BGE 74 II 224
37. Urteil der II. Zivilabteilung vom 28. Oktober 1948 i. S. Firma Wichert
gegen Wichert.
Regeste:
Erstreckt sich die von der tschechoslowakischen Republik über eine Prager
Geschäftsunternehmung angeordnete Nationalverwaltung, wonach der Firmainhaber
nicht mehr über das Vermögen verfügen kann, auf Waren, die dieser zuvor zu
seiner persönlichen Verfügung in die Schweiz verbracht hatte?
Grundsätze des internationalen Privatrechts hinsichtlich der Bedeutung einer
Einzelfirma und hinsichtlich der Anerkennung und des Inhalts von
Eigentumsrechten.
Haben öffentlichrechtliche Massnahmen Wirkung über die Staatsgrenzen hinaus?
L'administration par l'Etat ordonnée par la République tchécoslovaque sur une
entreprise de Prague, mesure en vertu de laquelle le titulaire de la raison do
commerce ne peut plus disposer de son patrimoine, s'étend-elle à des
marchandises que cette personne avait précédemment transportées en Suisse à sa
disposition personnelle?
Principes du droit international privé concernant la portée d'une raison
individuelle, ainsi que la reconnaissance et l'étendue de droits de propriété.
Des mesures de droit public produisent-elles effet hors des frontières
nationales?
L'amministrazione da parte dogli organi statali ordinata dalla Repubblica
cecoslovaca nei confronti d'un'azienda commerciale a Praga, provvedimento che
toglie al titolare della ditta la facoltà di disporre del suo patrimonio, si
estende a merci che questa persona aveva precedentemente trasportate in
Isvizzera a sua, disposizione personale?
Princìpi di diritto internazionale privato circa la portata d'una ditta
individuale come pure il riconoscimento e l'estensione di diritti di
proprietà.
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Provvedimenti di diritto pubblico producono effetti fuori delle frontiere
nazionali?
A. Der Kläger kaufte am 28. Mai 1942 vom deutschen Vermögensamte die
Unternehmung der Brüder Perutz, Textilwerk in Prag, die als jüdisches Geschäft
von den Deutschen beschlagnahmt worden war. Die Firma lautete! nunmehr laut
Eintrag vom 3. Oktober 1942 «Brüder Perutz, Inhaber Wilhelm Wichert», später
laut Eintrag vom 23. Februar 1944 «Textilwerk W. Wichert». Im Jahre 1946
stellte die wieder erstandene tschechoslowakische Republik diese
Geschäftsunternehmung wegen deutscher Staatsangehörigkeit des Klägers unter
Nationalverwaltung. Als Inhaber der Firma blieb der Kläger eingetragen.
B Dieser hatte im Sommer 1944 zehn Kisten mit ca. 16 400 m Stoff aus
Bratislawa nach der Schweiz verbringen und in St. Gallen auf seinen Namen zu
seiner persönlichen Verfügung einlagern lassen. Aus Versehen eines
Frachtführers oder der Lagerverwaltung wurde die Prager Firma vermerkt. Diese
erfuhr von der Einlagerung und liess sich einen Lagerschein ausstellen. Sie
veräusserte vier der eingelagerten Kisten für ihre Rechnung.
C. Am 22. August 1946 unterschrieb der damals in Prag inhaftierte Kläger
folgende Erklärung: «Ich bestätige hiemit, dass ich keinerlei Anspruch erhebe
auf Waren oder deren Gegenwert, welche von der Firma W. Wichert, Textilwerk,
Praha, im Jahre 1944 nach der Schweiz gesandt und dort eingelagert wurden. Es
handelt sich um 16 424,40 m Stoffe ...Ich bestätige, dass diese Ware Eigentum
der Firma W. Wichert, v narodni sprave, Praha, ist, und diese berechtigt ist
mit dieser Ware oder deren Gegenwert zu disponieren.»
D. Nunmehr in der Schweiz wohnhaft, hat Wichert mit der am 4. März 1947 beim
Handelsgericht des Kantons St. Gallen hängig gemachten Klage gegen die Prager
Firma beantragt, es sei festzustellen, dass die noch in St. Gallen
eingelagerten sechs Kisten samt Inhalt sein persönliches Eigentum seien, und
dass er zur Verfügung über diese
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Ware berechtigt sei. Die Beklagte hat auf Abweisung der Klage angetragen.
E. Das Handelsgericht hat die Klage am 23. Februar 1948 zugesprochen.
F. Gegen dieses Urteil hat die Beklagte Berufung an das Bundesgericht
eingelegt mit dem Antrag, die streitige Ware sei als ihr Eigentum
anzuerkennen, und sie sei zur Verfügung darüber zu ermächtigen.
Das Bundesgericht zieht in Erwägung:
1. So wie der Berufungsantrag lautet, ist er neu und daher in der
bundesgerichtlichen Instanz nicht zulässig (Art. 55 Abs. 1 lit. c OG). In ihm
ist jedoch dem Sinne nach der in kantonaler Instanz gestellte Antrag auf
Klagabweisung mitenthalten. Ob solch stillschweigende Antragstellung genüge,
mag dahingestellt bleiben, da sich die vorliegende Berufung jedenfalls
sachlich als unbegründet erweist.
2. Zum Beweis des Eigentums kann sich der Kläger zunächst auf seinen Besitz
an der Ware berufen (Art. 930
SR 210 Schweizerisches Zivilgesetzbuch vom 10. Dezember 1907 ZGB Art. 930 - 1 Vom Besitzer einer beweglichen Sache wird vermutet, dass er ihr Eigentümer sei. |
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1 | Vom Besitzer einer beweglichen Sache wird vermutet, dass er ihr Eigentümer sei. |
2 | Für jeden früheren Besitzer besteht die Vermutung, dass er in der Zeit seines Besitzes Eigentümer der Sache gewesen ist. |
die Ware stamme aus den Beständen des Prager Geschäftes. Der Kläger lässt dies
nicht gelten; nach seiner Darstellung hat diese Ware, die in Bratislawa
eingelagert war, mit dem Prager Textilwerk nichts zu tun. Dieser Sachverhalt
wurde vom Handelsgericht nicht abgeklärt, weil darauf nichts ankomme. In der
Tat ist der Kläger Eigentümer der Ware, auch wenn er sie den Beständen des
Prager Geschäftes entnommen haben sollte. Er war und ist ja Eigentümer dieses
Geschäftes. Wie nach schweizerischem, so ist auch nach tschechoslowakischem
Handelsrecht die Firma des Einzelkaufmanns oder -unternehmers nur der Name,
unter dem er sein Geschäft betreibt. Diese Firma schafft kein vom Inhaber
verschiedenes Rechtssubjekt. Somit gehört dem Firmeninhaber das
Geschäftsvermögen ebenso wie sein übriges, «privates» Vermögen (Art. 15 des
tschechoslowakischen HGB. übereinstimmend mit § 17 Abs. 1
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des deutschen HGB). Demzufolge spricht auch der auf die Prager Firma
ausgestellte Lagerschein nicht gegen das Eigentum des Klägers, und ebensowenig
die vom Kläger am 22. August 1946 unterschriebene Erklärung.
3. Mit der Einsetzung einer Nationalverwaltung durch den
tschechoslowakischen Staat ist dem Kläger die Betriebsleitung und das
Verfügungsrecht über das in seinem Eigentum verbliebene Prager
Geschäftsunternehmen entzogen worden. Unter diesem Gesichtspunkte ist es von
Bedeutung, ob die streitige Ware dem fonds de commerce dieses Unternehmens
zuzuzählen sei. Es ist nicht der Fall; denn der Kläger hat die Ware im Jahre
1944 eindeutig zu seiner persönlichen Verfügung in der Schweiz einlagern
lassen, sie also, sofern sie sich zuvor im Vermögen des Prager Geschäftes
befunden haben sollte, daraus ausgeschieden. Diese Ware hätte nur durch eine
entsprechende Verfügung des Klägers wieder in den fonds de commerce des Prager
Geschäftes gelangen können. Eine solche Verfügung ist nicht ergangen. Die vom
Kläger am 22. August 1946 in der Haft zu Prag ausgestellte Erklärung wurde ihm
nach den rechtlich einwandfreien Feststellungen des Handelsgerichtes durch
Drohung mit weiterem Freiheitsentzug abgenötigt. Sie ist daher schon aus
Gründen der öffentlichen Ordnung der Schweiz als unverbindlich zu erachten,
welches auch immer die Folgen solcher Bedrohung nach dem an und für sich
anwendbaren Rechte des Erklärungsortes wären. Übrigens enthält die Erklärung
keine Verfügung, wonach die Ware wieder in das Prager Geschäftsvermögen
zurückkehren solle, sondern eine den Tatsachen widersprechende «Bestätigung»,
die den Anschein erwecken soll, als habe diese Ware sich immerfort in jenem
Geschäftsvermögen befunden.
Auch der Lagerschein, der auf die Prager Firma lautet, stellt keinen
Rechtstitel für das behauptete Verfügungsrecht der Beklagten dar. Sie hat
diesen Lagerschein nicht etwa vom Kläger erhalten, sondern von sich aus
ausstellen lassen und sich einfach den Umstand zunutze gemacht, dass
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beim Lagerhalter aus Versehen ihre Firma vermerkt worden war. Die Beklagte
darf den Lagerschein, den sie übrigens nicht vorgelegt hat, gar nicht
benutzen, sofern sie das Verfügungsrecht nicht wirklich besitzt. Dieses Recht
könnte sie mangels einer zu ihren Gunsten ergangenen Verfügung des Klägers nur
aus der Nationalverwaltung als solcher herleiten. Da aber, wie dargetan, die
streitige Ware mindestens seit ihrer Verbringung nach der Schweiz im Jahre
1944 nicht (mehr) zu diesem Geschäftsvermögen gehört, konnte die über dieses
Vermögen eingesetzte Nationalverwaltung jene Ware nicht erfassen.
4. Über die Tragweite der Nationalverwaltung fehlen allerdings bestimmte
Feststellungen. Sollte sie nach den sie beherrschenden Grundsätzen ausser dem
Geschäftsvermögen des Klägers auch sein übriges Vermögen treffen wollen, so
müsste ihr jedoch die rechtliche Wirksamkeit hinsichtlich der seit 1944 in der
Schweiz eingelagerten Ware versagt werden.
Das Eigentum an dieser Ware untersteht dem Schutze des schweizerischen
Rechtes. Nach der heute herrschenden Lehre des internationalen Privatrechtes
gilt für bewegliche gleichwie für unbewegliche Sachen des Gesetz der Ortslage
(lex rei sitae). Der Kläger war Eigentümer der streitigen Ware in der
Tschechoslowakei geworden. Dieses Eigentumsrecht ist nun auch anderwärts
anzuerkennen, insbesondere in der Schweiz, wohin er die Ware dann verbracht
hat (BGE 36 II 6, 38 II 166 und 198; SCHNITZER, Handbuch des IPR 2. Aufl. 472,
474: «Abgeschlossene Rechtsvorgänge werden respektiert, um die Kontinuität des
Rechts zu wahren»; NIBOYET, Traité de droit international privé français, t.
III no 936 ff.; t. IV no 1190 ff., bes. 1194: «De l'efficacité internationale
des droits constitués selon la lex rei sitae»). Der Inhalt des Eigentums
bestimmt sich nach dem Gesetz des jeweiligen Standortes. Der Kläger kann somit
nach Art. 641
SR 210 Schweizerisches Zivilgesetzbuch vom 10. Dezember 1907 ZGB Art. 641 - 1 Wer Eigentümer einer Sache ist, kann in den Schranken der Rechtsordnung über sie nach seinem Belieben verfügen. |
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1 | Wer Eigentümer einer Sache ist, kann in den Schranken der Rechtsordnung über sie nach seinem Belieben verfügen. |
2 | Er hat das Recht, sie von jedem, der sie ihm vorenthält, herauszuverlangen und jede ungerechtfertigte Einwirkung abzuwehren. |
Rechtsordnung nach seinem Belieben verfügen.
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In dieses Eigentum kann nun die vom tschechoslowakischen Staat angeordnete
Nationalverwaltung keineswegs eingreifen. Sie muss an den Grenzen des
verfügenden Staates ihre räumliche Schranke finden. Oeffentliches Recht eines
andern Staates ist in der Schweiz grundsätzlich nicht anwend- und vollziehbar.
Auszunehmen ist der Fall, dass die schweizerische Rechtsordnung selbst darauf
abstellen will (wie etwa in der Frage des Erwerbes eines ausländischen
Bürgerrechtes); ferner sind staatsvertragliche Bindungen vorzubehalten. Weder
das eine noch das andere steht aber hier in Frage, weshalb die
Nationalverwaltung als Massnahme des öffentlichen Rechtes der Tschechoslowakei
auf Schweizergebiet keinen Einfluss haben kann (vgl. BGE 50 II 57 und dort
angeführte Entscheidungen). Ein entsprechender Standpunkt- wird auch in andern
Staaten gegenüber öffentlichem Recht des Auslandes vertreten (vgl. MELCHIOR,
Grundlagen des deutschen IPR 130 oben und Fussnote 1, ferner 267; NEUMEYER,
Internationales Verwaltungsrecht II 56 Abs. 1; SCHINDLER, Besitzen
konfiskatorische Gesetze ausserterritoriale Wirkung?, im Schweizerischen
Jahrbuch für internationales Recht 1946 S. 65 ff., wo u.a. S. 72 das englische
Urteil erwähnt wird, das die Einziehung des Vermögens von Ex-König Alfons
durch die spanische Republik nicht für die bei einer Bank in London
hinterlegten Wertpapiere gelten liess). Die seit 1944 in der Schweiz
eingelagerte Ware ist nach alldem der ausländischen Nationalverwaltung
entzogen, auch wenn diese nicht auf das Geschäftsvermögen beschränkt worden
sein sollte.
5. Die Beklagte behauptet noch, der Kläger sei nie gültig Eigentümer des
Geschäftes der Brüder Perutz gewesen, und die Nationalverwaltung werde
möglicherweise zur Rückerstattung dieses Geschäftes an die Brüder Perutz
führen. Das steht jedoch dahin, und zu jener Einwendung ist hier nicht
Stellung zu nehmen, da die Brüder Perutz an diesem Rechtsstreite nicht
teilgenommen haben und die Beklagte auch nicht in deren Namen aufgetreten ist.
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es zur Wiedereinsetzung der Brüder Perutz in das Geschäftsvermögen kommen, so
wird ihnen unbenommen sein, alsdann den Kläger wegen der angeblich nach der
Schweiz ~ verschobenen» Ware zu belangen, sofern sie Anspruch auf diese Ware
oder auf deren Gegenwert erheben zu können glauben.
Demnach erkennt das Bundesgericht:
Die Berufung wird abgewiesen und das Urteil des Handelsgerichtes des Kantons
St. Gallen vom 23. Februar 1948 bestätigt.