Urteilskopf

116 IV 353

65. Urteil des Kassationshofes vom 28. September 1990 i.S. M. gegen Staatsanwaltschaft des Kantons Aargau (Nichtigkeitsbeschwerde)
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Sachverhalt ab Seite 354

BGE 116 IV 353 S. 354

A.- M. wurde vom Bezirksgericht Baden am 20. Dezember 1983 wegen Widerhandlung gegen das Betäubungsmittelgesetz zu 3 1/2 Jahren Zuchthaus und zu einer Busse von Fr. 2'000.-- verurteilt. Das Obergericht des Kantons Aargau wies am 13. Juni 1984 eine Berufung des Verurteilten ab, hiess gleichzeitig diejenige der Staatsanwaltschaft gut und ordnete zusätzlich eine Landesverweisung auf Lebenszeit an. Gegen die Anordnung der Landesverweisung sowie gegen die Verweigerung des bedingten
BGE 116 IV 353 S. 355

Aufschubs deren Vollzugs führte M. vor Bundesgericht erfolglos Beschwerde. Der bezirks- und obergerichtlichen Verurteilung liegt die Aussage von C. zugrunde, er habe von M. als Bote eines P. in den Räumen des türkischen Clublokals in Baden im Februar 1983 zweimal je 50 Gramm Heroin entgegengenommen; gleichzeitig hatte E. ausgesagt, er habe auf Geheiss des P. Mitte März 1983 bei M. Fr. 4'000.-- abgeholt und davon Fr. 3'500.-- auf das Konto einer türkischen Bank in Zürich einbezahlt.
B.- In einem ersten Wiederaufnahmeverfahren rief der Verurteilte als Revisionsgrund den Widerruf der Aussagen durch C. an. Am 20. November 1986 wies das Obergericht des Kantons Aargau dieses Gesuch ab mit der Begründung, der Widerruf der Aussagen durch den Zeugen C. sei unglaubwürdig und seine ursprünglichen Aussagen glaubhafter. Auf die dagegen gerichtete Nichtigkeitsbeschwerde trat das Bundesgericht am 15. Januar 1987 nicht ein; die staatsrechtliche Beschwerde wies es am 16. März 1987 ab.
C.- Ein zweites Gesuch um Wiederaufnahme des Verfahrens wies das Obergericht des Kantons Aargau am 15. September 1989 ab.
D.- M. führt eidgenössische Nichtigkeitsbeschwerde mit dem Antrag, das obergerichtliche Urteil sei aufzuheben und die Sache "zu neuer Prüfung und/oder Gutheissung der Wiederaufnahme im Sinne der bundesgerichtlichen Erwägungen" an die Vorinstanz zurückzuweisen. Die Staatsanwaltschaft des Kantons Aargau liess sich mit dem Antrag auf Abweisung der Beschwerde vernehmen.
Erwägungen

Das Bundesgericht zieht in Erwägung:

1. Während sich das erste Wiederaufnahmegesuch nur auf einen Revisionsgrund gestützt hatte (Widerruf seiner Aussagen durch C. selbst), machte der Beschwerdeführer im zweiten Gesuch drei verschiedene Revisionsgründe geltend: a) Bereits zu Beginn der Untersuchung gegen ihn (M.) habe C. sich gegenüber Dritten dahin geäussert, er habe ihn zu Unrecht belastet; als Beweismittel wird der Zeuge N. angerufen, der Zellennachbar von C. gewesen war; b) C. sei geisteskrank, d.h. er habe bereits bei seinen ersten belastenden Aussagen an Schizophrenie gelitten, was durch zwei psychiatrische Gutachten belegt werde;
BGE 116 IV 353 S. 356

c) Er (der Beschwerdeführer) sei nie an einem Samstagabend im genannten, nur am Freitag, Samstag und Sonntag geöffneten Türkenlokal in Baden gewesen, so dass es ausgeschlossen sei, dass C. gemäss seiner Aussage ihn dort an einem Tag kennengelernt und ihm am darauffolgenden Tag das Heroin übergeben habe. Mit der Nichtigkeitsbeschwerde wird gerügt, die Vorinstanz habe Art. 397 StGB verletzt, wenn sie die Wiederaufnahme des Verfahrens zu seinen Gunsten nicht bewilligt habe.
2. a) Nach Art. 397 StGB ist die Wiederaufnahme des Verfahrens zugunsten des Verurteilten zuzulassen, wenn erhebliche neue Tatsachen oder Beweismittel vorliegen. Erheblich sind neue Tatsachen oder Beweismittel, wenn sie geeignet sind, die Beweisgrundlage des früheren Urteils so zu erschüttern, dass aufgrund des veränderten Sachverhalts ein wesentlich milderes Urteil möglich ist (BGE 92 IV 179 mit Hinweisen) oder ein Teilfreispruch in Betracht kommt (BGE 101 IV 317). b) Mit der eidgenössischen Nichtigkeitsbeschwerde können nur Rechts-, nicht aber Tatfragen aufgeworfen werden (Art. 269 Abs. 1 und 277bis Abs. 1 Satz 2 BStP). Rechtsfrage ist, ob die letzte kantonale Instanz von den richtigen Begriffen der "neuen Tatsache", des "neuen Beweismittels" und deren "Erheblichkeit" im Sinne von Art. 397 StGB ausgegangen ist. Ob eine Tatsache oder ein Beweismittel dem Sachrichter bekannt war oder neu ist, ist eine Tatfrage; ebenso, ob eine neue Tatsache oder ein neues Beweismittel geeignet sei, die tatsächlichen Grundlagen des Urteils zu erschüttern, dessen Revision verlangt wird (BGE 109 IV 173 mit Hinweisen). Rechtsfrage ist dagegen wieder, ob die voraussichtliche Veränderung der tatsächlichen Grundlagen rechtlich relevant ist, d.h. zu einem im Schuld- oder Strafpunkt für den Verurteilten günstigeren Urteil führen kann (vgl. dazu ADAM-CLAUS ECKERT, Die Wiederaufnahme des Verfahrens im schweizerischen Strafprozessrecht, Berlin 1974, S. 58; JÖRG REHBERG, Der Anfechtungsgrund bei der Nichtigkeitsbeschwerde an den Kassationshof des Bundesgerichts, ZStrR 94/1975 II, S. 390 ff.; HANS WALDER, Die Wiederaufnahme des Verfahrens in Strafsachen nach Art. 397 StGB, insbesondere aufgrund eines neuen Gutachtens, Berner Festgabe zum Schweizerischen Juristentag 1979, S. 348).
3. Der erste der drei geltend gemachten Revisionsgründe (E. 1 lit. a) betrifft die Frage der neuen Tatsache. Im angefochtenen Urteil erachtete die Vorinstanz die mit diesem Revisionsgrund
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aufgestellte Behauptung als keine neue Tatsache und den Zeugen N. ebensowenig als ein neues Beweismittel; der Beschwerdeführer habe bereits im ursprünglichen Strafverfahren vor Obergericht die Einvernahme dieses Zeugen beantragt; der Antrag sei abgelehnt worden; im ersten Wiederaufnahmeverfahren habe der Beschwerdeführer erneut auf diesen Zeugen hingewiesen; das neue Wiederaufnahmebegehren lasse sich aber nicht auf dasselbe Beweismittel stützen und zwar auch dann nicht, wenn die Einvernahme des Zeugen aufgrund antizipierter Beweiswürdigung abgelehnt worden sei. a) Neu sind Tatsachen und Beweismittel, die dem Gericht zur Zeit des früheren Verfahrens nicht bekannt waren (Art. 397 StGB), d.h. ihm überhaupt nicht in irgendeiner Form zur Beurteilung vorlagen (BGE 92 IV 179 und BGE 80 IV 42; vgl. auch BGE 99 IV 183). Sie müssen nur für das Gericht, nicht aber für den gesuchstellenden Verurteilten neu sein (BGE 69 IV 138 E. 4 und ständige Rechtsprechung; ECKERT, a.a.O., S. 53). In diesem Sinne war die Behauptung, der Zeuge C. habe sich bereits im Stadium der damaligen gegen den Beschwerdeführer geführten Untersuchung gegenüber einem Dritten dahin geäussert, er habe den Beschwerdeführer zu Unrecht wegen Handels mit Heroin belastet, im ersten Wiederaufnahmeverfahren neu. Denn im ursprünglichen Strafverfahren vor Obergericht hatte sich der Beschwerdeführer zwar auf den Zeugen N. berufen, ohne aber eine konkrete Tatsache zu behaupten, die dieser bezeugen könne. Die Tatsachenbehauptung lag also dem Richter im ursprünglichen Verfahren nicht zur Beurteilung vor, sondern wurde erstmals im ersten Wiederaufnahmeverfahren im Plädoyer vorgebracht. Dass die behauptete Tatsache mit einem bereits früher angerufenen Beweismittel - nämlich dem Zeugen N. - unter Beweis gestellt werden sollte, ändert nichts an ihrer Neuheit. Denn der Beschwerdeführer berief sich nicht auf ein neues Beweismittel als Wiederaufnahmegrund, sondern auf eine neue Tatsache, weshalb die Zulässigkeit der Wiederaufnahme unter diesem Gesichtspunkt zu prüfen und zu bejahen war (so für die umgekehrte Situation eines neuen Beweismittels für eine alte Tatsache: BGE 80 IV 42). Im ersten Wiederaufnahmeverfahren wurde das Vorbringen denn auch nicht mangels Neuheit, sondern wegen fehlender Erheblichkeit nicht als Revisionsgrund anerkannt, weshalb das Bundesgericht das rechtliche Gehör nicht als verletzt betrachtete.
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Die Vorinstanz verneinte daher zu Unrecht die Neuheit der Tatsache. b) Zu prüfen bleibt indessen, ob und wieweit eine neue Tatsache, die in einem ersten Wiederaufnahmeverfahren als nicht erheblich bezeichnet wurde, in einem zweiten Gesuch als Wiederaufnahmegrund erneut angerufen werden kann. Die erneute Anrufung der gleichen neuen Tatsache oder des gleichen neuen Beweismittels in einem zweiten Wiederaufnahmegesuch ist jedenfalls dann nicht zulässig, wenn damit der frühere Antrag nur wiederholt wird. Früher mangels Erheblichkeit abgelehnte Wiederaufnahmegründe können dagegen zusammen mit anderen neuen Tatsachen oder Beweismitteln ein weiteres Mal vorgebracht werden, wenn sie gemeinsam mit den anderen neuen Tatsachen oder Beweismitteln erheblich sein können. Die Ablehnung eines Wiederaufnahmegesuchs verbraucht den geltend gemachten Wiederaufnahmegrund nicht (KLAUS WASSERBURG, Die Funktion des Grundsatzes "in dubio pro reo" im Additions- und Probationsverfahren, ZStW 94/1982, S. 936/7; KLEINKNECHT/MEYER, Strafprozessordnung, 39. A., § 372 N 9; LÖWE/ROSENBERG/GÖSSEL, Die Strafprozessordnung und das Gerichtsverfassungsgesetz, 24. Aufl., § 370 N 20 und § 372 N 22; vgl. auch Obergericht Zürich, ZR 65/1966 N 91). Die Vorinstanz verletzte daher Bundesrecht, wenn sie die Erheblichkeit der bereits im ersten Wiederaufnahmeverfahren geltend gemachten neuen Tatsache, die im zweiten Gesuch zusammen mit anderen Revisionsgründen angerufen wurde, nicht erneut prüfte.
4. Beim zweiten Revisionsgrund (E. 1 lit. b) geht es um die Frage der Erheblichkeit einer neuen Tatsache. a) Die Vorinstanz kam zum Schluss, der Beschwerdeführer habe die von ihm geltend gemachte neue Tatsache der Geisteskrankheit des Belastungszeugen C. zur Zeit der belastenden Aussagen nicht bewiesen, weshalb das Wiederaufnahmebegehren abzuweisen sei; die gesundheitliche Entwicklung des Belastungszeugen C. sei im übrigen unabhängig vom Nachweis des Zustandes zur Zeit der Einvernahme auch nicht geeignet, einen Freispruch oder eine erheblich geringere Bestrafung des Beschwerdeführers zu bewirken. Eine Minderheit des Obergerichts nahm demgegenüber an, dass auch Beweisindizien neue Tatsachen darstellten; die in den beiden psychiatrischen Berichten relevierten gesundheitlichen Störungen von C. seien erhebliche, mittelbare Beweise für seine Unglaubwürdigkeit, zumal bereits seine Aussagen im Jahre 1983,
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die der Verurteilung des Gesuchstellers zugrunde gelegen hätten, stark widersprüchlich gewesen seien. b) Bei der Wiederaufnahme des Verfahrens zugunsten eines Verurteilten ist zwischen dem im Bewilligungsverfahren zu treffenden Entscheid (iudicium rescindens des gemeinen Rechts) und dem im wiederaufgenommenen Verfahren zu fällenden neuen Urteil (iudicium rescissorium) zu unterscheiden. Wenn die Wiederaufnahme bei Vorliegen neuer erheblicher Tatsachen oder Beweismittel, die geeignet sind, zu einem günstigeren Urteil zu führen, zuzulassen ist, so bedeutet dies, dass im Bewilligungsverfahren noch nicht darüber entschieden wird, ob das frühere Urteil tatsächlich durch ein neues zu ersetzen ist oder nicht; dies hat erst der Richter im wiederaufgenommenen Verfahren zu entscheiden. Allein dort, wo bereits in diesem Stadium des Verfahrens sicher ist, dass und wie das frühere Urteil abzuändern ist (z.B. vollständiger Freispruch, weil der angeblich Ermordete lebt), unterscheidet sich der Bewilligungsentscheid inhaltlich nicht vom neu zu fällenden Urteil. Nur in solchen Fällen bedarf es daher nicht zweier verschiedener Entscheide, wenn die gleiche Instanz für beide zuständig ist. Das bildet jedoch die Ausnahme. Wenn es lediglich möglich bzw. wahrscheinlich sein muss, dass das frühere Urteil aufgrund der neuen Tatsachen oder neuen Beweismittel abzuändern sein wird, so besteht ein wesentlicher Unterschied zwischen iudicium rescindens und iudicium rescissorium (vgl. dazu ADAM-CLAUS ECKERT, a.a.O., S. 98). Das kantonale Strafprozessrecht kennt denn auch eine solche Zweiteilung des Wiederaufnahmeverfahrens in das Bewilligungsverfahren einerseits - dem seinerseits ein eigentliches Zulassungsverfahren vorausgehen kann (wie etwa im deutschen Recht: §§ 368, 369 und 370 StPO) und regelmässig ein Beweisverfahren vorausgeht - und das wiederaufgenommene Verfahren andererseits (HAUSER, Strafprozessrecht, S. 302 ff. mit Verweisungen). Im Bewilligungsverfahren geht es darum, zu entscheiden, ob die Voraussetzungen dafür vorhanden sind, das Verfahren gegen den Verurteilten wiederaufzunehmen. Diese ergeben sich zunächst aus Art. 397 StGB, welche Bestimmung im Sinne einer Minimalgarantie einen selbständigen bundesrechtlichen Revisionsgrund zugunsten des Verurteilten aufstellt und deren Verletzung mit der eidgenössischen Nichtigkeitsbeschwerde gerügt werden kann (BGE 106 IV 47 E. 1). - Im übrigen ist dem Inhalte nach kein wesentlicher Unterschied zwischen dem Revisionsgrund in § 230 Ziff. 1 StPO/AG

BGE 116 IV 353 S. 360

und jenem des Art. 397 StGB zu erkennen (vgl. dazu DIETER GERSPACH, Die Wiederaufnahme des Verfahrens im aargauischen Strafprozess, S. 79 ff.). Auch sieht das aargauische Strafprozessrecht eine Zweiteilung des Verfahrens im beschriebenen Sinne vor, nämlich in einem Zulassungsverfahren (§ 233; welches dem beschriebenen Bewilligungsverfahren entspricht) und dem wiederaufgenommenen Verfahren (§ 234 StPO/AG; GERSPACH, a.a.O., S. 144 ff. und 151 ff.). c) Beim Begriff der Erheblichkeit sind zwei Teilfragen zu unterscheiden, nämlich jene nach den Anforderungen, die an den Nachweis der neuen Tatsache und an das Vorhandensein eines neuen Beweismittels zu stellen sind (dazu nachstehend), und jene nach der Wahrscheinlichkeit der Veränderung des Sachverhalts, die erforderlich ist, damit eine Revision zugelassen werden kann (vgl. E. 5 unten). d) Nach der ursprünglichen Rechtsprechung des Bundesgerichts (BGE 73 IV 43, zuletzt bestätigt in BGE 86 IV 78) setzte die Bewilligung der Wiederaufnahme des Verfahrens nicht voraus, dass die neue erhebliche Tatsache bewiesen wird, sondern genügte es, wenn sie glaubhaft gemacht war. Diese Praxis wurde in BGE 92 IV 180 E. 2 in dem Sinne abgeändert, dass "eine neue erhebliche Tatsache dargetan oder ein neues erhebliches Beweismittel vorhanden" sein müsse. Begründet wurde diese Praxisänderung einerseits vorwiegend damit, in die Befugnisse der Kantone zur Regelung des Strafprozessrechtes dürfe nicht eingegriffen werden; das Bundesrecht hindere die Revisionsinstanz nicht, die Beweisfrage endgültig zu entscheiden. Andererseits wurde daraus lediglich gefolgert, ein Wiederaufnahmegesuch dürfe nicht abgewiesen werden, ohne dass die darüber entscheidende Behörde die zum Nachweis der neuen Tatsache angeführten Beweise gewürdigt oder das zum Beweis einer alten Tatsache angerufene neue Beweismittel auf seine Beweiskraft geprüft hat (S. 181). Daran, eine endgültige Entscheidung des Revisionsrichters in der Beweisfrage sei von Bundesrechts wegen nicht ausgeschlossen, kann nicht festgehalten werden; dies aus den in lit. b oben angeführten und den nachstehenden Gründen. Im übrigen bedarf die bisherige Bundesgerichtspraxis der Präzisierung. e) Eine Wiederaufnahme des Verfahrens ist, wie dargelegt (E. 2), von Bundesrechts wegen bereits zuzulassen, wenn ein Novum geeignet ist, die tatsächlichen Grundlagen des zu revidierenden Urteils so zu erschüttern, dass ein Freispruch möglich ist.
BGE 116 IV 353 S. 361

"Möglich" bedeutet hier wahrscheinlich (vgl. E. 5a unten). Genügt aber bereits die Wahrscheinlichkeit einer Abänderung des früheren Urteils für die Zulassung der Revision, so darf der Nachweis einer solchen Wahrscheinlichkeit nicht dadurch verunmöglicht werden, dass ein jeden begründeten Zweifel ausschliessender Beweis betreffend die neue Tatsache verlangt wird. Dies zeigt das folgende Beispiel: Wird ein neuer Entlastungszeuge angerufen, so hat der Richter im wiederaufgenommenen Verfahren in einer möglicherweise schwierigen Abwägung der Glaubwürdigkeit dieses Zeugen und eines im früheren Verfahren angehörten Belastungszeugen sowie der Zuverlässigkeit ihrer Aussagen zu entscheiden. Könnte eine Wiederaufnahme indessen bereits abgelehnt werden, weil der neue Zeuge für sich allein betrachtet nicht genügend glaubwürdig ist, wäre eine Gegenüberstellung der Glaubwürdigkeit der Zeugen sowohl im Rahmen der für die Erheblichkeit vorgesehenen Wahrscheinlichkeitsprüfung als auch im wiederaufgenommenen Verfahren ausgeschlossen. Auf diese Weise könnte es bei einer Verurteilung aufgrund eines weniger glaubwürdigen Zeugen im früheren Verfahren bleiben. Dies zu verhindern, ist aber gerade der Zweck des Instituts der Revision. Dieser darf nicht durch zu strenge Anforderungen an den Nachweis einer neuen Tatsache vereitelt werden. f) Das angefochtene Urteil ist nach dem Gesagten in diesem Punkte mit dem Begriff der Erheblichkeit in Art. 397 StGB nicht vereinbar und daher aufzuheben, weil zu hohe Anforderungen an den Nachweis der neuen Tatsache gestellt wurden, wenn der Beweis für die Geisteskrankheit des Zeugen im massgeblichen Zeitpunkt verlangt wurde. Die Vorinstanz wird bei der neuen Beurteilung des Falles im Rahmen des Wiederaufnahmeverfahrens (Bewilligungsverfahren) zunächst zu prüfen haben, ob es möglich bzw. nicht auszuschliessen ist, dass die später festgestellte Geisteskrankheit des Zeugen C. sich bereits auf dessen belastende Aussagen auswirkte. Ist dies zu bejahen, hat diese neue Tatsache als genügend nachgewiesen zu gelten.
5. Das Wiederaufnahmegesuch wurde auch mit der Begründung abgewiesen, die beiden bisher erwähnten neuen Tatsachen wären - auch wenn die eine als neu und deren Erheblichkeit als erneut zu prüfen bzw. die andere als genügend nachgewiesen gelten könnte - nicht erheblich. Mangels Erheblichkeit wurde auch der durch den Beschwerdeführer angerufene dritte Revisionsgrund (E. 1 lit. c) zurückgewiesen. Dieser stützt sich auf die Behauptung
BGE 116 IV 353 S. 362

des Beschwerdeführers, er sei nie an einem Samstagabend im genannten, nur am Freitag, Samstag und Sonntag geöffneten Türkenlokal gewesen, so dass es ausgeschlossen sei, dass C. gemäss seiner Aussage ihn dort an einem Tag kennengelernt und ihm am darauffolgenden Tag das Heroin übergeben habe. Dabei wurde nur geprüft, ob jede einzelne neue Tatsache für sich allein erheblich sei, nicht aber ob dies bei allen drei gesamthaft betrachtet der Fall sei. Der Beschwerdeführer bringt dagegen insbesondere vor, im Wiederaufnahmeverfahren gelte keine Umkehr der Beweislast; der Verurteilte müsse nicht seine Unschuld beweisen, sondern es müsse wie für einen Freispruch im ordentlichen Strafprozess genügen, wenn die neuen entlastenden Tatsachen nicht leichthin umzustossende Zweifel begründen würden; in Beachtung des auch im Wiederaufnahmeverfahren geltenden Grundsatzes in dubio pro reo seien alle aufkommenden und begründbaren Zweifel beachtlich; dabei dürften die einzelnen Elemente nicht isoliert betrachtet werden, sondern es habe von neuem eine Gesamtwürdigung der Beweislage zu erfolgen.
a) Wenn nach der oben in E. 2a zitierten Rechtsprechung des Bundesgerichts die Wiederaufnahme des Verfahrens zu bewilligen ist, wenn ein günstigeres Urteil "möglich" ist, so darf dies nicht so verstanden werden, als sei eine Revision bereits zuzulassen, wenn eine Änderung des früheren Urteils nicht geradezu als unmöglich oder als ausgeschlossen betrachtet werden müsse. Möglich ist eine solche Änderung vielmehr, wenn sie sicher, höchstwahrscheinlich oder wahrscheinlich ist. In diesem letzten und nicht im ersten Sinne ist der Ausdruck "möglich" zu verstehen. Eine Revision zugunsten des Verurteilten bereits zuzulassen, wenn ein günstigeres Urteil nicht ausgeschlossen ist, würde den Interessenkonflikt zwischen Rechtssicherheit (Bestand des früheren Urteils) und materieller Gerechtigkeit (Korrektur eines Fehlurteils), der bei der Festlegung der Voraussetzungen der Wiederaufnahme des Verfahrens besteht, einseitig zu Ungunsten der Rechtssicherheit lösen. Eine solche Lösung wird denn auch nirgends in der Lehre oder in der Rechtsprechung befürwortet (vgl. die Ausführungen in rechtsvergleichender Sicht bei WASSERBURG, a.a.O., S. 949 ff.). Auch das Bundesgericht verstand dies in seinen bisherigen Entscheiden nicht in diesem Sinne. Überdies verlangt der Beschwerdeführer das ebenfalls nicht. b) Die Vorinstanz verletzte bei der Prüfung der Erheblichkeit der geltend gemachten neuen Tatsachen jedenfalls Bundesrecht,
BGE 116 IV 353 S. 363

indem sie diese Tatsachen nur einzeln, nicht aber in einer Gesamtwürdigung beurteilte; ob sie bei der Prüfung der Wahrscheinlichkeit einer Änderung des zu revidierenden Urteils ebenfalls nicht vom richtigen Begriff der Erheblichkeit ausging, kann unter diesen Umständen offenbleiben. Ist für die Bewilligung der Wiederaufnahme, wie dargelegt wurde, entscheidend, ob die tatsächliche Grundlage des früheren Urteils so erschüttert wird, dass ein günstigerer Entscheid wahrscheinlich ist, so ist es beim Vorliegen mehrerer Nova erforderlich, dass, wie der Richter im wiederaufgenommenen Verfahren alle Umstände des Falles zu berücksichtigen hat, bei der Bewilligung der Wiederaufnahme geprüft wird, ob, wenn nicht einzelne, so allenfalls zwei oder mehr Nova zusammen diese Wirkung haben. Das angefochtene Urteil ist mithin auch insoweit aufzuheben und die Sache zur neuen Beurteilung an die Vorinstanz zurückzuweisen.
Information de décision   •   DEFRITEN
Document : 116 IV 353
Date : 28 septembre 1990
Publié : 31 décembre 1991
Source : Tribunal fédéral
Statut : 116 IV 353
Domaine : ATF - Droit pénal et procédure penale
Objet : Art. 397 CP, conditions de la révision. 1. Questions de fait, questions de droit (consid. 2b). 2. La nouveauté d'un point


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CP: 397
PPF: 269  277bis
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