458 A. Oberste Zivilgerichtsinstanz. [. Materiellrechtliche
Entscheidungen.

hierüber kann offengelassen bleiben, weil auch bei Anwendung des neuen
Rechtes eine Ungiltigkeit der Servitut wegen Verletzung des Art. 730
Abs. 2 hier nicht anzunehmen ist. Beim Entscheid darüber, ob die
Handlung, die in casu neben anderem den Gegenstand der Servitut bildet,
nur nebensächlich mit der Grunddienstbarkeit verbunden sei, kommt es
nicht auf die ökonomische Bedeutung dieser Handlung für die Parteien an;
das Gesetz will vielmehr Handlungen überall als Gegenstand der Servitnt
zulassen, wo sie neben den in Art. 730 Abs. 1
SR 210 Schweizerisches Zivilgesetzbuch vom 10. Dezember 1907
ZGB Art. 730 - 1 Ein Grundstück kann zum Vorteil eines andern Grundstückes in der Weise belastet werden, dass sein Eigentümer sich bestimmte Eingriffe des Eigentümers dieses andern Grundstückes gefallen lassen muss oder zu dessen Gunsten nach gewissen Richtungen sein Eigentumsrecht nicht ausüben darf.
1    Ein Grundstück kann zum Vorteil eines andern Grundstückes in der Weise belastet werden, dass sein Eigentümer sich bestimmte Eingriffe des Eigentümers dieses andern Grundstückes gefallen lassen muss oder zu dessen Gunsten nach gewissen Richtungen sein Eigentumsrecht nicht ausüben darf.
2    Eine Verpflichtung zur Vornahme von Handlungen kann mit der Grunddienstbarkeit nur nebensächlich verbunden sein. Für den Erwerber des berechtigten oder belasteten Grundstücks ist eine solche Verpflichtung nur verbindlich, wenn sie sich aus dem Eintrag im Grundbuch ergibt.619
ZGB genannten Gegenständen
(Eigentu1nseiugrisfe und Ausübungseinschräukungen) auftreten (vgl. im
gleichen Sinn die deutsche Praxis, S iandinger, Kommentar § 1018 H
2 a). Im vorliegenden Fall besteht die von der Vorinstanz angenommene
Verpflichtung zur Bereitstellung der Eisenbahnwagen nur neben derjenigen
der Duldung einer libersahrt des Berechtigteu aus einem Hilssgeleise
über das Simonsgebiet und ist daher nach Art. 730 Abs. 2
SR 210 Schweizerisches Zivilgesetzbuch vom 10. Dezember 1907
ZGB Art. 730 - 1 Ein Grundstück kann zum Vorteil eines andern Grundstückes in der Weise belastet werden, dass sein Eigentümer sich bestimmte Eingriffe des Eigentümers dieses andern Grundstückes gefallen lassen muss oder zu dessen Gunsten nach gewissen Richtungen sein Eigentumsrecht nicht ausüben darf.
1    Ein Grundstück kann zum Vorteil eines andern Grundstückes in der Weise belastet werden, dass sein Eigentümer sich bestimmte Eingriffe des Eigentümers dieses andern Grundstückes gefallen lassen muss oder zu dessen Gunsten nach gewissen Richtungen sein Eigentumsrecht nicht ausüben darf.
2    Eine Verpflichtung zur Vornahme von Handlungen kann mit der Grunddienstbarkeit nur nebensächlich verbunden sein. Für den Erwerber des berechtigten oder belasteten Grundstücks ist eine solche Verpflichtung nur verbindlich, wenn sie sich aus dem Eintrag im Grundbuch ergibt.619
ZGB nicht
zu beanstanden.

3. Was sodann die von der Beklagten angerufenen eidgenössischen
Eisenbahnspezialgesetze betrifft, so stehen sie der streitigeu
Dienstbarkeit ebenfalls nicht im Wege Wie das Bundesgericht schon früher
erkannt hat (AS 26 II S. 11 und 1Li, ist der Eisenbahnkörper in Bezug
auf Diensibarteiten, die daran erworben werden könnten, nur insofern dem
kantonalen Recht entzogen, als eine Ersitznng solcher Dienstbarkeiten
Unmöglich ist. Hingegen schliesst die öffentliche Zweckbestimmung des
Bahnareals nicht aus, dass, wie im vorliegenden Fall, die Bahnbehörden
selbst dingliche Rechte an der öffentlichrechtlichen Sache bestellen. Die
Beklagte hat sich daher in ihrem heutigen Vortrag mir Recht auf das
Bundesgesetz über die Verbindlichkeit zur Abtretung von Privatrechten
vom 1. Mai 1850 nicht mehr berufen. Sie kann dem Kläger aber auch nicht
Art. 14 des Bundesgesetzes über den Bau und Betrieb der Eisenbahneu
vom 23. Dezember 1872 entgegenhalten Wenn *.*-(rt. 14 dieses Gesetzes
bestimmt, dass die Baupläne für das Trace, für die Statiouen samt deren
Einrichtung, sowie für sämtliche grösseren Bauobjekte, einschliesslich
der wichtigeren Hochbante11. dein Bundesrat zur Genehmigung vorzulegen
sind, so enthält er eine im Interesse des Bahnbetriebes aufgestellte
öffentlichrechtliche Vor-3. Sachenrecht. N° 73. 459

schrift, die die zivilrechtliche Giltigkeit eines dinglichen Rechtes,
wenn es selbst unter Verletzung dieser Bestimmung entstanden wäre, nicht
beeinflussen Tami. fiberdies würde es gegen die gute Treue verstossen,
wenn diejenige Partei (die Bundesbahnen als Rechtsnachfolgerin der
Bern-Luzern-Bahn), die in erster Linie dazu da gewesen wäre, die
Genehmigung des Bundesrates einzuholen, sich darauf berufen könnte,
dass dies nicht geschehen sei und auf diese Weise der Notwendigkeit
enthoben wurde, die ihr Unbequem gewordene Dienstbarkeit enteignen zu
müssen. Das gleiche gilt auch von Art. 2 des Bundesgesetzes über die
Verbindungsgeleise vom 19. Dezember 1874.

4. Hat aber die Vorinstanz darüber, ob die Beklagte das Recht des Klägers
anzuerkennen habe, endgültig entschieden, so entzieht sich auch die damit
zusammenhängende Schadenersatzfrage der Überpriifung des Bundesgerichts.

Demnach hat das Bundesgericht erkannt:

Die Berufung wird abgewiesen und das Urteil des Obergerichts des Kantons
Luzern vom 29. Mai 1912 bestätigt

73. Zitteil der II. Zivilabteitnng vom 6. Vereint-et 1912 in Sachen
Wällen Kl. u. Ver.-KL, gegen goffietter, Bekl. u. Ber.-Bekl·

i. Die in Art. 33
SR 210 Schweizerisches Zivilgesetzbuch vom 10. Dezember 1907
ZGB Art. 33 - 1 Der Beweis für die Geburt oder den Tod einer Person wird mit den Zivilstandsurkunden geführt.
1    Der Beweis für die Geburt oder den Tod einer Person wird mit den Zivilstandsurkunden geführt.
2    Fehlen solche oder sind die vorhandenen als unrichtig erwiesen, so kann der Beweis auf andere Weise erbracht werden.
Scth ZGB vorbehaläene Gèeichstellung altrecleèlicher
Grundpfande'eclzte mit kleine-eigen des nein-n Rechtes bezéeht 3581;
mer auf zukünftige Tatsachen, nicht auf eine eminedem alten Becki
eingetreten-e K ündigemg des _(yremdversickertm Durie/ceres.

2. Art. 2 Abs. 1
SR 210 Schweizerisches Zivilgesetzbuch vom 10. Dezember 1907
ZGB Art. 2 - 1 Jedermann hat in der Ausübung seiner Rechte und in der Erfüllung seiner Pflichten nach Treu und Glauben zu handeln.
1    Jedermann hat in der Ausübung seiner Rechte und in der Erfüllung seiner Pflichten nach Treu und Glauben zu handeln.
2    Der offenbare Missbrauch eines Rechtes findet keinen Rechtsschutz.
ZGB entluifèt alech eineWeisueeg an den Richter, die
Hechiseerhdltnisse der Parteien nach Treu and Glauben zu beurteilen:
er gehört zu den um der öffentlichen Ordnung willen gli/gestellten
Bestimmungen (Scth 2).

A. Der Beklagte schuldet dem Kläger laut einer Hypothekenobligation vom
20. Januar 1911 70,000 Fr über deren Verzinsung und Kündbarkeit folgendes
siipuliert worden war:

As 38 ll _ 1912 Si')

460 A. Oberste Zivilgerichtsinstanz. [. Materîeltrechfliche
Entscheidungen.

Der Debitor verpflichtet sich, das Kapital von 70,000 Fr. vierteljährlich
auf den 1. Januar, 1. April, 1. Juli und 1. Oktoher jeweilen mit 875
Fr. zu verzinsen.

Bei richtiger, h. h. innert 4 Wochen erfolgender Verzinsung bleibt das
Kapital kreditorischerseits bis 1. Oktober 1918 fest und unkündbar.

Nach Ablauf dieser Frist steht beiden Teilen das Recht zu, das Kapital
jederzeit auf drei Monate zur Rückzahlung zu kündigen

Im Juni und Juli 1911 bezog der Kläger vom Beklagten verschiedene Waren
im Fakturabetrag von 698 Fr. 55 Cis. Darunter befanden sich zwei Hahnen,
die der Klager in Luzern einschleifen liess, weil fie, wie er behauptet,
nicht richtig funktionierten. Hiefür legte er 12 Fr. aus, die er dem
Beklagten belastete Am 31. August zahlte er darauf seine Warenschuld unter
Abzug der 12 Fr. Der Beklagte brachte nun diesen Betrag ant-30. September
seinerseits an dem Kapitalzins wieder in Abzug und bezahlte infolgedessen
ftatt 875 Fr. nur 863 Fr. Der Kläger quittierte hiesür nur a conto des
Quartalzinses und klagte am 27. Oktober die 12 Fr. gerichtlich ein,
unter Angabe des Rechtsgrundes: Für Arbeit im Hotel Viktoria in Luzern
und Spesen. Als nun am 4. November der Einzelrichter eine Expertise über
die Beschaffenheit der Hahnen anordnen wollte, anerkannte der Beklagte,
um die Kosten der Expertise zu vermeiden, die eingeklagte Forderung im
Betrage von 12 Fr wogegen der Kläger seinen Antrag auf Zuspruch einer
Parteientschädigung fallen liess. Noch am gieichen Tage kündete darauf
der Kläger dem Beklagten die Hypothekarobligation aus 3 Monate, mit der
Begründung, der Beklagte sei, da er die Forderung von 12 Fr. anerkannt
habe, mit einem Teil des Quartals zinses im Rückstand Am 9. November
zahlte darauf der Beklagte die 12 Fr.

B. Durch Urteil vom 13. August 1912 hat das Appellationsgericht des
Kantons Baselsiadt auf das klägerische Rechtsbegehrent

Die Aufkündung des vom Beklagten dem Kläger geschuldeten Kapitals von 70,
000 Fr. de dato 4. November 1911 auf 4. Februar 1912 sei für den Beklagten
rechtsverbindlich zu erklaren und demgemäss der Beklagte zu verurteilen,
70, 000 Fr3. Sachenrecht. N° 73. 451

samt Zinsä 50/0 seit 1 Oktober 1911 am 4 Februar 1912 dem Klager
zurückzubezahlen, erkannt: Das erstinstanzliche Urteil wird bestätigt.

Das erstinstanzliche Urteil hatte gelautet:

Die Klage wird abgewiesen-

Das zweitinstanzliche Urteil ist im wesentlichen folgendermassen
begründet:

Der vom Beklagten angerufene Art. 2 ZGV sei auf den vorliegenden Fall
anwendbar, weil er eine um der öffentlichen Ordnung und Sittlichkeit
willen aufgestellte Bestimmung enthalte und daher gemäss Art. 2 SchlT
ZGV mit dem Inkrafttreten des Gesetzes auch auf solche Verhältnisse
Anwendung finde, die im übrigen noch dem bisherigen Rechte unterstehen.

Die Frage, ob der Klager durch die Geltendmachung eines Kündigungsrechtes
unter den vorliegenden Umständen Treu und Glauben verletze (Art. 2
Abs. 1
SR 210 Schweizerisches Zivilgesetzbuch vom 10. Dezember 1907
ZGB Art. 2 - 1 Jedermann hat in der Ausübung seiner Rechte und in der Erfüllung seiner Pflichten nach Treu und Glauben zu handeln.
1    Jedermann hat in der Ausübung seiner Rechte und in der Erfüllung seiner Pflichten nach Treu und Glauben zu handeln.
2    Der offenbare Missbrauch eines Rechtes findet keinen Rechtsschutz.
ZGB), könne nicht schon darum bejaht werden, weil der rückständige
Zinsrest bloss 12 Fr. betrage. Entscheidend sei dagegen, dass der Kläger
die ihm noch zukommenden 12 Fr. als Forderung für Arbeit im Hotel Viktoria
in Luzern und Spesen eingeklagt und sich wegen dieser Forderung mit dem
Beklagten vor Gericht verglichen habe. Durch sein Rechtsbegehren in jenem
Prozesse habe der Kläger bekundet, dass auch er (wie der BeklagteJ die
12 Fr. nicht als Zinsrückstand, sondern als Forderung aus einem anderen
Rechtsverhältnisse betrachte, und durch den Abschluss des Vergleichs,
dass der Anstand der Parteien wegen dieser 12 Fr. mit der Anerkennung der
Forderung und der Übernahme der ordentlichen Kosten durch den Bellagten
erledigt sei. Diese Stellungnahme des Klägers in jenem ersten Prozesse
lasse es nach Treu und Glauben nicht zu, dass der Kläger nachträglich das
Verhältnis wieder ganz anders anffasse, die aus-stehenden 12 Fr. jetzt
als Zinsrückstand erkläre und daraus ein Kündigungsrecht ableite, während
er durch sein vorheriges Verhalten den Beklagten in den Glauben versetzt
oder doch darin bestärkt habe, dass die Differenz wegen der 12 Fr. eine
Kündigung des Kapitals nicht zur Folge haben könne.

Das Klagebegehren dürfe daher, weil es dem Art. 2 Abs. 1
SR 210 Schweizerisches Zivilgesetzbuch vom 10. Dezember 1907
ZGB Art. 2 - 1 Jedermann hat in der Ausübung seiner Rechte und in der Erfüllung seiner Pflichten nach Treu und Glauben zu handeln.
1    Jedermann hat in der Ausübung seiner Rechte und in der Erfüllung seiner Pflichten nach Treu und Glauben zu handeln.
2    Der offenbare Missbrauch eines Rechtes findet keinen Rechtsschutz.
ZGB widerstreite,
nicht geschützt werden.

462 A. Oberste vailgerichtsinstanz. {. Materiellrechtliche Entscheidungen.

0. Gegen dieses Urteil hat der Kläger rechtzeitig und in richtiger Form
die Berufung an das Bundesgericht ergriffen.

D. In der heutigen Verhandlung hat der Vertreter des Klagers Gutheissung,
derjenige des Beklagten Abweisung der Berufung und Bestätigung des
angesochtenen Urteils beantragt.

Das Bundesgericht zieht in Er wägung:

1. Da der vorliegende Rechtsstreit die Kündbarkeit einer grundversicherten
Forderung des alten Rechts betrifft und sämtliche in Betracht kommenden
Tatsachen sich vor dem 1. Januar 1912 ereignet haben, so wäre,
von Art. 2
SR 210 Schweizerisches Zivilgesetzbuch vom 10. Dezember 1907
ZGB Art. 2 - 1 Jedermann hat in der Ausübung seiner Rechte und in der Erfüllung seiner Pflichten nach Treu und Glauben zu handeln.
1    Jedermann hat in der Ausübung seiner Rechte und in der Erfüllung seiner Pflichten nach Treu und Glauben zu handeln.
2    Der offenbare Missbrauch eines Rechtes findet keinen Rechtsschutz.
ZGB abgesehen, gemäss Art. 1 und 28 SchlT das bisherige
kantonale Recht anwendbar. Allerdings erleidet Art. 28
SR 210 Schweizerisches Zivilgesetzbuch vom 10. Dezember 1907
ZGB Art. 2 - 1 Jedermann hat in der Ausübung seiner Rechte und in der Erfüllung seiner Pflichten nach Treu und Glauben zu handeln.
1    Jedermann hat in der Ausübung seiner Rechte und in der Erfüllung seiner Pflichten nach Treu und Glauben zu handeln.
2    Der offenbare Missbrauch eines Rechtes findet keinen Rechtsschutz.
SchlT ZGB,
wonach die Kündbarkeit der altrechtlichen Grundpfandforderungen nach
dem bisherigen Rechte zu beurteilen ist, insofern eine Ausnahme, als
die kantonalen Einsühruugsgesetze gemäss Art. 33 SchlT feftstellen
können, dass im allgemeinen oder in bestimmter Beziehung eine
Grundpfandart des bisherigen Rechtes einer solchen des neuen Rechtes
gleichzuhalten fei" eine Möglichkeit, von welcher Baselstadt in §
227 seines Einführungsgesetzes Gebrauch gemacht hat. Allein diese
Gleichstellung bezieht sich entsprechend dem rechtlichen Charakter
der kantonalen Einsührungsgesetze, nur auf die Zukunft, und es wird
daher durch Art. 33 SchlT dem Grundsatze des Art. 1, wonach die vor dem
1. Januar 1912 eingetretenen Tatsachen hinsichtlich ihrer rechtlichen
Wirkung dem bisherigen Recht unterstehen, nicht derogiert.

2. Fragt es sich nun, ob Art. 2 Abs. 1
SR 210 Schweizerisches Zivilgesetzbuch vom 10. Dezember 1907
ZGB Art. 2 - 1 Jedermann hat in der Ausübung seiner Rechte und in der Erfüllung seiner Pflichten nach Treu und Glauben zu handeln.
1    Jedermann hat in der Ausübung seiner Rechte und in der Erfüllung seiner Pflichten nach Treu und Glauben zu handeln.
2    Der offenbare Missbrauch eines Rechtes findet keinen Rechtsschutz.
ZGB, auf den die Vorinstanz
abgestellt hat, im vorliegenden Falle anweudbar sei, so ist davon
auszugehen, dass diese Gesetzesbestimmung nicht etwa, wie aus ihrem
Wortlaut geschlossen werden könnte, bloss eine Weisung an die Kontrahenten
enthält, in der Ausübung ihrer Rechte und in der Erfüllung ihrer Pflichten
nach Treu und Glauben zu handeln, sondern, entsprechend dem Zweck der
ganzen Einleitung des ZGB, auch eine Weisung an den Richter, die dem
Prozesse voraus-gegangenen Handlungen der Parteien und den Jnhalt der
dadurch umschriebenen Rechtsverhältnisse (dergl. den Randtitel zu Uri. 2
4) nach den Grundsätzen über Treu und Glauben im Rechtsoerkehr zu beu
r t eilen; denn, wenn ein Recht3. Sachenrecht. N° 73. 463

nicht weiter ausgeübt werden darf, als Treu und Glauben es gestatten,
so ist damit auch gesagt, dass der Richter schon den rechtsbegründenden
Parteiwillen nicht anders auslegen soll. Es unterliegt denn auch keinem
Zweifel (vergl. übrigens Stähelin, in Zschr. f. schw. R. 218 S. 355 ff.),
dass die Bestimmung des Art. 2 Abs. 1
SR 210 Schweizerisches Zivilgesetzbuch vom 10. Dezember 1907
ZGB Art. 2 - 1 Jedermann hat in der Ausübung seiner Rechte und in der Erfüllung seiner Pflichten nach Treu und Glauben zu handeln.
1    Jedermann hat in der Ausübung seiner Rechte und in der Erfüllung seiner Pflichten nach Treu und Glauben zu handeln.
2    Der offenbare Missbrauch eines Rechtes findet keinen Rechtsschutz.
ZGB, über welche allerdings im
Gegensatz zum sog. Schikaneverbot des Art. 2 Abs. 2 in den Materialien
des Gesetzes keine Bemerkung zu finden ist, auf deu, schon im gemeinen
Recht mehr oder weniger allgemein anerkannten Grundsatz zurückgeht,
wonach alle zioilrechtlich relevanten Handlungen und Unterlassungen
so auszulegen sind, wie Treu und Glauben im Verkehr es erfordern,
-ein Grundsatz. der übrigens auch in § 157 BGB, wenigstens soweit
er sich auf die Verträge bezieht (vergl. ferner Art. 1134 Abf. 3 des
französ. Code civil), seinen Ausdruck gesunden hat. Dieser Grundsatz
aber gehört offenbar zu denjenigen Bestimmungen, die der Gesetzgeber
als im Interesse der öffentlichen Ordnung und Sittlichkeit set-Lassen
betrachtete, und die daher gemäss Art. 2 Abs. 1
SR 210 Schweizerisches Zivilgesetzbuch vom 10. Dezember 1907
ZGB Art. 2 - 1 Jedermann hat in der Ausübung seiner Rechte und in der Erfüllung seiner Pflichten nach Treu und Glauben zu handeln.
1    Jedermann hat in der Ausübung seiner Rechte und in der Erfüllung seiner Pflichten nach Treu und Glauben zu handeln.
2    Der offenbare Missbrauch eines Rechtes findet keinen Rechtsschutz.
des Schlusstitels sofort
mit dem Inkrafttreten des ZGB auf alle der Beurteilung des Richters
unterstehenden Tatsachen Anwendung zu finden haben, gleichgültig ob
diese Tatsachen vor oder nach dem 1. Januar 1912 eingetreten find.

3. Da nach dem Gesagten die Vorinstanz die Frage der Anwendbarkeit
des Art. 2 Abs. 1
SR 210 Schweizerisches Zivilgesetzbuch vom 10. Dezember 1907
ZGB Art. 2 - 1 Jedermann hat in der Ausübung seiner Rechte und in der Erfüllung seiner Pflichten nach Treu und Glauben zu handeln.
1    Jedermann hat in der Ausübung seiner Rechte und in der Erfüllung seiner Pflichten nach Treu und Glauben zu handeln.
2    Der offenbare Missbrauch eines Rechtes findet keinen Rechtsschutz.
ZGB auf den vorliegenden Fall mit Recht bejaht
hat, die Klage aber einzig auf Grund dieser Bestimmung des eidg en
ös s is ch en Rechts abgewiesen wurde (wobei die Vorinstanz gar nicht
untersucht hat, ob der Kläger auch nach dem bisherigen kantonalen Recht
kündigungsberechtigt gewesen wäre, bezw. ob der Grundsatz des Art. 2
Abs. 1
SR 210 Schweizerisches Zivilgesetzbuch vom 10. Dezember 1907
ZGB Art. 2 - 1 Jedermann hat in der Ausübung seiner Rechte und in der Erfüllung seiner Pflichten nach Treu und Glauben zu handeln.
1    Jedermann hat in der Ausübung seiner Rechte und in der Erfüllung seiner Pflichten nach Treu und Glauben zu handeln.
2    Der offenbare Missbrauch eines Rechtes findet keinen Rechtsschutz.
ZGB schon im bisherigen kantonalen Recht enthalten war), so ist
das Bundesgericht zur materiellen Überprüfung des angesochtenen Urteils
kompetent, und es ist daher zu untersuchen, ob nach den Grundsätzen über
Treu und Glauben im Rechtsverkehr das Verhalten des Klägers hinsichtlich
seiner Forderung von 12 Fr. in der Tat, wie die Vorinstanz annimmt,
vom Beklagten dahin aufgefasst werden muszte, dass der Kläger jene 12
Fr. nicht als Zinsrückstand, sondern als Forderung aus einem besondern
Rechtsverhältnis betrachte und also den Zins als bezahlt anerkenne. Diese
Frage ist aus den von der

464 A. Oberste Zivilgerichtsinstanz. l. Materiellrechfliche
Entscheidungen.

Vorinstanz angeführten Gründen zu bejahen. Der Kläger hatte die Wahl,
die 12 Fr. als Zinsrückstand, oder aber als Forderung auf Ersatz des
Minderwerts der gekauften Sache, bezw wie er sich ausgedrückt hat, als
Forderung aus Arbeit einzuklagen. Hätte er das erstere getan, so würde
der Beklagte auf den Beweis für die Unbegründetheit der Forderung von
12 Fr. zweifellos nicht verzichtet haben, da alsdann sein Interesse an
dem Nichtzuspruch dieser 12 Fr. in keinem Missverhältnis zu den Kosten
der Expertise gestanden hätte. Machte aber der Kläger seinen Anspruch
auf Bezahlung der 12 Fr. als Forderung aus Arbeit geltend, so erweckte
er dadurch beim Beklagten den Glauben, dass er den ganzen Kauspreis
von 696 Fr. 55 Ets. sals gezahlt und also die von ihm seinerzeit vom
Kaufpreis abgezogenen 12 Fr. nunmehr als Zahlung an den Kapitalzins
betrachte, so dass von diesem nichts mehr geschuldet blieb. Im Vertrauen
hierauf hat der Beklagte die Bestreitung der eingeklagten 12 Fr. fallen
gelassen, und in diesem Sinne hat daher auch der Richter das Verhalten
des Klägers auszulegen. Alsdann aber ist flat, dass der Beklagte am
4. November 1911, als der Kläger ihm die Hypothekarobligation von 70,000
Fr. kündete, nicht mit den 12 Fr. Kapitalzins, sondern höchstens mit der
dem Minderungsanspruch des Klägers entsprechenden Schuld von ebenfalls
12 Fr. im Verzuge war, woraus sich ohne weiteres die Unzulässigkeit der
Kündigung ergibt.

4. Ist nach den vorstehenden Ausführungen die Klage mit Recht auf
Grund des Art. 2 Abs. 1
SR 210 Schweizerisches Zivilgesetzbuch vom 10. Dezember 1907
ZGB Art. 2 - 1 Jedermann hat in der Ausübung seiner Rechte und in der Erfüllung seiner Pflichten nach Treu und Glauben zu handeln.
1    Jedermann hat in der Ausübung seiner Rechte und in der Erfüllung seiner Pflichten nach Treu und Glauben zu handeln.
2    Der offenbare Missbrauch eines Rechtes findet keinen Rechtsschutz.
ZGB abgewiesen wordenweil das Verhalten des
Klägers den Beklagten in den Glauben versetzen musste, der Kläger
betrachte die Kapitalzinsangelegenhcit als erledigt, so braucht auf
die Frage, ob eventuell Art. 2 Abs. 2 anwendbar gewesen wäre, nicht
eingetreten zu werden. Ebenso kann unerörtert bleiben, ob nicht schon
der Darlehensvertrag den Sinn hatte, dass nur ein die Zahlung des Zinses
gefährdender Verzug des Beklagten den Kläger zur Kündigung berechtigen
folle, nicht dagegen die Zurückbehaltung eines minimen Betrages auf
Grund einer Meinungsdifferenz. Und endlich braucht auch die Frage nicht
entschieden zu werden, ob dem Art. 2 Abs. 1 unter Umständen eine die
Härte des Vertragsrechtes korrigierende Funktion (im Sinne von Gmür,
Anm. 9 zu Art. 2) zukommen könne-.3. Sachenrecht. N° 74. 485

Demnach hat das Bundesgericht e r k a n nt :

Die Berufung wird abgewiesen und das Urteil des Appellationsgerichts
des Kantons Baselstadt vom 13. August 1912 bestätigt

74. glitten der II. Divitabteilnng vom 13. got-einher 1912 in Sachen
Zinsizhanser & guizzi, Bekl. u. Ver.-KL, gegen gidgenösftsrhe Zank D.-G.,
KI. u. Ver-Bett

Zulässigkeit der Eigentumsklage gegen den èzîsglcîabigen Fakrm'serwerber
auch dann, wenn er (infolge Verpfdndrmg bei einem Dritten) nur im
mittelbar-on Besitze der Falten-is est.

A. Der Klägerin sind in den Monaten Juli bis September 1911 von ihrem
damals kaum 20-jährigen Kommis Karl Kupper :x. a. folgende, auf den
Inhaber lautende Werttitel entwendet worden:

Fr. 2,000 33/4 0/0 Obligationen der Zürch Kantonalbank, Nr. 451,594j95
mit Coupons per 20. Sep-

tember 1911,

Fr. 10,000 4% Obligationen von Leu & Cie., Nr. 96,396,s97 mit Coupons
per 15. August 1911 il. si..

Fr. 5,000 40/0 Obligationen der Gewerbebank, mit Couponss per 31. Januar
1912,

Fr. 25,000 41/4 Ufo Obligationen der St. Galler Hypothekenkasse,
Nr. 482/86 mitCoupons per 31. Dezember 1911 U. ff.

Kupper war in der kritischen Zeit in der Wechselstube der Klägerin
beschäftigt gewesen. Es lag ihm dort die Führung der Bücher über Einund
Ausgang der durch die Wechselstube gekauften Papiere ob. Auch hatte er
die betreffenden Bordereaux und Zinsabrechnungen auszustellen. Die Titel
selbst wurden durch den Kassier Gruber oder durch den Prokuristen Knauer
verwahrt; dem Kupper wurden sie nur auf das Pult gelegt, damit er die
notwendigen Angaben daraus ersehen könne.

Die entwendeten Titel verpfändete Kupper jeweilen bei der Be-
Entscheidinformationen   •   DEFRITEN
Dokument : 38 II 459
Datum : 29. Mai 1912
Publiziert : 31. Dezember 1913
Quelle : Bundesgericht
Status : 38 II 459
Sachgebiet : BGE - Zivilrecht
Gegenstand : 458 A. Oberste Zivilgerichtsinstanz. [. Materiellrechtliche Entscheidungen. hierüber


Gesetzesregister
ZGB: 2 
SR 210 Schweizerisches Zivilgesetzbuch vom 10. Dezember 1907
ZGB Art. 2 - 1 Jedermann hat in der Ausübung seiner Rechte und in der Erfüllung seiner Pflichten nach Treu und Glauben zu handeln.
1    Jedermann hat in der Ausübung seiner Rechte und in der Erfüllung seiner Pflichten nach Treu und Glauben zu handeln.
2    Der offenbare Missbrauch eines Rechtes findet keinen Rechtsschutz.
33 
SR 210 Schweizerisches Zivilgesetzbuch vom 10. Dezember 1907
ZGB Art. 33 - 1 Der Beweis für die Geburt oder den Tod einer Person wird mit den Zivilstandsurkunden geführt.
1    Der Beweis für die Geburt oder den Tod einer Person wird mit den Zivilstandsurkunden geführt.
2    Fehlen solche oder sind die vorhandenen als unrichtig erwiesen, so kann der Beweis auf andere Weise erbracht werden.
730
SR 210 Schweizerisches Zivilgesetzbuch vom 10. Dezember 1907
ZGB Art. 730 - 1 Ein Grundstück kann zum Vorteil eines andern Grundstückes in der Weise belastet werden, dass sein Eigentümer sich bestimmte Eingriffe des Eigentümers dieses andern Grundstückes gefallen lassen muss oder zu dessen Gunsten nach gewissen Richtungen sein Eigentumsrecht nicht ausüben darf.
1    Ein Grundstück kann zum Vorteil eines andern Grundstückes in der Weise belastet werden, dass sein Eigentümer sich bestimmte Eingriffe des Eigentümers dieses andern Grundstückes gefallen lassen muss oder zu dessen Gunsten nach gewissen Richtungen sein Eigentumsrecht nicht ausüben darf.
2    Eine Verpflichtung zur Vornahme von Handlungen kann mit der Grunddienstbarkeit nur nebensächlich verbunden sein. Für den Erwerber des berechtigten oder belasteten Grundstücks ist eine solche Verpflichtung nur verbindlich, wenn sie sich aus dem Eintrag im Grundbuch ergibt.619
ZGB SchlT: 28
Stichwortregister
Sortiert nach Häufigkeit oder Alphabet
beklagter • vorinstanz • bundesgericht • treu und glauben • frage • weiler • sachenrecht • kantonales recht • verhalten • dienstbarkeit • wille • richtigkeit • monat • weisung • rechtsbegehren • bewilligung oder genehmigung • bundesrat • inkrafttreten • verzug • coupon
... Alle anzeigen