BGE 73 I 241
32. Auszug aus dem Urteil vom 30. Oktober 1947 i. S. Juon gegen evang.
Schulgemeinde Balgach und Regierungsrat des Kantons St. Gallen.
Regeste:
Art. 86 Abs. 2 OG; der kantonale Instanzenzug ist vom Beschwerdeführer selbst
zu erschöpfen.
Pour pouvoir exercer le recours prévu par l'art. 86 al. 2 OJ, le recourant
doit avoir lui-même parcouru tous les degrés de juridiction cantonale.
Per proporre il ricorso previsto dall'art. 86, cp. 2, OGF, il ricorrente deve
lui stesso aver adito tutte le giurisdizioni cantonali.
A. Lehrer Luzius Juon ist durch die Schulgenossenversammlung von evangelisch
Balgach am 1. Juni 1947 als Lehrer abberufen worden. Den Gemeindebeschluss
haben verschiedene Mitglieder der Schulgemeinde gestützt
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auf Art. 35 des st. gallischen Gesetzes über die Volkswahlen und
Volksabstimmungen beim Regierungsrat des Kantons St. Gallen angefochten,
wurden aber mit Entscheid vom 20. Juni 1947 abgewiesen.
B. Mit staatsrechtlicher Beschwerde beantragen Lehrer Luzius Juan und
weitere Beschwerdeführer, den Entscheid des Regierungsrates und damit der
Schulgemeinde von evangelisch Balgach wegen Verletzung von Art. 4
SR 101 Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft vom 18. April 1999 BV Art. 4 Landessprachen - Die Landessprachen sind Deutsch, Französisch, Italienisch und Rätoromanisch. |
(willkürliche Auslegung des Erziehungsgesetzes) und Art. 31 KV (wohlerworbene
Rechte) aufzuheben.
Das Bundesgericht ist auf die Beschwerde nicht eingetreten, bezüglich des
Erstrekurrenten aus folgenden
Erwägungen:
Wegen Verletzung verfassungsmässiger Rechte der Bürger ist die
staatsrechtliche Beschwerde nach Art. 86 Abs. 2 OG - von den in Satz 2
besonders genannten, hier nicht vorliegenden Ausnahmen abgesehen - erst nach
Erschöpfung des kantonalen Instanzenzuges zulässig. Der Wortlaut der
Vorschrift lässt nicht deutlich erkennen, ob dieses Erfordernis schon erfüllt
ist, wenn überhaupt ein letztinstanzlicher Entscheid vorliegt, unbekümmert
darum, ob der Beschwerdeführer oder sonst jemand ihn erwirkt hat, oder nur
dann, wenn der Beschwerdeführer selbst die letztinstanzlich entscheidende
kantonale Behörde angerufen hat. Der Sinn der Vorschrift kann jedoch nur der
sein, dass der Beschwerdeführer selbst versucht haben müsse, die der
angefochtenen Verfügung anhaftende Rechtsverletzung zu beheben, dass er also
die staatsrechtliche Beschwerde nur anschliessen kann an einen
Rechtsmittelentscheid, den er selbst beantragt hat. Hievon ist die
Rechtsprechung des Bundesgerichtes zum aOG als von einem selbstverständlichen
Grundsatz ausgegangen, wenn sie, ohne freilich die hier gestellte Frage
besonders zu erörtern, verlangt hat, dass die Anfechtung der kantonalen
Verfügung mit einem offenstehenden kantonalen
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Rechtsmittel von demjenigen ausgegangen sein müsse, der behauptet, in seinen
verfassungsmässigen Rechten verletzt worden zu sein (BGE 36 I 381, 46 I 440,
48 I 105, 50 I 50 Erw. 1- u.a.m.). Dass es sich übrigens so verhalten muss,
ergibt sich aus dem Charakter des Rechtsbehelfs und allgemeinen prozessualen
Erwägungen. Denn es wäre nicht einzusehen, warum für die Anfechtbarkeit einer
kantonalen Verfügung mit staatsrechtlicher Beschwerde in dieser Hinsicht etwas
anderes gelten sollte als für den gewöhnlichen Prozess. Dort ist allgemein
anerkannt, dass, sofern nur eine von mehreren nebeneinander stehenden
Prozessparteien ein offenstehendes Rechtsmittel ergreift, das Urteil für die
andern in Rechtskraft erwächst, es sei denn, das Zivilrecht mache die
gemeinsame Prozessführung notwendig (LEUCH, bern. ZPO Art. 334 Note 1, Art. 36
Note 2; HAUSER und STRÄULI ZU § 320 zürch. ZPO Note 2), und dass nichts darauf
ankommt, ob die betreffende Partei es beim erstinstanzlichen Urteil bewenden
lässt, weil sie sich dabei beruhigt hat, oder ob sie glaubt, ihre Ansprüche im
Anschluss an den von Dritten erstrittenen Rechtsmittelentscheid wiederum
geltend machen zu können. Anders könnte es sich bei der staatsrechtlichen
Beschwerde nur verhalten, wenn der Rechtsmittelentscheid für den
Beschwerdeführer eine neue Verfügung, die ihn in seiner Rechtsstellung
berühren würde, einen neuen Entscheid in der Sache enthielte, der an die
Stelle des erstinstanzlichen träte und ihn ersetzte. Denn dann läge ein
Hoheitsakt vor, an den die Beschwerde wieder angeschlossen werden könnte,
nicht nur von einer Partei, die bereits durch eine erstinstanzliche Verfügung
betroffen war, sondern auch von jemandem, der am Rechtsmittel-Verfahren nicht
teilgenommen hatte, vom neuen Entscheid aber rechtlich betroffen wird (BGE 48
I 45, 59 I 199, 63 I 229 Erw. 2; Urteile vom 15. Juni 1934 i. S. S.-A. Hôtel
de la Couronne und vom 14. November 1946 i. S. Apotheke Mitlödi Dr. Schäppi
A.-G.).
Der angefochtene Entscheid des Regierungsrates ist
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auf Kassationsbeschwerde, d. h. auf ein ausserordentliches Rechtsmittel hin
ergangen, das den Nichtigkeitsklägern in ihrer Eigenschaft als
stimmberechtigten Gemeindebürgern zustand, die damit nicht Interessen des
betroffenen Lehrers, sondern staatsbürgerliche Interessen wahrgenommen haben.
Beim Fehlen gegenteiliger gesetzlicher Bestimmungen geht aber der Entscheid
einer Kassationsinstanz bloss auf Aufhebung, tritt ihr Urteil, auch im Falle
der Gutheissung, nicht an die Stelle des angefochtenen Entscheides. Das
schliesst es nach dem Ausgeführten aus, dass derjenige, der in diesem
Verfahren nicht als Partei auftrat, die staatsrechtliche Beschwerde gegen den
erstinstanzlichen Entscheid daran anknüpfen könnte. Dass ihm der
Rechtsmittelentscheid ebenfalls zugestellt wird, ändert hieran nichts, vermag,
wenn im übrigen objektive oder subjektive Voraussetzungen für die
staatsrechtliche Beschwerde fehlen, das Recht dazu nicht wieder entstehen zu
lassen.
Da Lehrer Juon den Gemeindebeschluss nicht angefochten hat, kann auf die
staatsrechtliche Beschwerde, soweit sie von ihm geführt wird, mangels
Erschöpfung des kantonalen Instanzenzuges, nicht eingetreten werden.
Vgl. auch Nr. 28, 29 und 31. - Voir aussi nos 28, 29 et 31.