S. 234 / Nr. 39 Verfahren (d)

BGE 79 II 234

39. Auszug aus dem Urteil der II Zivilabteilung vom 28. Mai 1953 i. S.
Eheleute Hoffmann.

Regeste:
Ehescheidung. Ein Verzicht auf die Berufung an das Bundesgericht gegen ein die
Scheidung aussprechendes Urteil des obern kantonalen Gerichts ist auf jeden
Fall dann unwirksam, wenn er erklärt wird, bevor dieses Urteil den Parteien
gemäss Art. 51 lit. d OG schriftlich mitgeteilt worden ist.

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Divorce. La déclaration aux termes de laquelle un époux renonce à recourir en
réforme au Tribunal fédéral contre le jugement de la juridiction cantonale
suprême qui prononce le divorce est en tout cas sans effet lorsqu'elle est
intervenue avant que ce jugement ait été communiqué aux parties par écrit
conformément à l'art. 51 lettre d OJ.
Divorzio. La dichiarazione, secondo cui un coniuge rinuncia a interporre un
ricorso per riforma al Tribunale federale contro la sentenza dell'ultima
giurisdizione cantonale, è, ad ogni modo, inefficace quando è intervenuta
prima che questa sentenza sia stata comunicata per iscritto conformemente
all'art. 51 lett. d OG.

Mit Urteil vom 15. Januar 1953 schied das zürcherische Obergericht die Ehe der
Parteien auf Klage des Mannes. Über die Neben folgen hatten die Parteien nach
der öffentlichen Urteilsberatung unter Mitwirkung des Obergerichts eine
Vereinbarung geschlossen, die u a. Unterhaltsbeiträge an die Beklagte vorsah.
Der Kläger beantragte die Genehmigung dieser Vereinbarung «unter dem
Vorbehalt, dass seitens der Beklagten auf die Berufung gegen das ober
gerichtliche Urteil verzichtet werde». Nachdem das Scheidungsurteil das die
Neben folgen im Sinne der Vereinbarung ordnete, im Dispositiv mündlich
eröffnet worden war, erklärten beide Parteien den Verzicht auf die Berufung an
das Bundesgericht. Hierauf stellte das Obergericht fest, dass der Vergleich
über die Nebenfolgen perfekt und das Urteil rechtskräftig geworden sei. Nach
Zustellung des motivierten Urteils erklärte die Beklagte die Berufung an das
Bundesgericht mit dem Antrag auf Abweisung der Klage. Das Bundesgericht tritt
auf die Berufung ein (und weist sie ab).
Erwägungen:
1.- Ob die Parteien auf die Berufung an das Bundesgericht gültig verzichtet
haben oder die Berufung trotz ihren Verzichtserklärungen zulässig sei, ist
entgegen der Auffassung des Klägers eine Frage des Bundesrechts, die der
Kognition des Bundesgerichts untersteht (BGE 33 II 207, 48 II 133).
2.- Hinsichtlich der Umstände, unter denen die

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Parteien auf die Berufung an das Bundesgericht verzichtet haben, sind für das
Bundesgericht die auf das Verhandlungsprotokoll gestützten Feststellungen der
Vorinstanz massgebend. Wenn die Beklagte behaupten wollte, das Protokoll sei
nicht richtig, so hätte sie bei der Vorinstanz dessen Berichtigung beantragen
müssen (§ 170 des zürch. Gerichtsverfassungsgesetzes), was sie nicht getan
hat. Es ist also davon auszugehen, dass zwar der Kläger vor der
Urteilseröffnung erklärt hat, er stimme der Vereinbarung über die Nebenfolgen
nur zu, wenn die Beklagte auf die Berufung verzichte, dass aber dieser
Verzicht nicht vor, sondern erst nach der Urteilseröffnung ausgesprochen
worden ist. Dass die Beklagte über die Bedeutung des Verzichtes nicht im
klaren gewesen sei, kann nicht angenommen werden, weil auch für einen Laien
ohne weiteres verständlich ist, was es heisst, auf die Weiterziehung an eine
obere Instanz zu verzichten, und die Beklagte überdies noch besondere
Auskünfte erhielt, die ihr deutlich zeigten, worum es sich handelte. Es liegen
aber auch keine Anhaltspunkte da für vor, dass ein unzulässiger Druck auf sie
ausgeübt worden sei. Wenn ihr gesagt wurde, sie laufe im Falle der
Weiterziehung Gefahr, die ihr in der Vereinbarung zugestandene Recht zu
verlieren, so war diese Belehrung richtig. Unter diesen Umständen kann sich
nur noch fragen, ob sich die Beklagte mit der Begründung über den von ihr
erklärten Verzicht hinwegsetzen könne, dass es überhaupt nicht möglich sei, im
Anschluss an die mündliche Eröffnung eines Scheidungsurteils auf die
Weiterziehung, insbesondere die Berufung an das Bundesgericht, wirksam zu
verzichten.
3.- In BGE 33 II 205 ff., im Urteil vom 10 Februar 1915 i.S. Hübscher gegen
Keller & Cie. (Praxis 4 Nr. 36) und in BGE 48 II 129 ff. hat das Bundesgericht
angenommen, es sei möglich, durch Parteivereinbarung schon vor Erlass eines
Urteils, ja sogar vor Beginn des Rechtsstreites, gültig auf das Rechtsmittel
der Berufung an das Bundesgericht zu verzichten. Demgemäss ist es in jenen
Fällen auf die Berufung nicht eingetreten.

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Wenn auf die Berufung zum voraus wirksam verzichtet werden kann, muss es erst
recht möglich sein, nach der Urteilsfällung auf dieses Rechtsmittel zu
verzichten. Angesichts der erwähnten, von beiden Zivilabteilungen geschaffenen
Praxis ist also ein solcher Verzicht in der Regel als zulässig anzusehen, und
zwar auch dann, wenn er unmittelbar im Anschluss an die mündliche
Urteilseröffnung erklärt wird.
Der in den zitierten Entscheiden aufgestellte Grundsatz gilt jedoch nicht ohne
Ausnahme. In BGE 48 II 134 stützte ihn das Bundesgericht auf die Erwägung,
wenn man annehme, dass die Parteien über ihre Rechte frei verfügen können, sei
nicht einzusehen, was sie hindern könnte, in Angelegenheiten, welche die
öffentliche Ordnung nicht berühren, auf das Berufungsrecht zum voraus zu
verzichten. Für die Fälle, wo es sich um Rechte handelt, über welche die
Parteien aus Gründen der öffentlichen Ordnung nicht frei verfügen können,
wurde damit ein Vorbehalt gemacht. In solchen Fällen kann in der Tat ein
Vorausverzicht auf die Berufung nicht zugelassen werden.
Dies gilt namentlich für den Scheidungsprozess. Die Parteien können hier auf
die Berufung gegen ein erst noch zu fällendes Urteil mindestens für den Fall
nicht gültig verzichten, dass es auf Scheidung lauten sollte. Die Befugnis,
sich der Scheidung durch Berufung zu widersetzen, weil sie nach Gesetz nicht
begründet sei, ist der beklagten Partei um ihrer Persönlichkeit willen und im
öffentlichen Interesse eingeräumt. Das heisst natürlich nicht, dass sie davon
in jedem Falle, wo Zweifel an der Begründetheit der aus gesprochenen Scheidung
bestehen, auch wirklich Gebrauch machen müsse. Sie muss aber unter allen
Umständen Gelegenheit haben, dies zu tun, nachdem das Urteil ergangen ist. Die
in Frage stehende Befugnis kann daher auf keinen Fall aufgegeben werden, bevor
das Urteil, gegen das die Berufung sich zu richten hätte, auch nur gefällt
worden ist.
Ob darüber hinaus überhaupt jeder Verzicht auf die Befugnis zur Weiterziehung
eines Scheidungsurteils als

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unzulässig zu erachten sei, m.a.W. ob die Parteien ein kantonales
Scheidungsurteil nur dadurch rechtskräftig werden lassen können, dass sie die
Rechtsmittelfrist unbenützt verstreichen lassen, oder ob auf die Weiterziehung
eines bereits gefällt en Scheidungsurteils wirksam verzichtet werden kann, ist
umstritten. (Im ersten Sinne GULDENER, Das Schweiz. Zivilprozessrecht, 11 S.
457, und ZSR 65 (1946) S. 230 f.; vgl. Art. 249 des franz. Code civil. Anderer
Ansicht GMÜR, 2. Aufl., N. 19, und EGGER, 2. Aufl., N. 7 zu Art. 158 ZGB;
GRÜEBLER, Die Ausgestaltung des Scheidungsprozesses im Berufungsverfahren der
Schweiz. Kantone, 1948, S. 17; die Praxis des zürch. Obergerichts, ZR 19 Nr.
187 und 36 Nr. 192; der bern. Appellationshof im Urteil vom 30. Mai 1924 i.S.
Neher, ZBJV 61 S. 73; die Praxis des deutschen Reichsgerichts, RGZ 59 S. 346
ff. und 110 S. 228 ff.). Das Bundesgericht hat zu dieser Frage noch nicht auf
Grund freier Prüfung Stellung genommen, sondern lediglich im Falle Ne her, wo
die Parteien nach der mündlichen Eröffnung des erstinstanzlichen
Scheidungsurteils auf die Appellation verzichtet hatten und der
Appellationshof auf die gleichwohl erklärte Appellation nicht eingetreten war,
auf staatsrechtliche Beschwerde hin entschieden, es bedeute keine Missachtung
allgemein anerkannter Rechtsgrundsätze und sei daher nicht willkürlich, dass
einem nach Eröffnung des Urteils erklärten Verzicht auf die Berufung
Wirksamkeit auch in Ehescheidungssachen und zwar auch dann zugesprochen werde,
wenn das Urteil der ersten Instanz auf Scheidung gehe (Urteil der
Staatsrechtlichen Abteilung vom 3. Oktober 1924). Auch im vorliegenden Fall
ist es nicht nötig, diese Frage umfassend zu prüfen. Auch wenn man nämlich
annimmt, es sei nicht unter allen Umständen von Bundesrechts wegen unzulässig,
auf die Weiterziehung eines bereits gefällten Scheidungsurteils zu verzichten,
so erscheint doch auf jeden Fall ein Verzicht auf die Berufung an das
Bundesgericht unwirksam, der erklärt wird, bevor das Urteil des obern
kantonalen Gerichts den Parteien

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gemäss Art. 51 lit. d OG schriftlich mitgeteilt worden ist. Diese Mitteilung
soll den Parteien gestatten, sich darüber schlüssig zu machen, ob sie die
Berufung ergreifen sollen, und muss demgemäss die Entscheidungsgründe
enthalten (BIRCHMEIER, Handbuch des OG, S. 185/86). Bevor die Parteien diese
Mitteilung erhalten haben, können sie, selbst wenn das ober gerichtliche
Urteil nach öffentlicher Beratung gefällt oder im Anschluss an die mündliche
Eröffnung mündlich begründet worden ist, nicht auf Grund zuverlässiger
Unterlagen beurteilen, ob eine Berufung Erfolg verspreche oder nicht.
Insbesondere ergibt sich erst aus den schriftlich niedergelegten
Entscheidungsgründen mit der nötigen Sicherheit, von welchem Tatbestand das
Bundesgericht im Falle einer Berufung auszugehen hätte. Erst nach der
schriftlichen Mitteilung verfügen also die Parteien über alle Elemente, die
nötig sind, um hinsichtlich der Weiterziehung an das Bundesgericht einen
vernünftigen Entschluss zu fassen. Ein Verzicht auf die Berufung gegenüber
einem Scheidungsurteil des obern kantonalen Gerichts darf aber, wenn
überhaupt, nur unter der Voraussetzung als wirksam betrachtet werden, dass die
Parteien dabei in voller Sachkenntnis gehandelt haben. Ein Verzicht auf die
Berufung an das Bundesgericht; der unmittelbar nach der mündlichen
Urteilseröffnung erklärt wurde, wie es hier geschehen ist, kann daher nicht
als gültig anerkannt werden. (Ebenso hinsichtlich des Verzichts auf die
kantonale Appellation die aarg. Praxis; vgl. EICHENBERGER, Beiträge zum aarg.
Zivilprozessrecht 1949, S. 264.)
Entscheidinformationen   •   DEFRITEN
Dokument : 79 II 234
Datum : 01. Januar 1953
Publiziert : 28. Mai 1953
Quelle : Bundesgericht
Status : 79 II 234
Sachgebiet : BGE - Zivilrecht
Gegenstand : Ehescheidung. Ein Verzicht auf die Berufung an das Bundesgericht gegen ein die Scheidung...


Gesetzesregister
OG: 51
ZGB: 158
BGE Register
33-II-205 • 48-II-129 • 79-II-234
Stichwortregister
Sortiert nach Häufigkeit oder Alphabet
bundesgericht • beklagter • scheidungsurteil • frage • mündliche eröffnung • rechtsmittel • weiler • vorinstanz • richtigkeit • entscheid • bewilligung oder genehmigung • druck • kantonsgericht • sachverhalt • eröffnung des entscheids • richterliche behörde • begründung des entscheids • überprüfungsbefugnis • kantonales rechtsmittel • beurteilung
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