119 Ia 4
2. Auszug aus dem Urteil der I. öffentlichrechtlichen Abteilung vom 18. Januar 1993 i.S. X gegen Schweizerische Depeschenagentur sowie Generalprokurator-Stellvertreterin und Anklagekammer des Obergerichts des Kantons Bern (staatsrechtliche Beschwerde)
Regeste (de):
- Art. 4
SR 101 Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft vom 18. April 1999
BV Art. 4 Landessprachen - Die Landessprachen sind Deutsch, Französisch, Italienisch und Rätoromanisch.
- Lassen die konkreten Umstände den Schluss zu, dass ein Strafanzeiger als Geschädigter Parteistellung im Strafverfahren beanspruchen möchte, verstösst es gegen Art. 4
SR 101 Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft vom 18. April 1999
BV Art. 4 Landessprachen - Die Landessprachen sind Deutsch, Französisch, Italienisch und Rätoromanisch.
Regeste (fr):
- Art. 4 Cst.; formalisme excessif.
- Il est contraire à l'art. 4 Cst. de dénier au dénonciateur l'exercice de droits de partie, sans l'entendre préalablement, lorsque les circonstances concrètes font apparaître qu'il entend, comme lésé, se prévaloir de la qualité de partie dans la procédure pénale.
Regesto (it):
- Art. 4 Cost.; formalismo eccessivo.
- Viola l'art. 4 Cost. negare al denunciante l'esercizio dei diritti di parte, senza averlo precedentemente udito, quando le circostanze concrete lascino presumere che egli intenda, come leso, prevalersi della qualità di parte nell'ambito della procedura penale.
Sachverhalt ab Seite 4
BGE 119 Ia 4 S. 4
Am 2. Dezember 1991 verbreitete die Schweizerische Depeschenagentur (SDA) eine Pressemeldung, welche am 3. Dezember 1991 zumindest in der Zürcher Tageszeitung "Volksrecht" erschien. X reichte am 14. Februar 1992 wegen dieser Pressemeldung gegen einen oder mehrere unbekannte Mitarbeiter der SDA beim Untersuchungsrichteramt von Bern Strafanzeige ein wegen Verleumdung, eventuell übler Nachrede. Gestützt auf diese Anzeige forderte der Untersuchungsrichter unter anderem den Chefredaktor der SDA auf, den Namen des Verfassers der Pressemeldung bekanntzugeben. Dieser Aufforderung kam der Chefredaktor unter Hinweis darauf, dass er für die Publikationen die alleinige Verantwortung trage, nicht nach. Mit Entscheid vom 25. Februar 1992 gab der Untersuchungsrichter 9 von Bern der Anzeige von X keine Folge. Am 16. Juli 1992 stimmte die Staatsanwaltschaft Bern-Mittelland diesem Entscheid zu. Der Beschluss wurde X am 22. Juli 1992 eröffnet, wiewohl sie dem Untersuchungsrichter 9 von Bern zuvor schriftlich mitgeteilt hatte, dass sie vom 20. Juli bis 15. August 1992 im Ausland abwesend sein werde; die Gerichtsurkunde wurde durch ihren Ehemann in Empfang genommen. Gegen den Beschluss liess X durch ihren
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Anwalt Rekurs bei der Anklagekammer des Obergerichts des Kantons Bern führen. Die Anklagekammer trat darauf jedoch mit Entscheid vom 13. August 1992 nicht ein. Zur Begründung führte sie aus, X habe im Verfahren vor dem Untersuchungsrichter keine Parteistellung innegehabt, da sie sich nicht als Privatklägerin konstituiert habe. Daher fehle ihr die Legitimation zur Anfechtung der Verfügung, wonach ihrer Strafanzeige keine Folge gegeben werde. Die von X dagegen gerichtete staatsrechtliche Beschwerde wird vom Bundesgericht gutgeheissen.
Erwägungen
Das Bundesgericht zieht in Erwägung:
1. Nach der Praxis des Bundesgerichts ist der durch eine angeblich strafbare Handlung Geschädigte grundsätzlich nicht legitimiert, gegen die Einstellung eines Strafverfahrens oder gegen ein freisprechendes Urteil staatsrechtliche Beschwerde zu erheben. Der Geschädigte hat an der Verfolgung und Bestrafung des Täters nur ein tatsächliches oder mittelbares Interesse im Sinne der Rechtsprechung zu Art. 88
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übrigen Sachurteilsvoraussetzungen erfüllt sind, ist auf die staatsrechtliche Beschwerde einzutreten.
2. Die Beschwerdeführerin rügt im wesentlichen, die Anklagekammer sei in überspitzten Formalismus verfallen, indem diese auf den Rekurs gegen die Nichtfolgegebung der Strafanzeige durch den Untersuchungsrichter 9 von Bern nicht eintrat. a) Überspitzter Formalismus als besondere Form der Rechtsverweigerung liegt insbesondere vor, wenn eine Behörde formelle Vorschriften mit übertriebener Schärfe handhabt oder an Rechtsschriften überspannte Anforderungen stellt und damit dem Bürger den Rechtsweg in unzulässiger Weise versperrt. Das Bundesgericht prüft frei, ob eine solche Rechtsverweigerung vorliegt und der angefochtene Entscheid damit gegen Art. 4
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b) Gegen einen Nichteröffnungsbeschluss im Sinne von Art. 84 StrV/BE kann nach Absatz 5 dieser Bestimmung nur der Privatkläger Rekurs an die Anklagekammer erheben. Dabei genügt es nach der Praxis der Anklagekammer nicht, wenn sich jemand erst in der Rekursschrift als Privatkläger konstituiert. Das Bundesgericht hat in einem den Kanton Bern betreffenden Entscheid vom 9. September 1981 diese Praxis als grundsätzlich verfassungsrechtlich haltbar bezeichnet (unveröffentlichtes Urteil i.S. W. S.; vgl. jedoch E. 3b-c hienach). c) Nach bernischem Strafprozessrecht kann sich am Verfahren beteiligen, wer durch eine strafbare Handlung unmittelbar in seinen rechtlich geschützten Interessen verletzt wurde. Verletzter in diesem Sinn ist auch der zum Strafantrag Berechtigte (vgl. Art. 43 Abs. 1 StrV/BE). Die Privatklage kann vom Verletzten auf zwei Arten angebracht werden. Entweder durch eine "Erklärung zuhanden der Strafgerichtsbehörden", wonach er Bestrafung eines (bekannten oder unbekannten) Beschuldigten verlange und Parteirechte ausüben wolle, oder durch Einreichung einer Zivilklage bei den Strafgerichtsbehörden (vgl. Art. 43 Abs. 3 StrV/BE).
aa) Eine Privatklage kann in der Strafanzeige, während der gerichtspolizeilichen Ermittlungen oder im Verlaufe des nachherigen Strafverfahrens bis zum Schluss der Parteiverhandlungen in erster Instanz, aber stets nur schriftlich oder zu Protokoll erklärt werden (vgl. Art. 43 Abs. 4 StrV/BE). Darüber hinaus stellt Art. 43 StrV/BE keine besonderen Formvorschriften zur Konstituierung als Privatkläger auf. Es
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muss daher jede Erklärung genügen, aus der hervorgeht, dass der Geschädigte im Verfahren Parteirechte ausüben will, und zwar nicht nur hinsichtlich einer zivilrechtlichen Forderung, sondern auch im Strafpunkt (unveröffentlichte Urteile des Bundesgerichts vom 21. September 1990 i.S. Dr. T. und Mitb., E. 1c/cc, und vom 26. Dezember 1986 i.S. Eheleute M., E. 2b; vgl. JÜRG AESCHLIMANN, Das Bernische Strafverfahren, Allgemeiner Teil, 2. Auflage, Bern 1989, S. 94; GÉRARD PIQUEREZ, Traité de procédure pénale bernoise et jurassienne, tome I, Neuchâtel 1983, S. 198; FRITZ FALB, Das bernische Strafverfahren, 3. Auflage, Bern 1975, S. 215 f.).
bb) In Erwägung 2 des angefochtenen Entscheids hat die Anklagekammer unter Hinweis auf ihre ständige Praxis ausgeführt, von Staates wegen bestehe kein Interesse daran, dass sich neben dem Staatsanwalt eine weitere Partei am Verfahren beteilige. Wer die mit der Parteistellung verbundenen besonderen Rechte beanspruchen und auch das Kostenrisiko auf sich nehmen wolle, habe daher selber dafür besorgt zu sein, dass die zur Konstituierung als Privatkläger nötige Erklärung rechtzeitig und formgerecht erfolge. Die Strafverfolgungsbehörden seien nicht verpflichtet, einen (angeblich) Verletzten darauf aufmerksam zu machen, dass er sich als Privatkläger stellen könne; die Untersuchungsorgane treffe keine solche Hinweis- oder Befragungspflicht. Eine Ausnahme von dieser Regel bestehe dann, wenn die Abhörung des Verletzten im Strafverfahren nötig werde. In einem solchen Fall habe der (Untersuchungs-)Richter den Verletzten zu fragen, ob er als Privatkläger oder als Zeuge einvernommen werden wolle, und er habe ihm entsprechend auch Gelegenheit zu geben, sich zur Frage der Privatklägerschaft zu äussern. In der Literatur ist dargelegt worden, dass sich die Praxis mit dieser (ausnahmsweisen) Befragungs- und Hinweispflicht nicht selten schwer tut (vgl. PETER WYSS, Aus der Praxis der Anklagekammer 1976-1983, ZBJV 112 (1986) 266 f.; PETER STAUB, Kommentar zum bernischen Strafverfahren, Bern 1992, N 13 zu Art. 39-45 StrV). d) Nicht jede prozessuale Formstrenge steht mit Art. 4
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Entgegen der Auffassung der Beschwerdeführerin macht es durchaus Sinn, dass das bernische Strafverfahren streng zwischen der prozessualen Stellung als Strafantragsteller bzw. Anzeiger einerseits und derjenigen als Privatkläger anderseits unterscheidet. Da der Strafanspruch, um den es im Strafverfahren geht, ausschliesslich dem Staat zukommt, besteht kein Öffentliches Interesse daran, dass jeder Verletzte automatisch als Partei auftritt. Art. 39 Abs. 1 StrV/BE sieht ausdrücklich nur den Privatkläger, nicht aber den Strafantragsteller bzw. Anzeiger als Prozesspartei vor. Als Partei geniesst der Privatkläger im Verfahren gewisse Rechte (s. Art. 84 Abs. 4 und 5 sowie Art. 95 ff., 134 f., 241 und 252 StrV/BE). Umgekehrt trifft ihn aber auch ein gewisses Kostenrisiko (Art. 263 StrV/BE). Der Entscheid darüber, ob er sich als Partei am Strafverfahren beteiligen will oder nicht, muss dem Verletzten überlassen bleiben. Es rechtfertigt sich daher, vom Privatkläger eine hinreichend klare Äusserung darüber zu verlangen, dass er diese Stellung im Prozess beanspruchen möchte. Sie folgt nach dem Gesagten jedenfalls nicht bereits aus dem Umstand, dass jemand Strafantrag gestellt bzw. Strafanzeige erstattet hat.
3. Die vom kantonalen Recht für die Ausübung von Parteirechten als Verletzter geforderte ausdrückliche Erklärung, sich als Privatkläger konstituieren zu wollen, ist nach dem Gesagten nicht verfassungswidrig. Es fragt sich jedoch, ob die Annahme mit Art. 4
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a) Die Beschwerdeführerin äusserte sich in ihrer (Laien-)Eingabe vom 14. Februar 1992 an das Untersuchungsrichteramt Bern in verfahrensrechtlicher Hinsicht und soweit hier von Interesse wörtlich wie folgt: "J'ai l'honneur de déposer plainte pénale contre un ou plusieurs inconnus, collaborateurs de la Schweizerische Depeschenagentur précitée, et contre toute personne que l'enquête révélera avoir participé aux faits ci-après, pour calomnie, subsidiairement diffamation, sauf votre meilleure appréciation, et pour motifs que voici: (...)" Für sich allein betrachtet, liegt hierin keine eindeutige Erklärung, die zum Schluss zwänge, die Beschwerdeführerin habe sich als Privatklägerin im Sinne von Art. 43 StrV/BE konstituieren wollen. Im vorliegenden Fall darf indessen zur Beantwortung der Frage, ob der
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Beschwerdeführerin die Stellung als Privatklägerin zukomme, nicht nur auf deren oben zitierte Äusserung in der Eingabe vom 14. Februar 1992 an den Untersuchungsrichter abgestellt werden. Vielmehr sind weitere Umstände beachtlich. Aus den Akten ergibt sich insbesondere, dass der Untersuchungsrichter seinen Beschluss, der Anzeige keine Folge zu geben, zwar ohne Parteiverhandlung, aber erst nach Durchführung von Instruktionsmassnahmen gefasst hat. Erst gestützt darauf wurde klar, dass der Chefredaktor der SDA gemäss Art. 27 Ziff. 3
SR 311.0 Schweizerisches Strafgesetzbuch vom 21. Dezember 1937 StGB Art. 27 - Besondere persönliche Verhältnisse, Eigenschaften und Umstände, welche die Strafbarkeit erhöhen, vermindern oder ausschliessen, werden bei dem Täter oder Teilnehmer berücksichtigt, bei dem sie vorliegen. |
SR 311.0 Schweizerisches Strafgesetzbuch vom 21. Dezember 1937 StGB Art. 27 - Besondere persönliche Verhältnisse, Eigenschaften und Umstände, welche die Strafbarkeit erhöhen, vermindern oder ausschliessen, werden bei dem Täter oder Teilnehmer berücksichtigt, bei dem sie vorliegen. |
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Einwand von Anklagekammer und Generalprokurator-Stellvertreterin, wonach Hinweis- oder Befragungspflichten der Untersuchungsorgane in bezug auf die Privatklägerschaft nur bestehen sollen, wenn der Verletzte einvernommen wird, nicht aber, wenn sich aufgrund dessen schriftlicher Eingaben Zweifel aufdrängen, ob er sich als Privatkläger konstituieren wolle. Für eine derartige Unterscheidung sind keine sachliche Gründe ersichtlich. Die Abklärung darf nicht deshalb unterbleiben, weil ohne Vernehmung eine Nichtfolgegebung verfügt wird; zwischen der formellen und der materiellen Frage besteht insoweit kein Zusammenhang. Enthalten - wie hier - die Strafanzeige oder eine spätere Eingabe des Verletzten an die Untersuchungsbehörden Elemente, die nach den besonderen Umständen als Willenserklärung zu einer Privatklage verstanden werden können, für sich allein aber nicht völlig eindeutig sind, so kommt es überspitztem Formalismus und damit einer Verletzung von Art. 4
SR 101 Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft vom 18. April 1999 BV Art. 4 Landessprachen - Die Landessprachen sind Deutsch, Französisch, Italienisch und Rätoromanisch. |
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dass die Konstituierung als Privatkläger in der Rekursschrift nachgeholt werden könne (unveröffentlichtes Urteil i.S. F. B. gegen H. D. und Anklagekammer des Obergerichts des Kantons Bern, E. 3c). Da im vorliegenden Fall keine Parteiverhandlung stattgefunden hatte, konnte die Anklagekammer die oben erwähnte Rüge der Beschwerdeführerin nach dem gesamten Verfahrensverlauf vor den Untersuchungsbehörden nicht ohne Verletzung von Art. 4
SR 101 Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft vom 18. April 1999 BV Art. 4 Landessprachen - Die Landessprachen sind Deutsch, Französisch, Italienisch und Rätoromanisch. |