strassenbenützer im Rahmen des Gemeingebrauchs in Kauf nehmen muss, durfte der Regierungsrat als nicht ausreichend bezeichnen, um die Rekursberechtigung zu begründen. dd) Auch wenn es - wie dargelegt - nicht um die Beurteilung der Beschwerdelegitimation nach Bundesverwaltungsverfahrensrecht geht, sei beigefügt, dass sich die Praxis des Regierungsrates im Ergebnis mit der Rechtsprechung des Bundesgerichts zur Beschwerdelegitimation nach Art. 103 lit. a OG deckt, was bestätigt, dass dem Regierungsrat keine Willkür vorgeworfen werden kann. dass dem Regierungsrat keine Willkür vorgeworfen werden kann. Auch das Bundesgericht lässt nicht jedes noch so entfernte Interesse zur Begründung der Beschwerdeberechtigung gelten (vgl. die Zusammenfassung der Rechtsprechung in BGE 112 Ib 158 E. 3; vgl. auch VPB 50/1986, Nr. 49). Das Bundesgericht betont, eine besondere, beachtenswerte, nahe Beziehung zur Streitsache sei nötig. Der Beschwerdeführer muss in höherem Masse als jedermann berührt sein (BGE 109 Ib 200 E. 4b mit Verweisungen). Für die Bejahung dieser besonderen Beziehung genügt es nicht, dass der Ausgang des Verfahrens, in das der Beschwerdeführer sich einmischen will, seine Interessensphäre im entfernten Masse irgendwie zu beeinflussen vermag. Wäre dies ausreichend - im vorliegenden Falle das Interesse, möglichst unbehindert auf Stadtstrassen zu seinem am Rande der Stadt entfernten Wohnquartier zu gelangen - so wäre eine Abgrenzung gegenüber der verpönten Popularbeschwerde nicht mehr möglich (angeführter BGE 109 Ib 201 E. 4c). Diese Rechtsprechung ist in der Lehre auf Zustimmung gestossen (FRITZ GYGI, Vom Beschwerderecht in der Bundesverwaltungsrechtspflege, recht, 1986, S. 8 ff., S. 12).