S. 307 / Nr. 46 Prozessrecht (d)

BGE 72 II 307

46. Urteil der I. Zivilabteilung vom 19. Juni 1946 i. .S Müller und Grögli
gegen Gisler.

Regeste:
Art. 68 Abs. 1 lit. a OG.
«Zivilsache» im Sinne dieser Bestimmung.
Bundesrechtswidrige kantonale Prozessvorschrift.
Art 68 al. 1 lettre a OJ.
«Affaire civile» dans le sens de cette disposition.
Disposition de procédure cantonale contraire au droit fédéral.
Art. 68, cp. 1 lett. a OGF.
«Procedimento civile» ai sensi di questa disposizione.
Norma di procedura cantonale contraria al diritto federale.

A. ­ Im März 1942 liess ein gewisser Henri Kübler bei der Buchdruckerei Müller
und Grögli in Winterthur-Wülflingen ein Flugblatt drucken, das sich auf die
bevorstehenden Gemeinderatswahlen in Flaach bezog, und für dessen Inhalt er
schriftlich die Verantwortung übernahm. Die Publikation hatte einen von Arnold
Gisler in Flaach angestrengten Ehrverletzungsprozess zur Folge. Kübler wurde
wegen übler Nachrede zu einem Monat Gefängnis verurteilt und verpflichtet, die
Verfahrenskosten zu tragen sowie dem Strafkläger eine Entschädigung von Fr.
2260.25

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zu zahlen. Gisler setzte diese Forderung in Betreibung. Er erhielt einen
definitiven Verlustschein über Fr. 2010.80.
B. ­ Nunmehr belangte Gisler gestützt auf § 308 a der zürcherischen StPO die
Firma Müller und Grögli als Druckerin des Flugblattes für den von Kübler nicht
gedeckten Entschädigungsbetrag. Die Klage wurde vom Bezirksgericht Winterthur
mit Urteil vom 13. Dezember 1944, vom Obergericht des Kantons Zürich mit
Urteil vom 23. Februar 1945 gutgeheissen.
C - Die Beklagte reichte beim Bundesgericht eine zivilrechtliche
Nichtigkeitsbeschwerde im Sinne von Art. 68 Abs. 1 lit. a OG ein. Gleichzeitig
machte sie beim Kassationsgericht des Kantons Zürich eine Kassationsbeschwerde
anhängig. Diese blieb erfolglos. Vor Bundesgericht beantragt die Beklagte, das
angefochtene Urteil sei aufzuheben und die Sache zu neuer Entscheidung an die
Vorinstanz zurückzuweisen. Zur Begründung wird vorgebracht, § 308 a StPO des
Kantons Zürich widerspreche dem Bundesrecht. Der Kläger schliesst auf
Bestätigung des kantonalen Erkenntnisses. Das Obergericht Zürich verzichtet
auf Vernehmlassung.
Das Bundesgericht zieht in Erwägung:
1. ­ Für eine strafbare Handlung, die durch das Mittel der Druckerpresse
begangen wird und sich in dem Presseerzeugnis erschöpft, ist dem Grundsatze
nach der Verfasser allein verantwortlich (Art. 27 Abs. 1
SR 311.0 Schweizerisches Strafgesetzbuch vom 21. Dezember 1937
StGB Art. 27 - Besondere persönliche Verhältnisse, Eigenschaften und Umstände, welche die Strafbarkeit erhöhen, vermindern oder ausschliessen, werden bei dem Täter oder Teilnehmer berücksichtigt, bei dem sie vorliegen.
StGB). Kann indessen
bei nicht periodischen Druckschriften der Verfasser nicht ermittelt werden,
oder hat die Veröffentlichung ohne sein Wissen oder gegen seinen Willen
stattgefunden, so ist der Verleger, und wenn ein solcher fehlt, der Drucker
als Täter strafbar (Art. 27 Abs. 2
SR 311.0 Schweizerisches Strafgesetzbuch vom 21. Dezember 1937
StGB Art. 27 - Besondere persönliche Verhältnisse, Eigenschaften und Umstände, welche die Strafbarkeit erhöhen, vermindern oder ausschliessen, werden bei dem Täter oder Teilnehmer berücksichtigt, bei dem sie vorliegen.
StGB). Hieran anknüpfend bestimmt § 308 a
StPO des Kantons Zürich:
«Für die Prozesskosten und die Prozessentschädigungen, welche von dem
Verurteilten nicht erhältlich sind, haften die ihm nachgehenden Personen
subsidiär nach Massgabe des Art. 27
SR 311.0 Schweizerisches Strafgesetzbuch vom 21. Dezember 1937
StGB Art. 27 - Besondere persönliche Verhältnisse, Eigenschaften und Umstände, welche die Strafbarkeit erhöhen, vermindern oder ausschliessen, werden bei dem Täter oder Teilnehmer berücksichtigt, bei dem sie vorliegen.


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des StGB. Dem Zahlenden steht der Rückgriff auf den ihm vorangehenden
Haftpflichtigen zu.»
Die Vorschrift fand sich in ähnlicher Form in § 239 des frühern zürcherischen
StGB. Sie wurde anlässlich der Anpassung des kantonalen Verfahrensrechts an
das schweizerische StGB der StPO eingefügt
2. ­ Gemäss Art. 68
SR 311.0 Schweizerisches Strafgesetzbuch vom 21. Dezember 1937
StGB Art. 27 - Besondere persönliche Verhältnisse, Eigenschaften und Umstände, welche die Strafbarkeit erhöhen, vermindern oder ausschliessen, werden bei dem Täter oder Teilnehmer berücksichtigt, bei dem sie vorliegen.
OG ist die Nichtigkeitsbeschwerde zulässig gegen
letztinstanzliche, der Berufung nicht unterliegende kantonale Entscheide «in
Zivilsachen». Eine Zivilsache ist gegeben, wenn das dem Entscheid zu Grunde
liegende Streitverhältnis dem Zivilrecht angehört (BGE 62 II 355). Und diese
Voraussetzung ist verwirklicht, sobald ein Streit richtigerweise nach
eidgenössischem Zivilrecht zu beurteilen gewesen wäre, gleichgültig, ob
kantonales Privatrecht oder kantonales öffentliches Recht statt Bundesrecht
angewendet wurde (BGE 63 II 399, 60 II 487, 51 I 279). Somit kann mit der
Nichtigkeitsbeschwerde geltend gemacht werden, eine kantonale
Prozessbestimmung greife in den dem schweizerischen Gesetzgeber vorbehaltenen
Bereich des Obligationenrechtes ein und habe keine Anwendung finden dürfen.
3. ­ Am Strafverfahren gegen den Verfasser eines Presseerzeugnisses ist der
Drucker nicht beteiligt. Deshalb können ihm auch nach zürcherischem Recht im
Strafurteil keine Kosten überbunden werden. Er muss für diese, oder für einen
Teil davon in einem neuen Verfahren, das sich in den Formen des Zivilprozesses
abwickelt, belangt werden, nachdem gegenüber dem Verfasser die
Uneinbringlichkeit der Forderung festgestellt ist. Damit aber ist dargetan,
dass gegen den Drucker nicht ein strafprozessualer Anspruch durchgesetzt wird,
weil er eben gar nicht in einem strafrechtlichen Verhältnis zum Verletzten
steht. Vielmehr handelt es sich einfach um die Geltendmachung eines
verselbständigten einzelnen Schadenspostens, das heisst eines Teiles des
Schadens, der dem durch das Presseerzeugnis Angegriffenen erwachsen ist. Und
ob der Drucker dergestalt zum Ersatz herangezogen werden kann, ist eine

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Frage des eidgenössischen Privatrechtes (Art. 41 ff
SR 220 Erste Abteilung: Allgemeine Bestimmungen Erster Titel: Die Entstehung der Obligationen Erster Abschnitt: Die Entstehung durch Vertrag
OR Art. 41 - 1 Wer einem andern widerrechtlich Schaden zufügt, sei es mit Absicht, sei es aus Fahrlässigkeit, wird ihm zum Ersatze verpflichtet.
1    Wer einem andern widerrechtlich Schaden zufügt, sei es mit Absicht, sei es aus Fahrlässigkeit, wird ihm zum Ersatze verpflichtet.
2    Ebenso ist zum Ersatze verpflichtet, wer einem andern in einer gegen die guten Sitten verstossenden Weise absichtlich Schaden zufügt.
. OR; BGE 53 I 388).
Es liegt also unzweifelhaft eine Zivilsache vor. Die weiteren in Art. 68
SR 311.0 Schweizerisches Strafgesetzbuch vom 21. Dezember 1937
StGB Art. 27 - Besondere persönliche Verhältnisse, Eigenschaften und Umstände, welche die Strafbarkeit erhöhen, vermindern oder ausschliessen, werden bei dem Täter oder Teilnehmer berücksichtigt, bei dem sie vorliegen.
OG
für die Zulässigkeit der Nichtigkeitsbeschwerde gesetzten Bedingungen
(letztinstanzliches und der Berufung nicht unterliegendes kantonales Urteil)
sind erfüllt. Auf die Rechtsvorkehr ist daher einzutreten. Ihr Schicksal hängt
nur davon ab, ob § 308 a StPO des Kantons Zürich neben Art. 41 ff
SR 220 Erste Abteilung: Allgemeine Bestimmungen Erster Titel: Die Entstehung der Obligationen Erster Abschnitt: Die Entstehung durch Vertrag
OR Art. 41 - 1 Wer einem andern widerrechtlich Schaden zufügt, sei es mit Absicht, sei es aus Fahrlässigkeit, wird ihm zum Ersatze verpflichtet.
1    Wer einem andern widerrechtlich Schaden zufügt, sei es mit Absicht, sei es aus Fahrlässigkeit, wird ihm zum Ersatze verpflichtet.
2    Ebenso ist zum Ersatze verpflichtet, wer einem andern in einer gegen die guten Sitten verstossenden Weise absichtlich Schaden zufügt.
. OR Bestand
hat. Das ist zu verneinen. Nach der verfassungsmässigen Abgrenzung der
Staatshoheit zwischen dem Bund und den Kantonen (Art. 3
SR 101 Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft vom 18. April 1999
BV Art. 3 Kantone - Die Kantone sind souverän, soweit ihre Souveränität nicht durch die Bundesverfassung beschränkt ist; sie üben alle Rechte aus, die nicht dem Bund übertragen sind.
und 64
SR 101 Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft vom 18. April 1999
BV Art. 64 Forschung - 1 Der Bund fördert die wissenschaftliche Forschung und die Innovation.30
1    Der Bund fördert die wissenschaftliche Forschung und die Innovation.30
2    Er kann die Förderung insbesondere davon abhängig machen, dass die Qualitätssicherung und die Koordination sichergestellt sind.31
3    Er kann Forschungsstätten errichten, übernehmen oder betreiben.
BV, Art. 2
SR 101 Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft vom 18. April 1999
BV Art. 2 Zweck - 1 Die Schweizerische Eidgenossenschaft schützt die Freiheit und die Rechte des Volkes und wahrt die Unabhängigkeit und die Sicherheit des Landes.
1    Die Schweizerische Eidgenossenschaft schützt die Freiheit und die Rechte des Volkes und wahrt die Unabhängigkeit und die Sicherheit des Landes.
2    Sie fördert die gemeinsame Wohlfahrt, die nachhaltige Entwicklung, den inneren Zusammenhalt und die kulturelle Vielfalt des Landes.
3    Sie sorgt für eine möglichst grosse Chancengleichheit unter den Bürgerinnen und Bürgern.
4    Sie setzt sich ein für die dauerhafte Erhaltung der natürlichen Lebensgrundlagen und für eine friedliche und gerechte internationale Ordnung.
Üb.
Best. zur BV) steht jenem die ausschliessliche Gesetzgebungskompetenz auf dem
ganzen Gebiet des Zivilrechtes zu. Die Anwendung kantonaler Privatrechtsnormen
ist nur möglich, soweit der eidgenössische Gesetzgeber sie ausdrücklich
vorbehalten hat. Einen solchen Vorbehalt kennen die Art. 41 ff
SR 220 Erste Abteilung: Allgemeine Bestimmungen Erster Titel: Die Entstehung der Obligationen Erster Abschnitt: Die Entstehung durch Vertrag
OR Art. 41 - 1 Wer einem andern widerrechtlich Schaden zufügt, sei es mit Absicht, sei es aus Fahrlässigkeit, wird ihm zum Ersatze verpflichtet.
1    Wer einem andern widerrechtlich Schaden zufügt, sei es mit Absicht, sei es aus Fahrlässigkeit, wird ihm zum Ersatze verpflichtet.
2    Ebenso ist zum Ersatze verpflichtet, wer einem andern in einer gegen die guten Sitten verstossenden Weise absichtlich Schaden zufügt.
. OR nicht.
Deshalb kann § 308 a der zürcherischen StPO für den Entscheid im
Streitverhältnis der Parteien nicht massgebend sein. Die Besonderheit, dass
die Bestimmung in einem an sich öffentlichrechtlichen Gesetz enthalten ist,
vermag ihr keine Geltung zu verschaffen. Denn obgleich die Kantone in ihren
öffentlichrechtlichen Befugnissen durch das Bundeszivilrecht nicht
eingeschränkt sind, dürfen sie doch für den von diesem geordneten Bereich nur
mit öffentlich-rechtlichen Mitteln und ohne Änderung des Zivilrechtes
legiferieren. Gegenteiliges käme der Aufstellung eigener Rechtssätze
privatrechtlichen Inhaltes gleich (BGE 70 II 224, 65 I 80, 64 I 27, 63 I 173).
Gerade das aber ist geschehen mit dem Erlass einer Prozessvorschrift, welche
neben dem verurteilten Verfasser eines Presseerzeugnisses für die diesem
auferlegten Kosten und Entschädigungen den am Strafverfahren nicht beteiligten
und strafrechtlich überhaupt nicht fassbaren Drucker, unabhängig von der Frage
seiner Verantwortlichkeit im Sinne der Art. 41 ff
SR 220 Erste Abteilung: Allgemeine Bestimmungen Erster Titel: Die Entstehung der Obligationen Erster Abschnitt: Die Entstehung durch Vertrag
OR Art. 41 - 1 Wer einem andern widerrechtlich Schaden zufügt, sei es mit Absicht, sei es aus Fahrlässigkeit, wird ihm zum Ersatze verpflichtet.
1    Wer einem andern widerrechtlich Schaden zufügt, sei es mit Absicht, sei es aus Fahrlässigkeit, wird ihm zum Ersatze verpflichtet.
2    Ebenso ist zum Ersatze verpflichtet, wer einem andern in einer gegen die guten Sitten verstossenden Weise absichtlich Schaden zufügt.
. OR, als subsidiär haftbar
erklärt.

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Demnach erkennt das Bundesgericht:
Die Nichtigkeitsbeschwerde wird gutgeheissen, das angefochtene Urteil
aufgehoben und die Sache zu neuer Entscheidung im Sinne der Motive an die
Vorinstanz zurückgewiesen.
Decision information   •   DEFRITEN
Document : 72 II 307
Date : 01. Januar 1946
Published : 18. Juni 1946
Source : Bundesgericht
Status : 72 II 307
Subject area : BGE - Zivilrecht
Subject : Art. 68 Abs. 1 lit. a OG.«Zivilsache» im Sinne dieser Bestimmung.Bundesrechtswidrige kantonale...


Legislation register
BV: 2  3  64
OG: 68
OR: 41
StGB: 27
BGE-register
51-I-272 • 53-I-380 • 60-II-483 • 62-II-354 • 63-I-167 • 63-II-397 • 64-I-16 • 65-I-65 • 70-II-221 • 72-II-307
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