122 I 49
9. Auszug aus dem Urteil der II. öffentlichrechtlichen Abteilung vom 27. Februar 1996 i.S. Jamal Miri gegen Richteramt I/II von Bern (staatsrechtliche Beschwerde)
Regeste (de):
- Art. 4
SR 101 Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft vom 18. April 1999
BV Art. 4 Landessprachen - Die Landessprachen sind Deutsch, Französisch, Italienisch und Rätoromanisch.
- Analogie zur Verbeiständung im Strafverfahren und im Haftprüfungsverfahren bei Untersuchungshaft sowie bei Auslieferungshaft (E. 2c). Einem in Ausschaffungshaft genommenen bedürftigen Ausländer darf der unentgeltliche Rechtsbeistand zumindest im Haftverlängerungsverfahren nicht verweigert werden (E. 2c u. d).
Regeste (fr):
- Art. 4 Cst.; droit à l'assistance d'un avocat d'office dans la procédure de renvoi.
- Analogie avec l'assistance judiciaire dans la procédure pénale et dans la procédure d'examen en vue de la détention préventive ou de l'extradition (consid. 2c). L'assistance judiciaire ne peut pas être refusée à un étranger indigent détenu en vue de son refoulement, tout au moins dans la procédure en prolongation de la détention (consid. 2c et 2d).
Regesto (it):
- Art. 4 Cost.; diritto a un patrocinatore d'ufficio nella procedura di carcerazione in vista di sfratto.
- Analogia con l'assistenza giudiziaria nella procedura penale e nella procedura di controllo della detenzione preventiva nonché della carcerazione ai fini di estradizione (consid. 2c). L'assistenza giudiziaria non può essere rifiutata a uno straniero indigente detenuto in vista di sfratto, perlomeno nella procedura di proroga della carcerazione (consid. 2c e 2d).
Sachverhalt ab Seite 49
BGE 122 I 49 S. 49
Jamal Miri ist abgewiesener Asylbewerber aus dem Libanon; im Asylverfahren wurde er rechtskräftig aus der Schweiz weggewiesen. Die Fremdenpolizei des Kantons Bern nahm ihn am 9. März 1995 in Ausschaffungshaft. Der Gerichtspräsident II von Bern lehnte am 3. Mai 1995 ein Haftentlassungsgesuch von Jamal Miri ab; die gegen diesen
BGE 122 I 49 S. 50
Entscheid erhobene Verwaltungsgerichtsbeschwerde wies das Bundesgericht am 20. Juni 1995 ab (Verfahren 2A.222/1995). Am 7. Juni 1995 hiess der Gerichtspräsident II von Bern einen Antrag der Fremdenpolizei auf Verlängerung der Ausschaffungshaft um sechs Monate gut. In Ziff. 2 des Entscheiddispositivs wurde das Gesuch von Jamal Miri um Beiordnung des ihn im Haftverlängerungsverfahren vertretenden Fürsprechers als amtlicher (unentgeltlicher) Anwalt abgewiesen. Am 30. Juni 1995 erhob Jamal Miri gegen den Haftverlängerungsentscheid vom 7. Juni 1995 in der Sache selber Verwaltungsgerichtsbeschwerde (2A.273/1995), welche am 12. Juli 1995 gutgeheissen wurde (BGE 121 II 110), und betreffend Verweigerung des amtlichen Anwalts (Ziff. 2 des Dispositivs) staatsrechtliche Beschwerde. Das Bundesgericht heisst die staatsrechtliche Beschwerde gut und hebt Ziff. 2 des angefochtenen Entscheids auf.
Erwägungen
Aus den Erwägungen:
2. a) Der Umfang des Anspruchs auf unentgeltliche Verbeiständung bestimmt sich zunächst nach den Vorschriften des kantonalen Rechts. Die unmittelbar aus Art. 4
SR 101 Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft vom 18. April 1999 BV Art. 4 Landessprachen - Die Landessprachen sind Deutsch, Französisch, Italienisch und Rätoromanisch. |
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BGE 122 I 49 S. 51
vom 6. Juni 1995 keine heiklen Rechtsfragen aufwerfe und keinen neuen Sachverhalt vorbringe, sowie dass sich die von Zwangsmassnahmen im Ausländerrecht Betroffenen nicht gegen strafrechtliche Vorwürfe zu verteidigen hätten und deshalb die Schwelle für die Einsetzung eines amtlichen Anwalts höher anzusetzen sei als in einem Strafverfahren. c) aa) Im richterlichen Verfahren zur Überprüfung fremdenpolizeilicher Zwangsmassnahmen geht es um die Rechtmässigkeit der gegen einen Ausländer angeordneten Haft. Wie gerade die eben wiedergegebene Begründung im angefochtenen Entscheid zeigt, ergeben sich für die Beantwortung der Frage, ob dem Ausländer in diesem Verfahren ein Anwalt beizugeben sei, Analogien zur Verbeiständung im Strafverfahren und im Haftprüfungsverfahren bei Untersuchungshaft sowie bei Auslieferungshaft (ANDREAS ZÜND, Zwangsmassnahmen im Ausländerrecht, Verfahrensfragen, AJP 1995, S. 854 ff., S. 856/57).
bb) Gestützt auf Art. 4
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BGE 122 I 49 S. 52
Bedrohten liegende Gründe, wie etwa dessen Fähigkeiten, sich im Verfahren zurecht zu finden (vgl. BGE 120 Ia 43 E. 3a S. 46 ff., BGE 117 Ia 277 E. 5b S. 281 ff., BGE 115 Ia 103 S. 106). Es stellt sich die Frage, ab welcher Dauer drohenden konkreten Freiheitsentzugs in jedem Fall, also auch ohne besondere Schwierigkeiten rechtlicher oder tatsächlicher Natur, ein unentgeltlicher Rechtsanwalt beigegeben werden muss. Die Praxis scheint der Grenze von 18 Monaten Bedeutung beizumessen (BGE 115 Ia 103 E. 4 S. 105). Dies hängt damit zusammen, dass erst ab dieser Strafdauer der bedingte Strafvollzug ausgeschlossen und zwingend mit einer tatsächlich zu vollziehenden Freiheitsstrafe zu rechnen ist. Droht konkret von vornherein ein tatsächlicher Freiheitsentzug, muss die Grenze jedenfalls wesentlich tiefer liegen. Es genügt, dass mehr als "einige" Wochen oder Monate Haft zu erwarten sind (BGE 120 Ia 43 E. 2b S. 46). cc) Die Ausschaffungshaft kann vorerst für drei Monate angeordnet werden (Art. 13b Abs. 2
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BGE 122 I 49 S. 53
"soziale Kompetenz von (in Ausschaffungshaft genommenen) Ausländern in unserem Rechts- und Kulturkreis" ist jedenfalls erheblich eingeschränkt (ZÜND, a.a.O., S. 857). Zumindest im Haftverlängerungsverfahren nach drei Monaten darf einem bedürftigen Häftling der unentgeltliche Rechtsbeistand grundsätzlich nicht verweigert werden. Unter welchen Umständen eine solche Verbeiständung verfassungsrechtlich allenfalls schon vorher geboten sein kann, braucht vorliegend nicht geprüft zu werden. d) Im vorliegenden Fall hatte der Haftrichter zu prüfen, ob sich eine Verlängerung der bereits drei Monate dauernden Ausschaffungshaft um sechs Monate rechtfertige. Es ging damit um einen Eingriff in die Rechtsstellung des Beschwerdeführers von erheblicher Tragweite. Die Erwägungen des ersten den Beschwerdeführer betreffenden bundesgerichtlichen Urteils vom 20. Juni 1995 (Verfahren 2P.222/1995) zeigen sodann, dass die Beurteilung des Haftgrundes von Art. 13b Abs. 1 lit. c
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