119 Ia 35
7. Urteil der II. öffentlichrechtlichen Abteilung vom 29. Januar 1993 i.S. Dr. S. gegen Obergericht des Kantons Zürich (staatsrechtliche Beschwerde)
Regeste (de):
- Zulassung zum Anwaltsberuf; Handels- und Gewerbefreiheit, Freizügigkeitsgarantie.
- 1. Tragweite der Freizügigkeitsgarantie von Art. 5 ÜbBest. BV (E. 1).
- 2. In der Schweiz niedergelassene ausländische Staatsangehörige können sich auf die Handels- und Gewerbefreiheit berufen (E. 2, Bestätigung der neueren Rechtsprechung).
- 3. Das Bürgerrechtserfordernis ist mit der Handels- und Gewerbefreiheit vereinbar, soweit damit die Vertrautheit mit den politischen und gesellschaftlichen Verhältnissen des Landes sichergestellt werden soll (Präzisierung der Rechtsprechung); diese Vertrautheit kann auch bei einem ausländischen Staatsangehörigen gegeben sein, diesfalls erweist sich das Bürgerrechtserfordernis als unverhältnismässig (E. 3-5).
Regeste (fr):
- Admission à la profession d'avocat; liberté du commerce et de l'industrie, libre circulation des personnes exerçant une profession libérale.
- 1. Portée de la garantie de la libre circulation des personnes exerçant une profession libérale au sens de l'art. 5 Disp. trans. Cst. (consid. 1).
- 2. Les étrangers établis en Suisse peuvent invoquer la garantie de la liberté du commerce et de l'industrie (consid. 2, confirmation de la nouvelle jurisprudence).
- 3. L'exigence du droit de cité suisse est compatible avec la liberté du commerce et de l'industrie dans la mesure où il s'agit d'assurer une connaissance suffisante des conditions politiques et sociales du pays (précision de la jurisprudence); cette connaissance peut aussi exister chez un ressortissant étranger; dans ce cas, l'exigence de la citoyenneté suisse s'avère disproportionnée (consid. 3-5).
Regesto (it):
- Ammissione alla professione di avvocato; libertà di commercio e d'industria, garanzia della libertà di circolazione.
- 1. Portata della garanzia della libertà di circolazione di cui all'art. 5 Dispo. trans. Cost. (consid. 1).
- 2. Gli stranieri domiciliati in Svizzera possono invocare la libertà di commercio e d'industria (consid. 2, conferma della nuova giurisprudenza).
- 3. L'esigenza della cittadinanza svizzera è compatibile con la libertà di commercio e d'industria, nella misura in cui si tratta di garantire una conoscenza sufficiente delle condizioni politiche e sociali del paese (precisazione della giurisprudenza); anche uno straniero può avere questa conoscenza: in tal caso l'esigenza della cittadinanza svizzera si rivela sproporzionata (consid. 3-5).
Sachverhalt ab Seite 36
BGE 119 Ia 35 S. 36
Dr. S., polnische Staatsangehörige, kam 1982 als Flüchtling in die Schweiz und erhielt 1987 die Niederlassungsbewilligung. Am 22. Dezember 1987 erteilte ihr das Obergericht des Kantons Basel-Landschaft gestützt auf die bestandene Fähigkeitsprüfung die Bewilligung (Befähigungsausweis) zur Ausübung der Advokatur im Kanton Basel-Landschaft. Am 19. Februar 1988 gewährte ihr auch das Appellationsgericht des Kantons Basel-Stadt die Bewilligung zur Ausübung der Advokatur in diesem Kanton, und am 12. Dezember 1990 erhielt sie (nach Ergreifung eines kantonalen Rechtsmittels, ZBl 92/1991, S. 207 ff.) die entsprechende Bewilligung im Kanton Aargau. Am 25. Februar 1992 stellte Dr. S. das Gesuch um Erteilung der Bewilligung zur Ausübung des Rechtsanwaltsberufs im Kanton Zürich. Mit Beschluss vom 15. April 1992 wies das Obergericht des Kantons Zürich dieses Gesuch ab, mit der Begründung, Dr. S. könne als ausländische Staatsangehörige die Bewilligung zur Ausübung des Rechtsanwaltsberufes nicht erlangen. Zur Begründung verwies das Obergericht auf § 1 in Verbindung mit § 3 des Anwaltsgesetzes des Kantons Zürich vom 3. Juli 1938, wonach das Schweizerbürgerrecht Voraussetzung für die Ausübung des Anwaltsberufs ist, sowie auf die bisherige Rechtsprechung des Bundesgerichts, welche das Erfordernis der schweizerischen Staatsangehörigkeit als mit der Verfassung vereinbar erachtet (BGE 116 Ia 237 ff.).
Mit Eingabe vom 26. Mai 1992 hat Dr. S. staatsrechtliche Beschwerde an das Bundesgericht erhoben. Das Bundesgericht heisst diese gut
Erwägungen
aus folgenden Erwägungen:
1. Die Beschwerdeführerin macht vorab eine Verletzung der Freizügigkeitsgarantie von Art. 5 ÜbBest. BV geltend. Diese
BGE 119 Ia 35 S. 37
Bestimmung steht im Zusammenhang mit Art. 33
SR 101 Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft vom 18. April 1999 BV Art. 33 Petitionsrecht - 1 Jede Person hat das Recht, Petitionen an Behörden zu richten; es dürfen ihr daraus keine Nachteile erwachsen. |
|
1 | Jede Person hat das Recht, Petitionen an Behörden zu richten; es dürfen ihr daraus keine Nachteile erwachsen. |
2 | Die Behörden haben von Petitionen Kenntnis zu nehmen. |
Vorliegend stellt das Obergericht nicht in Frage, dass die Beschwerdeführerin über den erforderlichen Fähigkeitsausweis verfügt. Die Erteilung der Bewilligung wird auch nicht von einer anderen Voraussetzung abhängig gemacht, welche die Freizügigkeit im dargestellten engeren Sinn tangiert. Das Obergericht hat die Bewilligung vielmehr deshalb verweigert, weil die Beschwerdeführerin nicht über das Schweizerbürgerrecht verfügt. Ob dies verfassungsrechtlich zulässig sei, misst sich an der Handels- und Gewerbefreiheit.
2. Nach der früheren bundesgerichtlichen Rechtsprechung konnte sich auf die Handels- und Gewerbefreiheit nur berufen, wer Schweizerbürger ist (BGE 55 I 223 E. 1; BGE 48 I 285 E. 1; BGE 47 I 50 E. 1). Der Ausländer war damit vom persönlichen Schutzbereich des Grundrechts ausgenommen. In BGE 108 Ia 148 hat das Bundesgericht diese Praxis dahin präzisiert, dass sich der Ausländer auf die Handels- und Gewerbefreiheit berufen könne, soweit er nicht
BGE 119 Ia 35 S. 38
gerade wegen seiner Ausländerqualität besonderen wirtschaftspolizeilichen Einschränkungen unterworfen sei. Der Ausländer konnte somit Grundrechtsträger sein, hingegen blieben ausländerspezifische Einschränkungen der privatwirtschaftlichen Erwerbstätigkeit, auch und gerade auf Grundlage kantonaler Gesetzgebung, generell vom Schutz durch die Handels- und Gewerbefreiheit ausgenommen. Dies erachtete das Bundesgericht in einem Urteil vom 12. Oktober 1990 als problematisch, weil damit der Geltungsbereich eines verfassungsmässigen Rechts nicht durch die Bundesverfassung selbst, sondern durch die jeweilige kantonale Gesetzgebung bestimmt würde. Das Bundesgericht konkretisierte daher den Schutzbereich der Handels- und Gewerbefreiheit im Lichte der Verfassung, wobei es auf Art. 69ter
SR 101 Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft vom 18. April 1999 BV Art. 33 Petitionsrecht - 1 Jede Person hat das Recht, Petitionen an Behörden zu richten; es dürfen ihr daraus keine Nachteile erwachsen. |
|
1 | Jede Person hat das Recht, Petitionen an Behörden zu richten; es dürfen ihr daraus keine Nachteile erwachsen. |
2 | Die Behörden haben von Petitionen Kenntnis zu nehmen. |
3. a) Die Erteilung des Fähigkeitszeugnisses auf Grund der zürcherischen Rechtsanwaltsprüfung bzw. der Berufsausübungsbewilligung gestützt auf einen ausserkantonalen Ausweis ist im Kanton Zürich an die Voraussetzung des Schweizerbürgerrechts geknüpft (§ 1 und § 3 Anwaltsgesetz). Die gesetzliche Grundlage für die Verweigerung der Bewilligung ist damit gegeben und wird von
BGE 119 Ia 35 S. 39
der Beschwerdeführerin auch nicht in Zweifel gezogen. Sie macht vielmehr geltend, für den Ausschluss von Ausländern vom Anwaltsberuf lasse sich kein überwiegendes öffentliches Interesse namhaft machen. b) Dazu hat das Bundesgericht im zitierten Urteil vom 12. Oktober 1990, wo die Nichtzulassung eines deutschen Staatsangehörigen zur bernischen Fürsprecherprüfung angefochten war, Stellung genommen. Dabei musste die Ausweitung des Geltungsbereichs der Handels- und Gewerbefreiheit zur Folge haben, dass das Bürgerrechtserfordernis nicht mehr - wie zuvor noch unter dem Gesichtswinkel von Art. 4
SR 101 Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft vom 18. April 1999 BV Art. 4 Landessprachen - Die Landessprachen sind Deutsch, Französisch, Italienisch und Rätoromanisch. |
4. Diese Argumentation kann nicht in vollem Umfang aufrechterhalten werden. Sie erfasst das öffentliche Interesse, das für das Bürgerrechtserfordernis namhaft gemacht werden kann, teilweise zu wenig präzis. Mit dem Argument, der Anwalt stehe als "Mitarbeiter der Rechtspflege" in enger Beziehung zum Staat, wird eine Verbindung zum Grundsatz hergestellt, dass die Beschäftigung im öffentlichen Dienst und insbesondere die Ausübung hoheitlicher Befugnisse regelmässig den Staatsbürgern vorbehalten ist. Der Anwalt ist aber "Mitarbeiter der Rechtspflege" nur insofern, als er die Rechtsuchenden bei
BGE 119 Ia 35 S. 40
der Verfolgung ihrer subjektiven Rechtsschutzinteressen unterstützt und damit mittelbar zur Verwirklichung der Rechtsordnung beiträgt (BGE 106 Ia 104). Staatliches Organ ist er gerade nicht; seine Funktion gebietet gegenteils Unabhängigkeit vom Staat (BGE 106 Ia 105). Der Anwalt unterliegt als "Mitarbeiter der Rechtspflege" zwar bestimmten Berufspflichten. Diese können aber auch von einem Ausländer erfüllt werden.
Fragwürdig ist auch, inwiefern zwischen politischen Rechten und Anwaltstätigkeit ein Zusammenhang bestehen soll. Schon den Frauen ist ursprünglich der Zugang zum Anwaltsberuf mit der Begründung verweigert worden, ihnen fehle das Stimm- und Wahlrecht (BGE 13 S. 1 ff.); obgleich aber die politischen Rechte weiterhin den Männern vorbehalten blieben, entschied das Bundesgericht im Jahre 1929, es sei verfassungswidrig und mit der Handels- und Gewerbefreiheit unvereinbar, der Frau die Tätigkeit als Anwältin länger zu verwehren (BGE 49 I 14). Politische Rechte üben im übrigen auch Anwälte mit Schweizerbürgerrecht nicht in allen Kantonen aus, in denen sie über eine Berufsausübungsbewilligung verfügen.
5. Hingegen ist daran festzuhalten, dass es im öffentlichen Interesse liegt, sicherzustellen, dass der Anwalt mit den politischen und gesellschaftlichen Verhältnissen des Landes vertraut sei. Dieses Erfordernis ist nicht identisch mit jenem der umfassenden Rechtskenntnisse, welche mit dem Anwaltsexamen überprüft werden. Das Bürgerrechtserfordernis erfüllt insofern eine ergänzende Funktion. Allerdings ist zu beachten, dass ein Ausländer die Verhältnisse der Schweiz ebenso gut kennen und mit ihnen verbunden sein kann wie ein Schweizerbürger. Ist dies der Fall, so erschiene es unverhältnismässig, die Erteilung der Berufsausübungsbewilligung dennoch zu verweigern. Der Ausländer muss daher zum Nachweis zugelassen werden, dass er - gleichsam wie ein Schweizerbürger - mit den hiesigen politischen und gesellschaftlichen Verhältnissen vertraut sei. Die Beschwerdeführerin ist 1982 als Flüchtling in die Schweiz gekommen. Sie hat nach ihrem ersten juristischen Studium, das sie an der Universität Katowice in Polen mit dem Doktorat abgeschlossen hatte, zusätzlich an der Universität Basel studiert und dort das Lizentiat erworben, und sie übt seit fünf Jahren in den Kantonen Basel-Landschaft und Basel-Stadt die Tätigkeit als Advokatin aus. Das bringt zwangsläufig vertiefte Kenntnisse der politischen und gesellschaftlichen Verhältnisse mit sich. Aus den Akten ergibt sich ferner, dass die Beschwerdeführerin zahlreiche Zeitungsartikel
BGE 119 Ia 35 S. 41
verfasst und in der Schweiz veröffentlicht hat, in denen sie zu rechtspolitischen wie auch zu allgemeinpolitischen Fragen Stellung bezieht. Unter solchen Umständen am Bürgerrechtserfordernis festzuhalten, geht über die damit legitimerweise verfolgte Zielsetzung hinaus und ist unverhältnismässig. Die Verweigerung der Berufsausübungsbewilligung im Kanton Zürich ist aus diesem Grund mit der Handels- und Gewerbefreiheit unvereinbar.