S. 90 / Nr. 15 Obligationenrecht (d)

BGE 56 II 90

15. Urteil der II. Zivilabteilung vom 20. Februar 1930 i. S. Einwohnergemeinde
Biel gegen Schmutz & Schiess.


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Regeste:
Zusammenstoss zwischen Strassenbahn und Automobil an verkehrsgefährlicher
Stelle (unübersichtlicher, von der Strassenbahn geschnittener Kurve). Haftung
des Eigentümers von Strasse und Strassenbahn aus OR 58 für Beschädigung des
Automobils. Mitverschulden des Chauffeurs.

A. - Am 18. Juni 1928 stiess in Biel-Mett der von einem Chauffeur geführte,
mit Ziegeln beladene Motorlastwagen der Klägerin, als er aus der Poststrasse
nach rechts in die Mühlestrasse einbog, vor dem Hause Dalmer mit einem in
entgegengesetzter Richtung daherfahrenden Wagen der Städtischen Strassenbahn
zusammen. An dieser durch die Ecke des erwähnten Hauses und einen Holzschopf
unübersichtlich gemachten Stelle nähert sich seit einer im Jahre 1927
vorgenommenen Korrektion die innere Kurve des (einspurigen) Geleises der
Strassenbahn dem hier endigenden Trottoir der Mühlestrasse bis auf 1,60 Meter,
sodass dazwischen nicht mehr wie vorher und nachher auf der gleichen Seite der
Mühle- und Poststrasse genügend Raum für den Verkehr mit Motorlastwagen
bleibt. Hier versuchte der Chauffeur der Klägerin, der mit einer
Geschwindigkeit von 12-15 Stundenkilometer auf die ihm bekannte Stelle zu fuhr
und den mit 15-17 Stundenkilometern heranfahrenden Strassenbahnwagen erst auf
eine Entfernung von etwa 25 Metern wahrnahm, noch rasch mit beschleunigter
Geschwindigkeit durchzukommen. Indessen wurde der Motorlastwagen vom
Strassenbahnwagen seitlich angefahren und stark beschädigt, während der
Chauffeur unverletzt blieb und der Strassenbahnwagen nur leicht beschädigt
wurde.

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Seit diesem Zusammenstoss ist das Trottoir vor dem Hause Dalmer derart
verjüngt worden, dass nun zwischen ihm und dem Strassenbahngeleise genügend
Platz für die Durchfahrt von Motorlastwagen besteht.
B. - Mit der vorliegenden, auf das Eisenbahnhaftpflichtgesetz und Art. 58
SR 220 Erste Abteilung: Allgemeine Bestimmungen Erster Titel: Die Entstehung der Obligationen Erster Abschnitt: Die Entstehung durch Vertrag
OR Art. 58 - 1 Der Eigentümer eines Gebäudes oder eines andern Werkes hat den Schaden zu ersetzen, den diese infolge von fehlerhafter Anlage oder Herstellung oder von mangelhafter Unterhaltung verursachen.
1    Der Eigentümer eines Gebäudes oder eines andern Werkes hat den Schaden zu ersetzen, den diese infolge von fehlerhafter Anlage oder Herstellung oder von mangelhafter Unterhaltung verursachen.
2    Vorbehalten bleibt ihm der Rückgriff auf andere, die ihm hierfür verantwortlich sind.
OR
gestützten Klage verlangt die Klägerin Ersatz für die Kosten der
Wiederherstellung ihres Motorlastwagens und der während seiner
Gebrauchsunfähigkeit durch Dritte für sie besorgten Transporte im
Gesamtbetrage von 8906 Fr. 25 Cts.
C. - Der Appellationshof des Kantons Bern hat am 9. Juli 1929 die Klage für
den Betrag von 3800 Fr. nebst 5% Zins seit 18. Juni 1928 zugesprochen. Hiebei
hat der Appellationshof den ersteren Schaden auf 4660 Fr. 55 Cts., den
letzteren auf 1730 Fr. 70 Cts. festgestellt.
D. - Gegen dieses Urteil hat die Beklagte die Berufung an das Bundesgericht
eingelegt mit den Anträgen auf Abweisung der Klage, eventuell angemessene
Herabsetzung der Urteilssumme.
E. - Die Klägerin hat sich der Berufung angeschlossen mit dem Antrag auf
angemessene Erhöhung der Urteilssumme.
Das Bundesgericht zieht in Erwägung:
Weil nur Sachschaden entstanden ist, haftet die Beklagte als Inhaberin der
Strassenbahnunternehmung nur aus Verschulden ihres Personales. Solches ist
dagegen nicht Voraussetzung ihrer Haftung als Werkeigentümerin. Daher mag
letzterer Haftungsgrund in erster Linie geprüft werden. Wieso er durch die
allfällige Haftpflicht der Beklagten als Inhaberin der
Strassenbahnunternehmung ausgeschlossen werden sollte, ist nicht einzusehen.
Wären Strasseneigentümer und Inhaber der Strassenbahnunternehmung zwei
verschiedene Rechtssubjekte, so könnten sie beide nebeneinander, das eine aus
Werkeigentümerhaftung, das andere aus Eisenbahnhaftpflicht belangt werden.
wenn auch natürlich nur auf einmaligen Ersatz

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eines und desselben Schadens. Ist das nämliche Rechtssubjekt
Strasseneigentümer und Inhaber der Strassenbahnunternehmung, so muss es
dementsprechend beiden Haftungsgründen unterworfen sein. Nur insofern Schaden
ausschliesslich durch Bau und Betrieb einer Eisenbahn verursacht worden ist,
kann Ersatz dafür lediglich aus der Eisenbahnhaftpflichtgesetzgebung
hergeleitet werden, nicht daneben noch aus den allgemeinen Vorschriften des OR
über die Entstehung von Obligationen aus unerlaubten Handlungen. Vorliegend
aber macht die Klägerin geltend, ihr Schaden sei ebensowohl durch fehlerhafte
Anlage der Strasse wie durch Bau bezw. Betrieb der Strassenbahn verursacht
worden. Jene Strasse aber ist ein Werk im Sinne des Art. 58
SR 220 Erste Abteilung: Allgemeine Bestimmungen Erster Titel: Die Entstehung der Obligationen Erster Abschnitt: Die Entstehung durch Vertrag
OR Art. 58 - 1 Der Eigentümer eines Gebäudes oder eines andern Werkes hat den Schaden zu ersetzen, den diese infolge von fehlerhafter Anlage oder Herstellung oder von mangelhafter Unterhaltung verursachen.
1    Der Eigentümer eines Gebäudes oder eines andern Werkes hat den Schaden zu ersetzen, den diese infolge von fehlerhafter Anlage oder Herstellung oder von mangelhafter Unterhaltung verursachen.
2    Vorbehalten bleibt ihm der Rückgriff auf andere, die ihm hierfür verantwortlich sind.
OR, ungeachtet des
Umstandes, dass sie öffentlich ist und einer Gemeinde gehört (BGE 49 II S. 254
und dort angeführte frühere Urteile). Ist eine Strasse mit einem Trottoir
versehen oder (bezw. und) sind Bahngeleise in sie eingebaut, so macht die
Kombination von Fahrbahn und Trottoir bezw. die Strasse mit den einen
Bestandteil derselben bildenden Bahngeleisen ein Werk aus. Fehlerhafte Anlage
oder Herstellung einer öffentlichen Strasse liegt dann vor, wenn die Art und
Weise der Anlage oder Herstellung der Strasse nicht Gewähr für genügende
Sicherheit des Verkehrs bietet, dem sie gewidmet ist. Dabei kann aber
natürlich nicht jede eine Gefahrenquelle für den öffentlichen Verkehr bildende
Anlage der Strasse als fehlerhaft bezeichnet werden, sondern nur eine solche,
die ohne unverhältnismässige Aufwendungen hätte anders erfolgen können bezw.
geändert werden könnte. Besteht das Werk aus Strasse mit Trottoir oder Strasse
mit eingelegten Bahngeleisen, so kann die Fehlerhaftigkeit der Anlage in der
Art und Weise der Kombination von Fahrbahn und Trottoir oder von
Strassenkörper und Bahngeleisen liegen. Gerade dies trifft vorliegend zu, wo
das Bahngeleise derart in den Strassenkörper verlegt ist, dass die
Strassenbahn die Kurve Mühlestrasse /Poststrasse schneiden, also den

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Regeln des Strassenverkehrs in einer Weise entgegenhandeln muss, die dem
Lenker jedes anderen Fahrzeuges zu schwerem Verschulden angerechnet würde.
Freilich kann nicht schlechthin verlangt werden, dass die Führung der
Strassenbahngeleise den allgemeinen Verkehrsregeln entsprechend erfolge, weil
namentlich die Vorschrift des Rechtsfahrens oftmals die sehr kostspielige
Anlage der Doppelspur erheischen würde. Allein vorliegend besteht die
Fehlerhaftigkeit der Strassenanlage darin, dass das Strassenbahngeleise an
unübersichtlicher Stelle nur auf eine ganz kurze Strecke so eingelegt ist,
dass die Strassenbahn an einem ohnehin schwierigen Verkehrspunkt unversehens
einen Teil des Strassenkörpers in Anspruch nimmt, der nach den allgemeinen
Verkehrsregeln für die entgegenkommenden Fuhrwerke bestimmt ist. Und zwar wäre
es nicht etwa unmöglich oder auch nur untunlich gewesen, die
Strassenbahngeleise in einer engeren und daher später einsetzenden Kurve aus
der Mühlestrasse in die Poststrasse zu führen, also ohne dass der von den
entgegenkommenden Fuhrwerken beanspruchte Fahrstreifen hätte in
Mitleidenschaft gezogen werden müssen (vgl. die beiden Gutachten). Wollten
aber die Strassenbahngeleise dahin verlegt werden, wo es durch die
Strassenkorrektion im Jahre 1927 geschehen ist, so hätte einfach das Trottoir
dem Strassenbahngeleise parallel geführt, m. a. W. entsprechend verengt werden
können, um den aus der Poststrasse in die Mühlestrasse einbiegenden Fuhrwerken
einen genügenden Fahrstreifen frei zu halten. Namentlich bestand alle
Veranlassung zur nachträglichen Änderung in diesem Sinne, seitdem sich die im
Jahre 1927 erstellte Anlage mehrfach als für den Fahrverkehr gefährlich
erwiesen hatte. Sie durfte der Beklagten um so eher zugemutet werden, als sie
nur wenige Tausend Franken Kosten verursachte. Mit der nun seit dem streitigen
Unfalle vorgenommenen Änderung hat die Beklagte eigentlich die
Fehlerhaftigkeit der damaligen Anlage zugegeben, namentlich auch zugegeben,
dass

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die Rücksichten auf den Fussgängerverkehr nicht zwingend die Belassung des
Trottoirs in der ganzen Breite bis zum Ende der Mühlestrasse erforderte.
Übrigens hätte durch Verlegung der Strassenbahngeleise in einer engeren Kurve
auf den Fuhrwerks- und den Fussgängerverkehr zugleich Rücksicht genommen
werden können. Dass jene Anlage von der eidgenössischen
Eisenbahnbaupolizeibehörde gebilligt worden ist, vermag ihre Fehlerlosigkeit
nicht darzutun (vgl. einerseits BGE 33 II S. 568, anderseits BGE 25 II S.
564
/5).
Der Kausalzusammenhang zwischen der fehlerhaften Kombination von
Strassenfahrbahn, Strassenbahngeleise und Trottoir als Ursache und dem
Zusammenstoss des Motorlastwagens der Klägerin und der Strassenbahn als
Wirkung lässt sich nicht ernstlich in Zweifel ziehen. Eine weitere Ursache
aber ist in dem nicht einwandfreien Verhalten des Chauffeurs der Klägerin zu
sehen. Dass sich die Klägerin dessen Mitverschulden nach den Bestimmungen des
OR über die Haftung des Geschäftsherrn nicht anrechnen zu lassen brauche, hat
sie nicht eingewendet. Freilich glaubt das Bundesgericht, das Verhalten des
Chauffeurs eher auf einen Mangel an Geistesgegenwart als auf Wagemut
zurückzuführen zu sollen. Als er nämlich des Strassenbahnwagens ansichtig
wurde, stand mit Rücksicht auf dessen und die von ihm selbst eingehaltene
Fahrgeschwindigkeit der Zusammenstoss binnen etwa drei Sekunden bevor. Wenn er
in dieser Bedrängnis nicht den - unter der Voraussetzung, dass auch die
Strassenbahn sofort anhalten werde, einzig richtigen - Entschluss zu
raschestem Anhalten fasste, sondern im Gegenteil durch Vergrösserung der
Geschwindigkeit noch aus der seine Fahrbahn schneidenden Geleisekurve
wegzukommen suchte, bevor der Strassenbahnwagen in diese Kurve einfahre, so
kann dies sehr wohl einem Mangel an Fähigkeit zu rascher Entschliessung
zugeschrieben werden, wie er dem Durchschnittsmenschen, auch wenn er erprobter
Automobilfahrer ist, anhaftet (wenn er sich nicht etwa

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in der Schnelligkeit einfach im Hebel vergriffen haben sollte, was er freilich
nicht gelten lassen will). Hierin allein könnte nur ein leichtes Verschulden
gesehen werden, das die Beklagte nur unwesentlich zu entlasten vermöchte, die
eben auch ihren Teil an Verantwortlichkeit für falsche Manöver zu tragen hat,
welche den Automobilfahrern unterlaufen können, wenn sie infolge fehlerhafter
Strassenanlage unversehens im letzten Augenblick zu übereilten
Entschliessungen gedrängt werden. Bei dieser Betrachtungsweise bleibt es
gleichgültig, dass es polizeiverordnungswidrig war, der Strassenbahn nicht den
Vortritt zu lassen, und dass der Chauffeur daher nicht damit rechnen durfte,
die Strassenbahn werde ihrerseits sofort anhalten, um ihn noch durchfahren zu
lassen. Dagegen ist es dem Chauffeur zum schweren Verschulden anzurechnen,
dass er nicht vor dem Einfahren in die ihm als kritisch bekannte Kurve die
Geschwindigkeit derart herabsetzte, dass ihm im Falle des Auftauchens eines
Strassenbahnwagens genügend Zeit zu umsichtiger Entschliessung übrig blieb,
namentlich auch zu sofortigem Anhalten seines schwerbelasteten Wagens vor dem
Auffahren auf das die Kurve schneidende Geleise, um gegebenenfalls die
Strassenbahn noch vorbeifahren lassen zu können. Sollte der Chauffeur aber
ausser acht gelassen haben, dass er sich einer (ihm bekannten) gefährlichen
Stelle nähere, so wäre dies unentschuldbar, weil es sich um eine Stelle
handelt, die inmitten des Gewühles städtischen Verkehres liegt, wo ohnehin
erhöhte Aufmerksamkeit geboten ist.
Das Verschulden des Chauffeurs wird nicht etwa durch ein Verschulden in der
Führung des Strassenbahnwagens auch nur einigermassen aufgewogen. Als der
Wagenführer gewahr wurde, dass der Motorlastwagen hemmungslos in seiner durch
das Strassenbahngeleise geschnittenen Fahrbahn weiterfuhr, zog er sofort die
Notbremse und brachte damit seinen Wagen auf 8 Meter zum Stehen, wodurch der
Zusammenstoss vermieden worden wäre, wenn auch der Motorlastwagen angehalten
worden wäre

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(vgl. Gutachten Peter S. 3). Dies zeigt, dass die Geschwindigkeit des
Strassenbahnwagens nicht übertrieben war. Denn bei der Bestimmung der
Fahrgeschwindigkeit vor und in der in Betracht kommenden Kurve durfte mit
richtigem Verhalten der Lenker von entgegenkommenden Fahrzeugen gerechnet und
musste also nicht darauf gesehen werden, dass der Strassenbahnwagen unter
allen Umständen noch vor dem Einfahren in die Kurve zum Stehen gebracht werden
könne, sobald sein Führer eines entgegenkommenden Fahrzeuges ansichtig werde,
dessen Lenker es vielleicht einfallen könnte, den Vortritt auf der Fahrbahn
der Strassenbahn für sich zu beanspruchen.
Das Bundesgericht erachtet das von der Klägerin zu vertretende Mitverschulden
ihres Chauffeurs als überwiegende Ursache der Schädigung und glaubt ihm durch
weitergehende Herabsetzung der Ersatzpflicht der Beklagten, nämlich auf einen
Drittel, Rechnung tragen zu sollen.
Die Festsetzung des Schadens ist nicht angefochten und im übrigen wesentlich
eine der Nachprüfung durch das Bundesgericht entzogene Tatfrage.
Demnach erkennt das Bundesgericht:
Die Anschlussberufung wird abgewiesen, dagegen die Hauptberufung teilweise
dahin begründet erklärt, dass in Abänderung des angefochtenen Urteiles der von
der Beklagten zu zahlende Schadenersatz auf 2130 Fr. nebst 5% Zins seit 18.
Juni 1928 bestimmt wird.
Entscheidinformationen   •   DEFRITEN
Dokument : 56 II 90
Datum : 01. Januar 1930
Publiziert : 20. Februar 1930
Quelle : Bundesgericht
Status : 56 II 90
Sachgebiet : BGE - Zivilrecht
Gegenstand : Zusammenstoss zwischen Strassenbahn und Automobil an verkehrsgefährlicher Stelle...


Gesetzesregister
OR: 58
SR 220 Erste Abteilung: Allgemeine Bestimmungen Erster Titel: Die Entstehung der Obligationen Erster Abschnitt: Die Entstehung durch Vertrag
OR Art. 58 - 1 Der Eigentümer eines Gebäudes oder eines andern Werkes hat den Schaden zu ersetzen, den diese infolge von fehlerhafter Anlage oder Herstellung oder von mangelhafter Unterhaltung verursachen.
1    Der Eigentümer eines Gebäudes oder eines andern Werkes hat den Schaden zu ersetzen, den diese infolge von fehlerhafter Anlage oder Herstellung oder von mangelhafter Unterhaltung verursachen.
2    Vorbehalten bleibt ihm der Rückgriff auf andere, die ihm hierfür verantwortlich sind.
BGE Register
25-II-561 • 33-II-564 • 49-II-254 • 56-II-90
Stichwortregister
Sortiert nach Häufigkeit oder Alphabet
strassenbahn • chauffeur • kurve • trottoir • beklagter • bundesgericht • schaden • stelle • fuhrwerk • weiler • verhalten • automobil • vortritt • schweres verschulden • fehlerhafte anlage • rechtssubjekt • richtigkeit • zins • biel • berechnung
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