S. 24 / Nr. 6 Familienrecht (d)

BGE 61 II 24

6. Urteil der II. Zivilabteilung vom 1. März 1935 i. S. Vormundschaftsbehörde
Sumiswald gegen Schütz.

Regeste:
Art. 157 ZGB: Begehren von Vater oder Mutter um Anordnung von Änderungen in
der Gestaltung der Elternrechte sind gegebenenfalls gegen die
Vormundschaftsbehörde zu richten, und diese kann gegen die Gutheissung
Rechtsmittel ergreifen.

A. - Der in Paris wohnende Kläger, Bürger von Sumiswald, schloss am 9. Oktober
1931 mit seiner damaligen «Ehefrau im Hinblick auf die gerichtliche Scheidung
ihrer Ehe» eine «Ehescheidungskonvention» ab, wonach das am 9. Januar 1928
geborene gemeinsame Kind Rose-Marie zur Pflege und Ausbildung seiner Mutter
anvertraut wurde. Diese Konvention wurde durch das Scheidungsurteil des
Amtsgerichtes Trachselwald vom 11. Dezember 1931 genehmigt.

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Am 15. Juni 1932 starb die Mutter.
Am 10. August 1932 erhob der Kläger beim Amtsgericht Trachselwald Klage mit
dem Antrag, das Scheidungsurteil sei in dem Sinne abzuändern, dass das aus der
Ehe entsprossene Kind zur Pflege, Erziehung und Ausbildung seinem Vater
zugesprochen und seiner väterlichen Gewalt unterstellt wird.
B. -Mit «Eingabe» vom 24. Januar 1933 stellten die Vormundschaftsbehörde von
Sumiswald und N. Solari in Mailand (dieser in seiner Eigenschaft als am 28.
Oktober 1932 von der Vormundschaftsbehörde Sumiswald dem Kinde bestellter
Vormund) den Antrag: Das Begehren um Unterstellung des Kindes unter die
väterliche Gewalt sei abzuweisen.
C. - Das Amtsgericht Trachselwald hat am 5. Oktober 1934 die Klage
gutgeheissen.
D. - Auf die Appellation der Vormundschaftsbehörde von Sumiswald und der
mütterlichen Grossmutter des Kindes ist der Appellationshof des Kantons Bern
am 5. Dezember 1934 nicht eingetreten.
In den Entscheidungsgründen wird unter Hinweis auf ein früheres, in der
Zeitschrift des bernischen Juristenvereins 61, 276 abgedrucktes Urteil
verneint, dass im Verfahren nach Art. 157 ZGB eine Vormundschaftsbehörde als
passivlegitimierte Partei ins Recht gefasst werden könne, und weiter wird
verneint, dass aus dem in Art. 157 ZGB festgelegten Recht der
Vormundschaftsbehörde, Begehren zu stellen, das Recht abgeleitet werden könne,
die Abänderung eines erstinstanzlichen Urteils zu beantragen.
E. - Gegen dieses Urteil hat die Vormundschaftsbehörde von Sumiswald die
Berufung an das Bundesgericht eingelegt mit den Anträgen, es sei aufzuheben,
die Sachlegitimation der Vormundschaftsbehörde sei zu bejahen und das
Klagebegehren unter Aufrechterhaltung der von der Vormundschaftsbehörde am 28.
Oktober 1932 verfügten Vormundschaft abzuweisen, eventuell sei die Sache zur
materiellen Beurteilung zurückzuweisen.

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Das Bundesgericht zieht in Erwägung:
1.- Durch das angefochtene Urteil wird verneint, dass nach dem Tode des
geschiedenen Ehegatten, welchem ein Kind zugewiesen worden ist, der andere
Ehegatte das Begehren um Zuweisung des Kindes an sich selbst nur durch gegen
die Vormundschaftsbehörde als beklagte Partei zu erhebende Klage geltend
machen, und dass die Vormundschaftsbehörde gegen ein diesem Begehren
stattgebendes Urteil ein Rechtsmittel ergreifen könne. Indem durch solche
Verneinung ihrer passiven Sachlegitimation die materiellen Rechtsbeziehungen
der Vormundschaftsbehörde zu Kindern aus geschiedener Ehe beeinträchtigt
werden, liegt ein Haupturteil vor, gegen welches die Vormundschaftsbehörde die
Berufung an das Bundesgericht erklären kann (vgl. BGE 48 II 355; 53 II 511;
WEISS, Berufung, S. 40 ff.).
2.- Wenn sich die für die Gestaltung der Elternrechte gegenüber Kindern aus
geschiedener Ehe massgebenden Verhältnisse verändern und daher der Richter
gemäss Art. 157 ZGB die erforderlichen Anordnungen zu treffen hat, so ist dies
nicht einfach eine Fortsetzung des unter den (ehemaligen) Ehegatten, von denen
übrigens der eine oder andere inzwischen gestorben sein kann, geführten
Ehescheidungsprozesses. Während im Scheidungsprozess gemäss Art. 156 ZGB die
Vormundschaftsbehörde bezüglich der Gestaltung der Elternrechte nur
(nötigenfalls) anzuhören ist, verleiht Art. 157 ZGB der Vormundschaftsbehörde
ebensogut wie Vater und Mutter das Recht, selbst Begehren um Anordnung der
Änderung der bezüglichen Bestimmungen des Scheidungsurteils oder der
Vereinbarung über die Nebenfolgen der Scheidung zu stellen. Und zwar ist die
Vormundschaftsbehörde in erster Linie als aktiv legitimiert aufgeführt, was
gegen die Ansicht spricht, dass sie darauf beschränkt wäre, bloss in die Lücke
zu springen, wenn ein (anderer) Elternteil nicht mehr da ist. um eine
erforderliche Änderungsanordnung zu

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begehren, oder es nicht tut, trotzdem es geboten erscheint. Mit dieser bei
Veränderung der für die Gestaltung der Elternrechte massgebenden Verhältnisse
der Vormundschaftsbehörde zugedachten und hervorgehobenen Rolle, von sich aus
das Gericht anrufen zu können, was doch nur eine eigentliche Prozesspartei tun
kann, würde es im Widerspruch stehen, wenn die Vormundschaftsbehörde sich
nicht auch als Partei einer vom andern Elternteil begehrten
Abänderungsanordnung widersetzen dürfte, sei es weil keine für eine
Änderungsanordnung zureichende Änderung der Verhältnisse eingetreten ist, sei
es weil zwar eine solche Änderung der Verhältnisse eingetreten ist, jedoch die
vom andern Elternteil begehrte neue Anordnung der Vormundschaftsbehörde
bedenklich erscheint. Wird der Vormundschaftsbehörde um der Kinderfürsorge
willen die Aktivlegitimation im Prozess um Abänderung der Elternrechte
zugestanden, wenn das Interesse des Kindes eine solche Änderung erheischt, als
ob es um ein eigenes Recht der Vormundschaftsbehörde gehe, so muss ihr aus dem
gleichen Grunde folgerichtig auch das Komplement, die Passivlegitimation,
zugestanden werden, wenn das Interesse des Kindes einer Änderung überhaupt
oder doch gerade der vom andern Elternteil begehrten Änderung entgegensteht.
Andernfalls könnte ja das Begehren eines Elternteils um Neugestaltung der
Elternrechte infolge Todes desjenigen Elternteils, welchem das Kind zugewiesen
worden war, gar nicht mehr Anlass zu einem Zwei-Parteien-Prozess geben, der in
allen andern von Art. 157 ZGB geordneten Fällen unerlässlich ist. Dass eine
derartige Änderung «auf einseitiges Begehren», ohne Parteiverhandlung
getroffen werden könne, ist denn auch im Memorial des eidgenössischen Justiz-
und Polizeidepartements vom 24. Juli 1908 nicht vorgesehen und hat auch durch
das bernische EG z. ZGB keineswegs angeordnet werden wollen. In der Tat würde
hier die in Art. 156 ZGB bloss als fakultativ vorgesehene Anhörung der
Vormundschaftsbehörde nicht in jedem Falle zur erforderlichen Abklärung des
Sachverhaltes

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genügen. Dementsprechend hat das Bundesgericht, freilich nur beiläufig,
bereits ausgesprochen, dass die Begehren nach Art. 157 ZGB gegen den Inhaber
der abzuändernden Gewalt über die Kinder (Elternteil oder
Vormundschaftsbehörde) zu richten seien (BGE 42 I 336); die
Vormundschaftsbehörde wird aber Trägerin der Gewalt nicht nur, wenn das Kind
beiden Eltern entzogen wird, sondern auch sobald der Elternteil stirbt, dem es
zugewiesen worden ist (BGE 47 II 380). Ferner hat das Bundesgericht bei
Berufungen in Fällen letzterer Art bisher ohne Bedenken die
Vormundschaftsbehörde als Beklagte und Berufungsbeklagte behandelt und ihr
insbesondere eine Parteientschädigung zugesprochen (vgl. z.B. Urteil vom 29.
April 1923 i. S. Knapp gegen Chambre pupillaire de Sion). Die von der
Vorinstanz angezogene gegenteilige frühere Entscheidung derselben scheint
wesentlich von Bedenken wegen der die Vormundschaftsbehörde sonst treffenden
Prozesskostenpflicht diktiert werden zu sein. Allein auch wenn die
Vormundschaftsbehörde von Bundesrechts wegen als Prozesspartei zu behandeln
ist, so steht nichts entgegen, dass das kantonale Zivilprozessrecht oder die
kantonalen Gerichte auch allfällig ohne gesetzliche Grundlage mit Rücksicht
darauf, dass die Vormundschaftsbehörden den Prozess nicht im eigenen
Interesse, sondern um der Kindesfürsorge willen führen, diese regelmässig von
der Prozesskostenpflicht befreien.
Sobald aber das Prozessführungsrecht der Vormundschaftsbehörde von
Bundesrechts wegen anzuerkennen ist, so folgt daraus notwendigerweise ihr
Recht zur Weiterziehung, insoweit ein Rechtsmittel überhaupt gegeben ist.
Das Recht zur Appellation, wie übrigens schon das Recht zur Teilnahme am
erstinstanzlichen Verfahren wird, je nach der kantonalen Ordnung, der
Vormundschaftsbehörde verloren gehen können, wenn sie nicht rechtzeitig am
Prozess teilnimmt. Über diesen hier streitig gebliebenen Punkt wird die
Vorinstanz in Anwendung des kantonalen Zivilprozessrechtes noch zu entscheiden
haben, wobei sie

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freilich nicht wird ausser Acht lassen dürfen, dass der Kläger seine Klage gar
nicht gegen die Vormundschaftsbehörde gerichtet hatte.
Demnach erkennt das Bundesgericht:
Die Berufung wird dahin begründet erklärt, dass das Urteil des
Appellationshofes des Kantons Bern vom 5. Dezember 1934 aufgehoben wird,
insoweit auf die Appellation der Berufungsklägerin nicht eingetreten wurde,
und dass die Sache zu neuer Entscheidung an die Vorinstanz zurückgewiesen
wird.
Decision information   •   DEFRITEN
Document : 61 II 24
Date : 01. Januar 1935
Published : 01. März 1935
Source : Bundesgericht
Status : 61 II 24
Subject area : BGE - Zivilrecht
Subject : Art. 157 ZGB: Begehren von Vater oder Mutter um Anordnung von Änderungen in der Gestaltung der...


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