BGE 63 I 326
63. Urteil des Kassationshofs vom 20. Dezember 1937 i. S. Sch. gegen
Bezirksamt Frauenfeld.
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Regeste:
Frage der Rechtsbeständigkeit des Bundesratsbeschlusses vom 3. April 1936
betreffend Strafvorschriften für den passiven Luftschutz: der Beschluss ist
gültig soweit er polizeiliche Strafdrohungen enthält, ungültig soweit darin
kriminell zu ahndende Tatbestände aufgestellt worden.
A. - Marta Sch. unterliess es im Frühjahr 1937 entgegen den Weisungen der
zuständigen Luftschutzbehörden, in ihrer Wohnung in Frauenfeld die
erforderlichen Massnahmen für die Verdunkelung vorzunehmen. Sie begründete
ihre Haltung in einem Schreiben vom 23. März 1937 an die Luftschutzkommission
Frauenfeld damit, dass sie den passiven Luftschutz als untauglich
grundsätzlich ablehne und dass sie zudem die Erlasse der Bundesbehörden, auf
die sich die Anordnungen über die Verdunkelung stützen, als verfassungswidrig
betrachte.
Am 3. April 1937 büsste das Bezirksamt Frauenfeld Marta Sch. mit Fr. 100, weil
sie die Verdunkelungsvorbereitungen vorsätzlich unterlassen und dadurch dem
Art. 7 des Bundesratsbeschlusses vom 3. April 1936 betreffend
Strafvorschriften für den passiven Luftschutz zuwidergehandelt habe (Art. 7:
«Wer Anordnungen oder Weisungen im passiven Luftschutz, insbesondere für
Übungen oder andere Veranstaltungen, den Strassenverkehr und die Verdunkelung,
vorsätzlich oder fahrlässig
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zuwiderhandelt, wird mit Busse von 10 bis 200 Fr. und in schweren Fällen
überdies mit Gefängnis bis zu drei Monaten bestraft.»). Im gleichen Sinn
entschieden auf Einsprache und Berufung der Gebüssten die Bezirksgerichtliche
Kommission Frauenfeld und die Rekurskommission des thurgauischen
Obergerichtes. Die Erwägungen der Rekurskommission lassen sich im wesentlichen
wie folgt zusammenfassen: Der Bundesratsbeschluss, wegen dessen Missachtung
Marta Sch. gebüsst worden sei, stütze sich auf den dringlichen Bundesbeschluss
vom 29. September 1934 betreffend den passiven Luftschutz der
Zivilbevölkerung. Darin werde der Bundesrat ermächtigt, die für den passiven
Luftschutz erforderlichen Vorschriften auf dem Verordnungsweg zu erlassen,
Art. 3 Abs. 2
SR 101 Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft vom 18. April 1999 BV Art. 3 Kantone - Die Kantone sind souverän, soweit ihre Souveränität nicht durch die Bundesverfassung beschränkt ist; sie üben alle Rechte aus, die nicht dem Bund übertragen sind. |
verbindlichen Bundesbeschlusses nach Art. 113 Abs. 3
SR 101 Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft vom 18. April 1999 BV Art. 113 * - 1 Der Bund erlässt Vorschriften über die berufliche Vorsorge. |
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1 | Der Bund erlässt Vorschriften über die berufliche Vorsorge. |
2 | Er beachtet dabei folgende Grundsätze: |
a | Die berufliche Vorsorge ermöglicht zusammen mit der Alters-, Hinterlassenen- und Invalidenversicherung die Fortsetzung der gewohnten Lebenshaltung in angemessener Weise. |
b | Die berufliche Vorsorge ist für Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer obligatorisch; das Gesetz kann Ausnahmen vorsehen. |
c | Die Arbeitgeberinnen und Arbeitgeber versichern ihre Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer bei einer Vorsorgeeinrichtung; soweit erforderlich, ermöglicht ihnen der Bund, die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in einer eidgenössischen Vorsorgeeinrichtung zu versichern. |
d | Selbstständigerwerbende können sich freiwillig bei einer Vorsorgeeinrichtung versichern. |
e | Für bestimmte Gruppen von Selbstständigerwerbenden kann der Bund die berufliche Vorsorge allgemein oder für einzelne Risiken obligatorisch erklären. |
3 | Die berufliche Vorsorge wird durch die Beiträge der Versicherten finanziert, wobei die Arbeitgeberinnen und Arbeitgeber mindestens die Hälfte der Beiträge ihrer Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer bezahlen. |
4 | Vorsorgeeinrichtungen müssen den bundesrechtlichen Mindestanforderungen genügen; der Bund kann für die Lösung besonderer Aufgaben gesamtschweizerische Massnahmen vorsehen. |
Prüfung ihrer Verfassungsmässigkeit zu beachten. Zu untersuchen sei bloss, ob
sich die Ermächtigung des Art. 3 Abs. 2 auch auf den Erlass von
Strafvorschriften beziehe und ob, wenn das zutreffe, der hier angewendete Art.
7 des Bundesratsbeschlusses im besondern zu den für den Luftschutz
«erforderlichen» Bestimmungen gerechnet werden könne. Beide Fragen seien zu
bejahen. Dann sei aber Marta Sch. mit Recht gebüsst worden.
B. - Mit der vorliegenden Nichtigkeitsbeschwerde beantragt Marta Sch., das
gegen sie ergangene Bussenerkenntnis und die darauf sich beziehenden
kantonalen Urteile seien aufzuheben und es sei die Beschwerdeführerin
freizusprechen.
Die angefochtene Busse beruhe auf einer nicht rechtsbeständigen Vorschrift.
Die Bundesversammlung habe bei Erlass des Bundesbeschlusses vom 29. September
1934 weder die Befugnis noch den Willen gehabt, den Bundesrat zur Aufstellung
von Strafvorschriften zu ermächtigen. Eine andere Grundlage für Art. 7 des
Bundesratsbeschlusses vom 3. April 1936 bestehe aber nicht;
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ein selbständiges Verordnungsrecht des Bundesrates rufe dieser in seinem
Beschluss selber nicht an und liesse sich auch nicht begründen. Die kantonalen
Urteile verstiessen daher gegen den Grundsatz «nulla poena sine lege» und
gegen die Gewaltentrennung.
C. - Die Rekurskommission des thurgauischen Obergerichtes beantragt, die
Beschwerde abzuweisen.
Der Kassationshof zieht in Erwägung:
1. - Der dringliche Bundesbeschluss über den passiven Luftschutz vom 29.
September 1934 hat, zumal soweit er den Bundestat mit dem Erlass der
«erforderlichen Vorschriften» beauftragt, allgemein verbindlichen Charakter.
Der betreffende Art. 3 Abs. 2
SR 101 Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft vom 18. April 1999 BV Art. 3 Kantone - Die Kantone sind souverän, soweit ihre Souveränität nicht durch die Bundesverfassung beschränkt ist; sie üben alle Rechte aus, die nicht dem Bund übertragen sind. |
Verfassungsmässigkeit für das Bundesgericht bindend (Art. 113 Abs. 3
SR 101 Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft vom 18. April 1999 BV Art. 113 * - 1 Der Bund erlässt Vorschriften über die berufliche Vorsorge. |
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1 | Der Bund erlässt Vorschriften über die berufliche Vorsorge. |
2 | Er beachtet dabei folgende Grundsätze: |
a | Die berufliche Vorsorge ermöglicht zusammen mit der Alters-, Hinterlassenen- und Invalidenversicherung die Fortsetzung der gewohnten Lebenshaltung in angemessener Weise. |
b | Die berufliche Vorsorge ist für Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer obligatorisch; das Gesetz kann Ausnahmen vorsehen. |
c | Die Arbeitgeberinnen und Arbeitgeber versichern ihre Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer bei einer Vorsorgeeinrichtung; soweit erforderlich, ermöglicht ihnen der Bund, die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in einer eidgenössischen Vorsorgeeinrichtung zu versichern. |
d | Selbstständigerwerbende können sich freiwillig bei einer Vorsorgeeinrichtung versichern. |
e | Für bestimmte Gruppen von Selbstständigerwerbenden kann der Bund die berufliche Vorsorge allgemein oder für einzelne Risiken obligatorisch erklären. |
3 | Die berufliche Vorsorge wird durch die Beiträge der Versicherten finanziert, wobei die Arbeitgeberinnen und Arbeitgeber mindestens die Hälfte der Beiträge ihrer Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer bezahlen. |
4 | Vorsorgeeinrichtungen müssen den bundesrechtlichen Mindestanforderungen genügen; der Bund kann für die Lösung besonderer Aufgaben gesamtschweizerische Massnahmen vorsehen. |
62 I S. 79). Auch ob die Voraussetzungen der Dringlichkeit gegeben waren, kann
nicht nachgeprüft werden (vgl. BGE 61 I S. 365/6).
Wieweit der Bundesrat auf dem Gebiet des passiven Luftschutzes Rechtssätze
aufstellen darf, beurteilt sich heute ausschliesslich nach Art. 3 Abs. 2 des
Bundesbeschlusses vom 29. September 1934. Der Bundesrat hat denn auch seine
Verordnung vom 3. April 1936 betreffend Strafvorschriften für den passiven
Luftschutz einzig hierauf gestützt. Ob er die Materie in einer selbständigen
Verordnung, etwa auf Grund von Art. 102 Ziff. 9
SR 101 Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft vom 18. April 1999 BV Art. 102 * - 1 Der Bund stellt die Versorgung des Landes mit lebenswichtigen Gütern und Dienstleistungen sicher für den Fall machtpolitischer oder kriegerischer Bedrohungen sowie in schweren Mangellagen, denen die Wirtschaft nicht selbst zu begegnen vermag. Er trifft vorsorgliche Massnahmen. |
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1 | Der Bund stellt die Versorgung des Landes mit lebenswichtigen Gütern und Dienstleistungen sicher für den Fall machtpolitischer oder kriegerischer Bedrohungen sowie in schweren Mangellagen, denen die Wirtschaft nicht selbst zu begegnen vermag. Er trifft vorsorgliche Massnahmen. |
2 | Er kann nötigenfalls vom Grundsatz der Wirtschaftsfreiheit abweichen. |
sich die Bundesversammlung nicht mit der Angelegenheit belasst hätte, soll
dahingestellt bleiben.
Das Bundesgericht hat zu prüfen, ob der Bundesrat mit seinen a
Strafvorschriften für den passiven Luftschutz» vom 3. April 1936 und im
besondern mit dem hier angewendeten Art. 7 innerhalb der Ermächtigung des
genannten Bundesbeschlusses geblieben ist (vgl. über das Prüfungsrecht des
Bundesgerichtes gegenüber Verordnungen des Bundesrates BGE 39 I S. 410; 51 I
S. 450 ff.; 63 I S. 433).
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Ist es nicht der Fall, so beruht das angefochtene Bussenerkenntnis auf einer
nicht rechtsbeständigen Vorschrift und verstösst damit gegen eidgenössisches
Recht im Sinn von Art. 269 BStrP. Die Rügen einer Verletzung des Grundsatzes
«nulla poena sine lege» und der Gewaltentrennung, die die Beschwerde in diesem
Zusammenhang weiterhin erhebt, haben keine selbständige Bedeutung.
2. - Die Bundesversammlung hat bisher in den Bundesgesetzen und allgemein
verbindlichen Bundesbeschlüssen fast durchwegs die als nötig erachteten
Strafandrohungen entweder selber ausgesprochen oder deren Erlass durch eine
ausdrückliche Erklärung dem Bundesrat übertragen (vgl. für die erste Lösung
neben vielen andern die Art. 36 ff. des eidgenössischen
Lebensmittelpolizeigesetzes von 1905 und die Art. 58 ff. des eidgenössischen
Motorfahrzeuggesetzes von 1932, für die zweite Lösung u. a. Art. 1 lit. d des
am gleichen Tag wie der Bundesbeschluss über den Luftschutz erlassenen
dringlichen Bundesbeschlusses betreffend die Kreditkassen mit Wartezeit,
ferner Art. 6 des dringlichen Bundesbeschlusses über wirtschaftliche
Massnahmen gegenüber dem Ausland vom 14. Oktober 1933 und Art. 9 des
dringlichen Bundesbeschlusses vom 25. April 1936 über die
Milchproduzentenhilfe). Der Auftrag an den Bundesrat, die «erforderlichen
Vorschriften» über den Luftschutz zu erlassen, kann daher nur dann die
Ermächtigung zum Aufstellen auch von Strafbestimmungen umfassen, wenn
anzunehmen ist, die Bundesversammlung habe diesen Sinn des Auftrages als so
selbstverständlich betrachtet, dass sie eine dahingehende ausdrückliche
Feststellung im Bundesbeschluss entgegen der sonstigen Übung für entbehrlich
hielt. Diese Voraussetzung trifft zu, soweit es sich um die Androhung
polizeilicher Strafen bei Übertretung der vom Bundesrat aufgestellten
Vorschriften handelt, dagegen nicht in bezug auf die Schaffung kriminell zu
ahndender Straftatbestände. Dass der passive Luftschutz der Zivilbevölkerung
nicht ohne gewisse Strafandrohungen
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durchführbar sei, stand für die Bundesversammlung offensichtlich von Anfang an
fest; der Berichterstatter der ständerätlichen Kommission hat in den
Ratsverhandlungen auf die Verwandtschaft des Dienstes in der
Luftschutzorganisation mit demjenigen in den kommunalen Feuerwehren
hingewiesen und von der Notwendigkeit der Verhängung von Strafen (une amende
et même éventuellement de l'emprisonnement) gegenüber Unbotmässigen gesprochen
(Stenographisches Bulletin, Ständerat, 1934 S. 394). Die Aufnahme einer
ausdrücklichen Ermächtigung des Bundesrates zum Erlass von
Polizeistrafbestimmungen mochte als unnötig erscheinen besonders auch im
Hinblick darauf, dass das Bundesgericht in verschiedenen auf kantonales
Staatsrecht sich beziehenden Entscheiden erklärt hat, in der Befugnis einer
Behörde zum Aufstellen polizeilicher Gebote und Verbote sei beim Fehlen einer
abweichenden positiven Anordnung die Kompetenz eingeschlossen, auf die
Übertretung dieser Vorschriften Strafe anzudrohen (BGE 41 I S. 501; 57 I S.
276; 63 I S. 15/16). Der Erlass polizeistrafrechtlicher Bestimmungen in
Verordnungsform ist denn auch in der Schweiz eine verbreitete Erscheinung.
Demgegenüber sind bisher in Bund und Kantonen die kriminellen Straftatbestände
wegen ihrer schwerwiegenden Bedeutung für den Einzelnen in der Regel vom
Gesetzgeber geschaffen und nur ausnahmsweise durch Verordnung aufgestellt
worden (die wichtigsten Ausnahmen waren enthalten in den Noterlassen des
Bundesrates auf Grund des Neutralitätsbeschlusses der Bundesversammlung vom 3.
August 1914). Es spricht daher von vornherein eine starke Vermutung gegen die
Absicht der Bundesversammlung, den Bundestat durch eine allgemein gehaltene
Formel wie die von Art. 3 Abs. 2 des Bundesbeschlusses über den Luftschutz zum
Erlass krimineller Strafandrohungen zu ermächtigen. Berücksichtigt man dazu
noch, dass in der ganzen Vorgeschichte jenes Beschlusses, wie auch in den
Verhandlungen der Räte vom September 1934 sich nirgends eine
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Andeutung in dieser Richtung findet, BO ist die Annahme ausgeschlossen, die
Bundesversammlung habe den Einbezug krimineller Strafandrohungen unter die
«erforderlichen Vorschriften» gemäss Art. 3 Abs. 2 als selbstverständlich und
keiner besondern Feststellung mehr bedürftig angesehen. Die von der
Bundesversammlung gewählte kurze Fassung der Ermächtigung hat die Meinung,
dass der Bundesrat bei seinen Strafandrohungen nicht über den Rahmen
polizeilicher Massnahmen soll hinausgehen dürfen. Soweit der
Bundesratsbeschluss vom 3. April 1936 diese Schranke überschreitet, ist er
ungültig.
3. - Bei den Zuwiderhandlungen gegen Art. 7 des Bundesratsbeschlusses hat man
es wenigstens in den leichtern Fällen, in denen Busse von 10 bis 200 Fr.
angedroht wird, lediglich mit Polizeiübertretungen zu tun. Die fragliche
Bestimmung erscheint deshalb als durch die Ermächtigung der Bundesversammlung
gedeckt, sofern sie auch ihrem Inhalt nach vom Bundesrat ohne
Ermessensmissbrauch als erforderlich im Sinne von Art. 3 Abs. 2 des
Bundesbeschlusses betrachtet werden konnte (BGE 39 I S. 410/11; 61 I S. 369).
Das steht ausser Zweifel. Die Wirksamkeit des passiven Luftschutzes hängt von
der Mitarbeit der ganzen Bevölkerung ab; ohne gewisse Strafandrohungen lässt
sich aber eine Teilnahme Aller an den nötigen Massnahmen nicht erzielen. Der
Einwand der Beschwerdeführerin, sie sei auf Grund einer nicht
rechtsbeständigen Vorschrift gebüsst worden, fällt somit dahin.
Demnach erkennt der Kassationshof.
Die Nichtigkeitsbeschwerde wird abgewiesen.