BGE 69 II 102
18. Urteil der I. Zivilabteilung vom 2. März 1943 i. S. Leuppi gegen
Rüttimann.
Regeste:
Rechtsmissbräuchliche Erhebung einer Verjährungseinrede, Art. 2
SR 210 Schweizerisches Zivilgesetzbuch vom 10. Dezember 1907 ZGB Art. 2 - 1 Jedermann hat in der Ausübung seiner Rechte und in der Erfüllung seiner Pflichten nach Treu und Glauben zu handeln. |
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1 | Jedermann hat in der Ausübung seiner Rechte und in der Erfüllung seiner Pflichten nach Treu und Glauben zu handeln. |
2 | Der offenbare Missbrauch eines Rechtes findet keinen Rechtsschutz. |
Rechtsmissbrauch ist von Amtes wegen zu berücksichtigen.
Rechtsmissbräuchlich ist die Verjährungseinrede nur, wenn das Verhalten des
Schuldners, durch das sich der Gläubiger von der rechtzeitigen Geltendmachung
seines Anspruchs hat abhalten lassen, seiner Art nach geeignet war, diesen
Erfolg herbeizuführen.
Abus du moyen tiré de la prescription, art. 2 CC.
Le juge redresse d'office l'abus du droit.
Le moyen de la prescription n'est abusif que lorsque le comportement du
débiteur, en raison duquel le créancier n'a pas exercé son droit à temps,
était en soi propre à produire ce résultat.
Abuso dell'eccezione di prescrizione, art. 2 CC.
Il giudice deve tener conto d'ufficio dell'abuso di diritto.
L'eccezione di prescrizione è abusiva soltanto se l'atteggiamento del
debitore, a motivo del quale il creditore non ha fatto valere a tempo il suo
diritto, era in sè atto a produrre questo risultato.
Aus dem Tatbestand:
Der Kläger Rüttimann machte auf Grund eines formungültigen Kaufvorvertrages
über eine Liegenschaft dem Beklagten Leuppi im Mai 1939 eine Anzahlung an den
Kaufpreis, die er in der Folge wiederholt, letztmals im
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Mai 1940, zurückverlangte. Leuppi anerkannte die Schuld, erklärte sich aber
zur Rückgabe des Geldes ausser Stande, da er es nicht mehr besitze. Im Juni
1941 betrieb Rüttimann den Leuppi auf Rückgabe des Geldes; Leuppi erhob
Rechtsvorschlag, worauf Rüttimann Klage einreichte. Der Beklagte erhob die
Einrede der Verjährung.
Das Bezirksgericht Muri und das Obergericht des Kantons Aargau nahmen an, dass
der Bereicherungsanspruch des Klägers auf Rückgabe der Anzahlung an sich zwar
verjährt sei, wiesen aber die vom Beklagten erhobene Verjährungseinrede als
rechtsmissbräuchlich zurück.
Das Bundesgericht heisst die Berufung des Beklagten gut und schützt die
Einrede der Verjährung auf Grund der folgenden
Erwägung:
4. Die Vorinstanz hat die Verjährungseinrede des Beklagten als
rechtsmissbräuchlich zurückgewiesen.
Zu Unrecht glaubt der Beklagte dem entgegenhalten zu können, dass der Kläger
das Vorliegen eines Rechtsmissbrauches gar nicht behauptet habe. Denn
abgesehen davon, dass sich der Kläger tatsächlich auf Art. 2 Abs. 2
SR 210 Schweizerisches Zivilgesetzbuch vom 10. Dezember 1907 ZGB Art. 2 - 1 Jedermann hat in der Ausübung seiner Rechte und in der Erfüllung seiner Pflichten nach Treu und Glauben zu handeln. |
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1 | Jedermann hat in der Ausübung seiner Rechte und in der Erfüllung seiner Pflichten nach Treu und Glauben zu handeln. |
2 | Der offenbare Missbrauch eines Rechtes findet keinen Rechtsschutz. |
berufen hat (Kant. Dossier S. 45 unten), wäre ein allfälliger Rechtsmissbrauch
von Amteswegen zu berücksichtigen, da Art. 2 Abs. 2
SR 210 Schweizerisches Zivilgesetzbuch vom 10. Dezember 1907 ZGB Art. 2 - 1 Jedermann hat in der Ausübung seiner Rechte und in der Erfüllung seiner Pflichten nach Treu und Glauben zu handeln. |
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1 | Jedermann hat in der Ausübung seiner Rechte und in der Erfüllung seiner Pflichten nach Treu und Glauben zu handeln. |
2 | Der offenbare Missbrauch eines Rechtes findet keinen Rechtsschutz. |
Ordnung und Sittlichkeit willen aufgestellt worden ist (BGE 38 II 463 40 II
344).
Als rechtsmissbräuchlich bezeichnet die Vorinstanz die Erhebung der
Verjährungseinrede durch den Beklagten deshalb, weil er durch seine
wiederholten Zahlungsversprechen beim Kläger den Glauben erweckt habe, dass
ein gerichtliches Vorgehen nicht nötig sei.
Nun ist allerdings richtig, dass nach der in Rechtsprechung und Schrifttum
sowohl zum schweizerischen wie auch zum deutschen Recht allgemein anerkannten
Auffassung die Einrede der Verjährung schon dann als gegen Treu und Glauben
verstossend zu betrachten ist, wenn der Schuldner durch sein Verhalten beim
Gläubiger die
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Meinung erweckt hat, eine Klage oder Betreibung sei nicht notwendig. Dass der
Schuldner den Gläubiger von der rechtzeitigen Geltendmachung seiner Ansprüche
abgehalten hat in der böswilligen Absicht, ihm nachher die eingetretene
Verjährung entgegenzuhalten, ist dagegen nicht erforderlich (BGE 42 II 682, 46
II 93, 49 II 321, 64 II 289; vgl. auch v. TUHR OR II S. 620; Kommentar
Warneyer zu § 202 BGB und dort erwähnte Entscheidungen des Reichsgerichts).
Allein nicht jedes Verhalten des Schuldners, das vielleicht auf die Säumnis
des Gläubigers einen gewissen Einfluss ausgeübt hat, vermag die Einrede des
Rechtsmissbrauches zu rechtfertigen. Erforderlich ist vielmehr ein Verhalten,
das seiner Art nach geeignet war, den Gläubiger an der rechtzeitigen Wahrung
seiner Rechte zu hindern. Es muss nach verständigem Ermessen, auch bei
Anlegung eines objektiven Massstabes, als verständlich erscheinen, dass der
Gläubiger durch das Verhalten des Schuldners dazu bewogen wurde, von der
Verfolgung seines Anspruches auf dem Rechtsweg abzusehen. Dies bedeutet
keineswegs ein Abweichen von der bisherigen Rechtsprechung. Denn soweit dort
die Einrede der Verjährung bezw. Verwirkung trotz Fehlen einer Arglist als
rechtsmissbräuchlich betrachtet wurde (BGE 46 II 93, 49 II 321), wies das
Verhalten der betreffenden Schuldner die oben als erforderlich bezeichneten
Eigenschaften auf. Es handelte sich in beiden Fällen um Vaterschaftsbeklagte,
die zunächst die Vaterschaft anerkannt und dadurch die Gegenpartei von einer
Klageerhebung abgehalten hatten, hernach aber, als die Anerkennung sich wegen
Formmangels als ungültig herausstellte, sich auf die Versäumung der
einjährigen Klagefrist beriefen. Die wenn auch formungültige Anerkennung der
Vaterschaft war aber zweifellos ein Verhalten, das objektiv geeignet war, die
Anspruchsberechtigten von der gerichtlichen Geltendmachung ihrer Ansprüche
abzuhalten.
Von einem solchen Verhalten des Beklagten kann indes im vorliegenden Fall
nicht die Rede sein. Er hat auf die
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Mahnung des Klägers hin lediglich mehrmals, zuletzt im Mai 1940, die Rückgabe
der Anzahlung versprochen, aber dazu bemerkt, dass er zur Zeit über die Mittel
hiefür nicht verfüge. Darin lag, wie bereits bemerkt, wohl eine
verjährungsunterbrechende Schuldanerkennung, aber nichts weiteres. Selbst wenn
der Kläger aus der Bemerkung des Beklagten, dass ihm die Mittel zur
Begleichung der Schuld fehlten, den Schluss zog, dass eine Betreibung in jenem
Zeitpunkt zu keinem Ergebnis führen würde, so durfte ihn dies bei objektiver
Betrachtung der Verhältnisse doch nicht veranlassen, ein volles Jahr mit der
Geltendmachung seines Anspruches zuzuwarten und die Verjährungsfrist
verstreichen zu lassen. Gegenteils besteht auch in kleinen Verhältnissen, wie
sie hier vorliegen, beim Ausbleiben einer Zahlung innert angemessener Frist
trotz solcher Versprechungen des Schuldners für den Gläubiger aller Anlass,
seine Rechte zu wahren. Dies darf ihm um so eher zugemutet werden, als nach
dem schweizerischen Recht die blosse Zustellung eines Zahlungsbefehles genügt,
um die Verjährung zu unterbrechen.
Anders wäre zu entscheiden, wenn der Beklagte den Kläger ausdrücklich ersucht
hätte, mit Massnahmen gegen ihn zuzuwarten und gleichzeitig versprochen hätte,
das Geld bis zu einem bestimmten Termin nach Ablauf der einjährigen
Verjährungsfrist zurückzuerstatten. Dann dürfte ohne Zweifel gesagt werden,
das Verhalten des Beklagten habe den Kläger nach vernünftigem Ermessen zum
Zuwarten zu bestimmen vermocht.
Wollte man dagegen in einem Falle wie dem vorliegenden die Einrede des
Rechtsmissbrauches gelten lassen, so würde die Verjährung zum grossen Teil
ihrer Wirkung beraubt und die Nachlässigkeit des Gläubigers in nicht
vertretbarer Weise begünstigt. Es besteht für das Verkehrsleben aber kein
rechtsschutzwürdiges Interesse, in solchen Fällen zu Gunsten des Gläubigers
einen Rechtsmissbrauch anzunehmen. Die Anwendung des formalen Rechtes ist
vielmehr nur dann zu verweigern, wenn der
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Rechtsmissbrauch offenbar ist, nicht auch im Zweifelsfall und nicht da, wo die
vernünftige Überlegung im allgemeinen nicht dazu führt. die Rechtswahrung zu
unterlassen.