S. 277 / Nr. 43 Familienrecht (d)

BGE 68 II 277

43. Auszug aus dem Urteil der II. Zivilabteilung vom 14. Dezember 1942 i. S.
Knöpfel-Pfäffli gegen Baur.


Seite: 277
Regeste:
Art. 314 Abs. 2
SR 210 Schweizerisches Zivilgesetzbuch vom 10. Dezember 1907
ZGB Art. 314 - 1 Die Bestimmungen über das Verfahren vor der Erwachsenenschutzbehörde sind sinngemäss anwendbar.
1    Die Bestimmungen über das Verfahren vor der Erwachsenenschutzbehörde sind sinngemäss anwendbar.
2    Die Kindesschutzbehörde kann in geeigneten Fällen die Eltern zu einem Mediationsversuch auffordern.
3    Errichtet die Kindesschutzbehörde eine Beistandschaft, so hält sie im Entscheiddispositiv die Aufgaben des Beistandes und allfällige Beschränkungen der elterlichen Sorge fest.
ZGB: Der Reifegrad des Kindes rechtfertigt dann erhebliche
Zweifel an der (nach Abs. 1 zu vermutenden) Vaterschaft des Beklagten, wenn
sich bei Zeugung am Tage der Beiwohnung durch den Beklagten eine
Schwangerschaftsdauer ergäbe, die für den festgestellten Reifegrad
ausserordentlich unwahrscheinlich wäre.
Art. 314 al. 2 CC: L'état de maturité de l'enfant permet d'élever «des doutes
sérieux sur la paternité du défendeur» lorsque, compte tenu de cet état, il
paraît hautement invraisemblable que la mère ait porté l'enfant le temps
qu'aurait duré la grossesse s'il avait été conçu lors de la cohabitation
prétendue.
Art. 314 cp. 2 CC: Il grado di maturanza dell'infante fa sorgere «serii dubbi
sulla paternità del convenuto», qualora, tenuto conto di questo grado, appare
straordinariamente inverosimile che la madre abbia portato l'infante il tempo
che sarebbe durata la gravidanza se egli fosse stato concepito nel preteso
concubito.

Hedwig Pfäffli, geb. 1919, gebar am 17. August 1939 ausserehelich ein Kind
Erika. Als Vater bezeichnete und belangte sie Karl Baur in Wetzikon, mit der
Behauptung, sie habe mit ihm in der kritischen Zeit (21. Oktober- 18. Februar
1939) Geschlechtsverkehr gehabt, nämlich zum ersten Mal am 22. Januar 1939 (d.
i. 207 Tage vor der Geburt), ferner am 11. Februar und ein letztes Mal am 15.
März 1939. Der Beklagte gab diese Beiwohnungen zu, erhob jedoch die Einreden
der erheblichen Zweifel und des unzüchtigen Lebenswandels.
Das Bezirksgericht Gaster wies die Klage in Anwendung von Art. 314 Abs. 2
SR 210 Schweizerisches Zivilgesetzbuch vom 10. Dezember 1907
ZGB Art. 314 - 1 Die Bestimmungen über das Verfahren vor der Erwachsenenschutzbehörde sind sinngemäss anwendbar.
1    Die Bestimmungen über das Verfahren vor der Erwachsenenschutzbehörde sind sinngemäss anwendbar.
2    Die Kindesschutzbehörde kann in geeigneten Fällen die Eltern zu einem Mediationsversuch auffordern.
3    Errichtet die Kindesschutzbehörde eine Beistandschaft, so hält sie im Entscheiddispositiv die Aufgaben des Beistandes und allfällige Beschränkungen der elterlichen Sorge fest.
ZGB
ab. Gestützt einerseits auf den Bericht des Chefarztes des kantonalen
Krankenhauses in Uznach, der feststellt, dass das Kind bei der Geburt alle
Merkmale der Reife aufgewiesen habe, und anderseits auf medizinische Werke,
welche es als ausgeschlossen bezeichnen, dass ein Kind mit diesen Merkmalen
nach einer Schwangerschaftsdauer von nur 207 Tagen zur Welt kommen könne,
erklärte das Bezirksgericht erhebliche Zweifel an der Vaterschaft des
Beklagten als begründet.
Mit einem ersten Entscheid vom 23. Mai 1942 erklärte

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das Kantonsgericht den Nachweis eines unzüchtigen Lebenswandels sowie den
Nachwels, dass die Kindsmutter ihre geschlechtlichen Beziehungen vom Jahre
1938 zu einem Gabriel Gallati bis in die kritische Zeit hinein fortgesetzt
habe, als nicht erbracht. Hinsichtlich der vom Bezirksgericht geschützten
Einrede, das Kind könne nach seinem Reifegrad nicht am 22. Januar 1939 gezeugt
worden sein, ordnete es die Einholung des Gutachtens eines Gynäkologen an.
Der bestellte Experte Dr. Jung, gewesener Chefarzt der st. gallischen
Frauenklinik, gelangte in seinem Gutachten zu dem Schlusse:
«Es ist höchst unwahrscheinlich, wenn auch vielleicht nicht ganz
ausgeschlossen, dass das am 17. August 1939 geborene 50 cm lange und 3000 gr
schwere, mit allen üblichen Reifezeichen ausgestattete Kind Erika Pfäffli am
22. Januar 1939 gezeugt wurde.»
Nachdem auch die gemeinsame Befragung der Parteien stattgefunden hatte,
gelangte das Kantonsgericht mit Urteil vom 25. September 1942 zur Abweisung
der Klage. Es führte aus, die Parteibefragung habe nichts ergeben, was die
Annahme eines Geschlechtsverkehrs mit dem Beklagten vor dem 22. Januar 1939
wahrscheinlicher zu machen vermöchte. Anderseits seien die erwähnten
Feststellungen des Gutachtens geeignet, erhebliche Zweifel an der Zeugung des
Kindes am 22. Januar 1939 oder später zu erwecken, womit die Vermutung der
Vaterschaft des Beklagten dahinfalle.
Mit der vorliegenden Berufung beantragen die Klägerinnen Gutheissung der Klage
unter Kostenfolge zulasten des Beklagten.
Das Bundesgericht zieht in Erwägung:
1.- .....
2.- .....
3.- Es bleibt zu prüfen, ob die Vorinstanz dadurch Bundesrecht verletzt habe,
dass sie in den Feststellungen

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des Experten Tatsachen erblickte, welche erhebliche Zweifel an der Vaterschaft
des Beklagten rechtfertigten.
Das Bundesgericht hat wiederholt ausgesprochen, und hält an diesem Standpunkt
fest, dass aus dem Reifegrad des Kindes in Verbindung mit dem nachgewiesenen
Datum des Geschlechtsverkehrs sich «erhebliche Zweifel» über die Vaterschaft
des Beklagten im Sinne des Art. 314 Abs. 2 ergeben können (BGE 39 II 507, 45
II 494
), dass indessen in der Anwendung des Grundsatzes auf konkrete Fälle
Zurückhaltung am Platze ist. Im Entscheid BGE 51 II 112, wo es sich um eine
Sohwangerschaftsdauer von 240 Tagen handelte, wurde die Einrede abgelehnt,
weil eine Zeugung in diesem Zeitpunkt vom Experten lediglich als «nicht
ausgeschlossen» und nach dem festgestellten Reifegrad des Kindes «als nicht
unmöglich», bezeichnet wurde. In einem spätern Entscheid ist gesagt,
erhebliche Zweifel seien anzunehmen, wenn sich bei Annahme der Zeugung beim
festgestellten Geschlechtsverkehr eine «nie beachtete Ausnahme», von den
bekannten Schwangerschaftsdauern ergeben würde (BGE 61 II 313).
Diese Formulierungen erweisen sich als etwas zu eng. Art. 314 Abs. 2 verlangt
zur Beseitigung der Vermutung nach Abs. 1 nicht, dass die Vaterschaft des
Beklagten als absolut ausgeschlossen oder nach den bisherigen Kenntnissen
undenkbar nachgewiesen werde, sondern lediglich den Nachweis von Tatsachen,
die sie als in erheblichem Masse zweifelhaft erscheinen lassen. Die exceptio
des Abs. 2 richtet sich nicht gegen das Ergebnis eines direkten Beweises,
sondern gegen eine blosse Vermutung; man bewegt sich sowohl hinsichtlich These
als Antithese auf dem Boden nicht der Gewissheiten, sondern der
Wahrscheinlichkeiten. Zur Begründung erheblicher Zweifel an der Vaterschaft
muss es daher für den Experten wie für den Richter genügen, dass nach dem
Reifegrad des Neugeborenen seine Zeugung an dem bestimmten Datum äusserst
unwahrscheinlich sei.
Im vorliegenden Falle hätte, wenn das am 17. August

Seite: 280
1939 reif geborene Kind anlässlich der (für das Bundesgericht verbindlich
festgestellten) ersten Beiwohnung des Beklagten vom 22. Januar 1939 konzipiert
worden wäre, die Schwangerschaft nur 207 Tage gedauert, was der Gutachter als
«höchst unwahrscheinlich, wenn auch vielleicht nicht ganz ausgeschlossen»
bezeichnete. Er fügte bei, es sei ihm in den 41 Jahren seiner
geburtshilflichen Tätigkeit kein derartiger Fall begegnet, und erklärt: «Unter
eine Grenze von 220 Tagen will beim heutigen Stand unserer Kenntnis kein
Fachvertreter gehen». Endlich weist er darauf hin, dass von 36 der
angesehensten deutschen Geburtshelfer 28 eine untere Grenze von weniger als
230 Tagen ablehnen und 15 davon überhaupt nicht unter 240 Tage gehen wollen.
Die Berufung rügt allerdings in diesem Zusammenhang als aktenwidrig die
Feststellung der Vorinstanz, dem Gutachten sei zu entnehmen, «dass eine
Zeugung am 22. Januar 1939 oder später eine nie beobachtete Ausnahme
darstellen würde»; während aus der im Gutachten wiedergegebenen Tabelle gerade
hervorgehe, dass von den 50 cm langen Neugeborenen 0,1 % eine Tragzeit von
200-210 Tagen aufweisen. Diese Statistik ist allerdings nicht im Einklang mit
der Erklärung des Experten, «unter eine Grenze von 220 Tagen will beim
heutigen Stand unserer Kenntnis kein Fachvertreter gehen». Der Widerspruch
besteht jedoch vielmehr zwischen einzelnen Teilen des Gutachtens als zwischen
dessen Schlussfolgerungen und dem angefochtenen Urteile, sodass es sich nicht
um eine Aktenwidrigkeit im Sinne des Art. 81 OrgG handeln kann. Übrigens ist,
wie dargetan, die beanstandete (aus BGE 61 II 311 übernommene) Formulierung
der Vorinstanz zu eng; es genügt, dass die sich ergebende
Schwangerschaftsdauer ausserordentlich unwahrscheinlich sei, und gerade das
stellt der Experte abschliessend fest.
Unter diesen Umständen waren die Feststellungen des Gutachtens geeignet,
erhebliche Zweifel an der Vaterschaft des Beklagten zu rechtfertigen.

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Wenn das Bundesgericht kürzlich ein kantonales Urteil bestätigte, das die
Einrede des Art. 314 Abs. 2 verwarf, obgleich der Experte die Zeugung am Tage
der nachgewiesenen Beiwohnung des Beklagten als wenig wahrscheinlich
bezeichnet hatte, geschah es, weil es sich dort immerhin um eine Tragzeit von
233 Tagen und nicht nur 207 handelte und überdies das Kind nicht die Merkmale
voller Reife aufwies (26. November 1942 i. S. Rentsch c. Oberli). Der
Unterschied in diesen wesentlichsten Punkten rechtfertigt im vorliegenden Fall
die entgegengesetzte Lösung. Übrigens mag darauf hingewiesen werden, dass im
Zeitpunkt, der dem Beginn einer Schwangerschaft von normaler Dauer entsprechen
wurde (Mitte November 1938), die Klägerin noch immer in Beziehungen zu Gallati
stand, mit dem sie im Laufe des Jahres 1938 wiederholt geschlechtlich verkehrt
hatte; dieser Umstand ist geeignet, die Zweifel hinsichtlich der Vaterschaft
des Beklagten zu verstärken, obgleich dieser den formellen Beweis für eine
Fortsetzung des Geschlechtsverkehrs der Klägerin mit Gallati bis in die
kritische Zeit nicht erbringen konnte.
Demnach erkennt das Bundesgericht:
Die Berufung wird abgewiesen und das Urteil des Kantonsgerichtes St. Gallen
vom 28. September 1942 bestätigt.
Entscheidinformationen   •   DEFRITEN
Dokument : 68 II 277
Datum : 31. Dezember 1942
Publiziert : 14. Dezember 1942
Quelle : Bundesgericht
Status : 68 II 277
Sachgebiet : BGE - Zivilrecht
Gegenstand : Art. 314 Abs. 2 ZGB: Der Reifegrad des Kindes rechtfertigt dann erhebliche Zweifel an der (nach...


Gesetzesregister
ZGB: 314
SR 210 Schweizerisches Zivilgesetzbuch vom 10. Dezember 1907
ZGB Art. 314 - 1 Die Bestimmungen über das Verfahren vor der Erwachsenenschutzbehörde sind sinngemäss anwendbar.
1    Die Bestimmungen über das Verfahren vor der Erwachsenenschutzbehörde sind sinngemäss anwendbar.
2    Die Kindesschutzbehörde kann in geeigneten Fällen die Eltern zu einem Mediationsversuch auffordern.
3    Errichtet die Kindesschutzbehörde eine Beistandschaft, so hält sie im Entscheiddispositiv die Aufgaben des Beistandes und allfällige Beschränkungen der elterlichen Sorge fest.
BGE Register
39-II-495 • 45-II-487 • 51-II-112 • 61-II-307 • 68-II-277
Stichwortregister
Sortiert nach Häufigkeit oder Alphabet
beklagter • tag • zweifel • zeugung • geschlechtsverkehr • bundesgericht • vermutung • vorinstanz • kantonsgericht • kenntnis • schwangerschaft • wille • maler • geschlecht • weiler • vater • dauer • entscheid • anhörung oder verhör • stichtag
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