131 I 242
26. Auszug aus dem Urteil der I. Zivilabteilung i.S. X. gegen Y. AG sowie Präsident des Appellationsgerichts des Kantons Basel-Stadt (Staatsrechtliche Beschwerde) 4P.315/2004 vom 9. März 2005
Regeste (de):
- "Kleine Appellation" nach dem Zivilprozessrecht des Kantons Basel-Stadt; aufschiebende Wirkung; derogatorische Kraft des Bundesrechts (Art. 49 Abs. 1
SR 101 Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft vom 18. April 1999
BV Art. 49 Vorrang und Einhaltung des Bundesrechts - 1 Bundesrecht geht entgegenstehendem kantonalem Recht vor.
1 Bundesrecht geht entgegenstehendem kantonalem Recht vor. 2 Der Bund wacht über die Einhaltung des Bundesrechts durch die Kantone. - Richtet sich die "kleine Appellation" gegen einen Entscheid betreffend Mieterausweisung und Wirksamkeit der ausserordentlichen Vermieterkündigung (Kompetenzattraktion gemäss Art. 274g
SR 220 Erste Abteilung: Allgemeine Bestimmungen Erster Titel: Die Entstehung der Obligationen Erster Abschnitt: Die Entstehung durch Vertrag
OR Art. 274g
Regeste (fr):
- "Kleine Appellation" selon le droit de procédure civile du canton de Bâle-Ville; effet suspensif; force dérogatoire du droit fédéral (art. 49 al. 1 Cst.).
- Quand la "kleine Appellation" est dirigée contre une décision portant sur l'expulsion d'un locataire et sur la validité du congé extraordinaire donné par le bailleur (attraction de compétence selon l'art. 274g CO), l'effet suspensif doit lui être octroyé en vertu du droit fédéral, lorsque, dans le cas contraire, le locataire perd la possibilité de déférer la décision cantonale rendue sur recours au Tribunal fédéral, par la voie du recours en réforme (consid. 2 et 3).
Regesto (it):
- "Kleine Appellation" secondo il diritto di procedura civile del Cantone Basilea-Città; effetto sospensivo; forza derogatoria del diritto federale (art. 49 cpv. 1 Cost.).
- Alla "kleine Appellation" diretta contro una decisione che verte sullo sfratto del conduttore e sulla validità di una disdetta straordinaria significata dal locatore (attrazione di competenza ex art. 274g CO) va conferito effetto sospensivo, sulla base del diritto federale, qualora il conduttore venga altrimenti privato della possibilità di impugnare con ricorso per riforma al Tribunale federale la decisione cantonale resa su ricorso (consid. 2 e 3).
Sachverhalt ab Seite 243
BGE 131 I 242 S. 243
A. Am 24. Oktober 2003 schloss X. als Mieter mit der Y. AG einen Mietvertrag über ein Einfamilienhaus an der Z.-strasse in Basel zu einem monatlichen Mietzins von Fr. 4'550.-. Als Zweck des Mietobjekts wurde "Wohnen" sowie "Geschäft" angegeben. Gemäss Vertrag begann das Mietverhältnis am 15. November 2003 und wurde auf vier Jahre fest abgeschlossen mit der Möglichkeit, es auf Ablauf der festen Dauer unter Einhaltung einer Frist von sechs Monaten zu kündigen. Am 17. Juni 2004 kündigte die Vermieterin den Mietvertrag wegen Zahlungsverzugs des Mieters (Art. 257d
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SR 220 Erste Abteilung: Allgemeine Bestimmungen Erster Titel: Die Entstehung der Obligationen Erster Abschnitt: Die Entstehung durch Vertrag OR Art. 257d - 1 Ist der Mieter nach der Übernahme der Sache mit der Zahlung fälliger Mietzinse oder Nebenkosten im Rückstand, so kann ihm der Vermieter schriftlich eine Zahlungsfrist setzen und ihm androhen, dass bei unbenütztem Ablauf der Frist das Mietverhältnis gekündigt werde. Diese Frist beträgt mindestens zehn Tage, bei Wohn- und Geschäftsräumen mindestens 30 Tage. |
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1 | Ist der Mieter nach der Übernahme der Sache mit der Zahlung fälliger Mietzinse oder Nebenkosten im Rückstand, so kann ihm der Vermieter schriftlich eine Zahlungsfrist setzen und ihm androhen, dass bei unbenütztem Ablauf der Frist das Mietverhältnis gekündigt werde. Diese Frist beträgt mindestens zehn Tage, bei Wohn- und Geschäftsräumen mindestens 30 Tage. |
2 | Bezahlt der Mieter innert der gesetzten Frist nicht, so kann der Vermieter fristlos, bei Wohn- und Geschäftsräumen mit einer Frist von mindestens 30 Tagen auf Ende eines Monats kündigen. |
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SR 220 Erste Abteilung: Allgemeine Bestimmungen Erster Titel: Die Entstehung der Obligationen Erster Abschnitt: Die Entstehung durch Vertrag OR Art. 274g |
B. X. gelangte mit Beschwerde gemäss §§ 242 ff. ZPO/BS (Basel- Städtische Zivilprozessordnung vom 8. Februar 1875; GS 221.100) an das Appellationsgericht des Kantons Basel-Stadt mit den Anträgen, den Entscheid des Zivilgerichts vom 11. Oktober 2004 aufzuheben und die Nichtigkeit bzw. Unwirksamkeit der Kündigung vom 17. Juni 2004 festzustellen. Der Beschwerdeführer stellte zudem das Gesuch, es sei festzustellen, dass der Beschwerde aufschiebende Wirkung zukomme, bzw. es sei der Beschwerde die aufschiebende Wirkung zu erteilen.
Der Präsident des Appellationsgerichts verfügte am 25. Oktober 2004, der Beschwerde werde vorläufig die aufschiebende Wirkung zuerkannt. Am 10. Dezember 2004 erliess er nach Einholung der Vernehmlassungen der Gegenpartei und des Einzelrichters eine weitere Verfügung, mit welcher er die vorläufige Bewilligung der
BGE 131 I 242 S. 244
aufschiebenden Wirkung widerrief und das Gesuch um aufschiebende Wirkung abwies (Dispositivziffer 3). Zur Begründung führte er aus, die Beschwerde erscheine beim gegenwärtigen Stand des Schriftenwechsels als zu wenig aussichtsreich, um die aufschiebende Wirkung zu rechtfertigen.
C. X. hat staatsrechtliche Beschwerde eingereicht mit den Anträgen, Ziffer 3 der Verfügung des Präsidenten des Appellationsgerichts des Kantons Basel-Stadt vom 10. Dezember 2004 aufzuheben und der vor dem Appellationsgericht hängigen Beschwerde die aufschiebende Wirkung zuzusprechen bzw. festzustellen, dass der Beschwerde aufschiebende Wirkung zukommt. Auf Gesuch des Beschwerdeführers ist seiner staatsrechtlichen Beschwerde mit Präsidialverfügung vom 21. Januar 2005 die aufschiebende Wirkung gewährt worden. Das Bundesgericht heisst die Beschwerde gut und hebt die Dispositivziffer 3 der Verfügung des Präsidenten des Appellationsgerichts auf.
Erwägungen
Aus den Erwägungen:
2.
2.1 Der Ausweisungsentscheid des Einzelrichters in Zivilsachen erging im summarischen Verfahren (STAEHELIN/SUTTER, Zivilprozessrecht, § 17 Rz. 2 S. 208), wobei der Richter in Anwendung von § 264 Abs. 3 ZPO/BS bzw. Art. 274g Abs. 1 lit. a
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SR 220 Erste Abteilung: Allgemeine Bestimmungen Erster Titel: Die Entstehung der Obligationen Erster Abschnitt: Die Entstehung durch Vertrag OR Art. 274g |
BGE 131 I 242 S. 245
auf die Willkürprüfung dort abzurücken sei, wo der Entscheid des Appellationsgerichts als obere kantonale Instanz von der Sache her berufungsfähig sei. Nach der bundesrechtlichen Regelung (Art. 48 Abs. 1
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2.2 In der Begründung der angefochtenen Verfügung wird vorgebracht, der Umstand, dass die Beschwerde wegen der Berufungsfähigkeit gemäss Art. 48
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SR 220 Erste Abteilung: Allgemeine Bestimmungen Erster Titel: Die Entstehung der Obligationen Erster Abschnitt: Die Entstehung durch Vertrag OR Art. 274g |
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SR 220 Erste Abteilung: Allgemeine Bestimmungen Erster Titel: Die Entstehung der Obligationen Erster Abschnitt: Die Entstehung durch Vertrag OR Art. 274g |
2.3 Mit der staatsrechtlichen Beschwerde wird die Verletzung des Grundsatzes der derogatorischen Kraft des Bundesrechts (Art. 49 Abs. 1
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SR 101 Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft vom 18. April 1999 BV Art. 49 Vorrang und Einhaltung des Bundesrechts - 1 Bundesrecht geht entgegenstehendem kantonalem Recht vor. |
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1 | Bundesrecht geht entgegenstehendem kantonalem Recht vor. |
2 | Der Bund wacht über die Einhaltung des Bundesrechts durch die Kantone. |
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SR 101 Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft vom 18. April 1999 BV Art. 9 Schutz vor Willkür und Wahrung von Treu und Glauben - Jede Person hat Anspruch darauf, von den staatlichen Organen ohne Willkür und nach Treu und Glauben behandelt zu werden. |
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SR 101 Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft vom 18. April 1999 BV Art. 49 Vorrang und Einhaltung des Bundesrechts - 1 Bundesrecht geht entgegenstehendem kantonalem Recht vor. |
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1 | Bundesrecht geht entgegenstehendem kantonalem Recht vor. |
2 | Der Bund wacht über die Einhaltung des Bundesrechts durch die Kantone. |
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SR 101 Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft vom 18. April 1999 BV Art. 9 Schutz vor Willkür und Wahrung von Treu und Glauben - Jede Person hat Anspruch darauf, von den staatlichen Organen ohne Willkür und nach Treu und Glauben behandelt zu werden. |
BGE 131 I 242 S. 246
3. Mit Art. 274g
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SR 220 Erste Abteilung: Allgemeine Bestimmungen Erster Titel: Die Entstehung der Obligationen Erster Abschnitt: Die Entstehung durch Vertrag OR Art. 274g |
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3.1 Die Vereinigung bei der Ausweisungsbehörde führt indessen zu Problemen, wenn das Ausweisungsverfahren nach dem kantonalen Recht so ausgestaltet ist, dass es keine umfassende Prüfung und Beurteilung der Streitsache erlaubt oder grundsätzlich nicht zu deren rechtskräftiger Erledigung führt. In diesen Fällen besteht ein Gegensatz zur gerichtlichen Beurteilung der Frage der Kündigungswirkung, da für ein solches Verfahren einerseits die Offizialmaxime im Sinne von Art. 274d Abs. 3
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3.2 Der Eingriff des Bundesrechts wirkt sich indessen nicht nur auf die Ausgestaltung des erstinstanzlichen Prozesses, sondern auch auf jene des kantonalen Rechtsmittelverfahrens aus. Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichts ist der verfassungsmässige Grundsatz der derogatorischen Kraft des Bundesrechts verletzt, wenn kantonale prozessuale Vorschriften die Möglichkeit der Berufung an das Bundesgericht in Streitsachen ausschliessen, die
BGE 131 I 242 S. 247
gemäss den Art. 43 ff
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1 | Bundesrecht geht entgegenstehendem kantonalem Recht vor. |
2 | Der Bund wacht über die Einhaltung des Bundesrechts durch die Kantone. |
3.3 Festzuhalten ist zunächst, dass sich die vom Beschwerdeführer angerufene Autorin an der zitierten Stelle zum Fall des reinen Ausweisungsverfahrens ohne Kompetenzattraktion äussert, über den hier nicht zu entscheiden ist. Das Bundesgericht hat sich vielmehr auf die Prüfung der Frage zu beschränken, ob die Verfügung des Appellationsgerichtspräsidenten betreffend Entzug der aufschiebenden Wirkung unter den gegebenen Umständen gegen den verfassungsmässigen Grundsatz der derogatorischen Kraft des Bundesrechts verstösst.
Diese Frage ist zu bejahen. Wie erörtert wurde, ist der erwähnte Grundsatz verletzt, wenn kantonale Prozessvorschriften die Möglichkeit der Berufung an das Bundesgericht in Streitsachen ausschliessen, die gemäss Art. 43 ff
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1 | Bundesrecht geht entgegenstehendem kantonalem Recht vor. |
2 | Der Bund wacht über die Einhaltung des Bundesrechts durch die Kantone. |
BGE 131 I 242 S. 248
die angefochtene Verfügung im Ergebnis zur Folge haben, dass der Beschwerdeführer am Weiterzug der Streitsache mittels Berufung an das Bundesgericht gehindert wird. Würde nämlich die vom Einzelrichter des Zivilgerichts mit dem Entscheid vom 11. Oktober 2004 angeordnete Ausweisung vollstreckt, entfiele - wie der Beschwerdeführer zutreffend geltend macht - sein Rechtsschutzinteresse an der Weiterführung des kantonalen Beschwerdeverfahren bzw. an einem Entscheid des Appellationsgerichts über die Rechtmässigkeit von Kündigung sowie Ausweisung und das Beschwerdeverfahren wäre als gegenstandlos abzuschreiben (vgl. BGE 85 II 286 E. 2).
Daran vermag § 264 Abs. 4 ZPO/BS nichts zu ändern. Dort wird festgehalten, dass der Mieter nach der Vollstreckung der im Verfahren gemäss Art. 274g
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SR 220 Erste Abteilung: Allgemeine Bestimmungen Erster Titel: Die Entstehung der Obligationen Erster Abschnitt: Die Entstehung durch Vertrag OR Art. 274g |
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SR 101 Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft vom 18. April 1999 BV Art. 49 Vorrang und Einhaltung des Bundesrechts - 1 Bundesrecht geht entgegenstehendem kantonalem Recht vor. |
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1 | Bundesrecht geht entgegenstehendem kantonalem Recht vor. |
2 | Der Bund wacht über die Einhaltung des Bundesrechts durch die Kantone. |
BGE 131 I 242 S. 249
Die weitere Rüge des Beschwerdeführers, die angefochtene Verfügung verletze auch Art. 9
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SR 101 Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft vom 18. April 1999 BV Art. 9 Schutz vor Willkür und Wahrung von Treu und Glauben - Jede Person hat Anspruch darauf, von den staatlichen Organen ohne Willkür und nach Treu und Glauben behandelt zu werden. |