92 IV 177
46. Auszug aus dem Urteil des Kassationshofes vom 18. November 1966 i.S. Müller gegen Staatsanwaltschaft des Kantons Luzern.
Regeste (de):
- Art. 397
StGB.
- Das Verfahren muss von Bundesrechts wegen erst wiederaufgenommen werden, wenn eine neue erhebliche Tatsache dargetan ist oder ein neues erhebliches Beweismittel vorliegt (Änderung der Rechtsprechung).
Regeste (fr):
- Art. 397 CP.
- La voie de la revision ne doit être ouverte de par le droit fédéral que lorsqu'un fait nouveau et important est établi ou lorsque l'on possède un moyen de preuve nouveau et important (changement de jurisprudence).
Regesto (it):
- Art. 397 CP.
- La procedura deve, secondo il diritto federale, essere riveduta soltanto quando è stabilito un fatto nuovo e rilevante o esiste un mezzo di prova nuovo e rilevante (cambiamento della giurisprudenza).
Sachverhalt ab Seite 177
BGE 92 IV 177 S. 177
A.- Müller fuhr am 14. September 1963 gegen 11 Uhr zusammen mit Giger in seinem VW-Personenwagen auf der Rengglochstrasse von Kriens nach Littau. Auf einem abfallenden Strassenstück überholte der VW mit stark übersetzter Geschwindigkeit einen andern Personenwagen und kam in der folgenden langgezogenen S-Kurve ins Schleudern. Nachdem er wiederholt von einem Strassenrand zum andern geraten war, prallte er mit der rechten Seite an eine Telephonstange, die entzweibrach. Müller und Giger wurden aus dem Wagen geschleudert, und Giger starb bald darauf an den erlittenen Verletzungen. Das Auto wurde zertrümmert. Müller behauptete im Untersuchungs- und Strafverfahren, der Wagen sei zur Zeit des Unfalls von Giger geführt worden. Das Amtsgericht Luzern-Land und das Obergericht des Kantons Luzern verwarfen diese Behauptung gestützt auf Zeugenaussagen, den Bericht des Amtsarztes über die Verletzungen Gigers und ein Gutachten des wissenschaftlichen Dienstes der Stadtpolizei Zürich über das im Wageninnern erhobene Spurenmaterial sowie ein fahrtechnisches Gutachten des Chefexperten der luzernischen Motorfahrzeugkontrolle und stellten fest, dass Müller den Wagen gelenkt habe. Das Obergericht erklärte ihn am 7. Oktober 1964 der Nichtbeherrschung des Fahrzeuges (Art. 31 Abs. 1), des Fahrens mit übersetzter Geschwindigkeit (Art. 32 Abs. 1), der groben Verletzung von Verkehrsregeln
BGE 92 IV 177 S. 178
(Art. 90 Ziff. 2

SR 741.01 Strassenverkehrsgesetz vom 19. Dezember 1958 (SVG) SVG Art. 90 - 1 Mit Busse wird bestraft, wer Verkehrsregeln dieses Gesetzes oder der Vollziehungsvorschriften des Bundesrates verletzt. |
|
1 | Mit Busse wird bestraft, wer Verkehrsregeln dieses Gesetzes oder der Vollziehungsvorschriften des Bundesrates verletzt. |
2 | Mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder Geldstrafe wird bestraft, wer durch grobe Verletzung der Verkehrsregeln eine ernstliche Gefahr für die Sicherheit anderer hervorruft oder in Kauf nimmt. |
3 | Mit Freiheitsstrafe von einem bis zu vier Jahren wird bestraft, wer durch vorsätzliche Verletzung elementarer Verkehrsregeln das hohe Risiko eines Unfalls mit Schwerverletzten oder Todesopfern eingeht, namentlich durch besonders krasse Missachtung der zulässigen Höchstgeschwindigkeit, waghalsiges Überholen oder Teilnahme an einem nicht bewilligten Rennen mit Motorfahrzeugen. |
3bis | Die Mindeststrafe von einem Jahr kann bei Widerhandlungen gemäss Absatz 3 unterschritten werden, wenn ein Strafmilderungsgrund nach Artikel 48 StGB236 vorliegt, insbesondere wenn der Täter aus achtenswerten Beweggründen gehandelt hat.237 |
3ter | Der Täter kann bei Widerhandlungen gemäss Absatz 3 mit Freiheitsstrafe bis zu vier Jahren oder Geldstrafe bestraft werden, wenn er nicht innerhalb der letzten zehn Jahre vor der Tat wegen eines Verbrechens oder Vergehens im Strassenverkehr mit ernstlicher Gefahr für die Sicherheit anderer, respektive mit Verletzung oder Tötung anderer verurteilt wurde.238 |
4 | Eine besonders krasse Missachtung der zulässigen Höchstgeschwindigkeit liegt vor, wenn diese überschritten wird um: |
a | mindestens 40 km/h, wo die Höchstgeschwindigkeit höchstens 30 km/h beträgt; |
b | mindestens 50 km/h, wo die Höchstgeschwindigkeit höchstens 50 km/h beträgt; |
c | mindestens 60 km/h, wo die Höchstgeschwindigkeit höchstens 80 km/h beträgt; |
d | mindestens 80 km/h, wo die Höchstgeschwindigkeit mehr als 80 km/h beträgt.239 |
5 | Artikel 237 Ziffer 2 des Strafgesetzbuches240 findet in diesen Fällen keine Anwendung. |

SR 741.01 Strassenverkehrsgesetz vom 19. Dezember 1958 (SVG) SVG Art. 91 - 1 Mit Busse wird bestraft, wer: |
|
1 | Mit Busse wird bestraft, wer: |
a | in angetrunkenem Zustand ein Motorfahrzeug führt; |
b | das Verbot, unter Alkoholeinfluss zu fahren, missachtet; |
c | in fahrunfähigem Zustand ein motorloses Fahrzeug führt. |
2 | Mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder Geldstrafe wird bestraft, wer: |
a | in angetrunkenem Zustand mit qualifizierter Atemalkohol- oder Blutalkoholkonzentration ein Motorfahrzeug führt; |
b | aus anderen Gründen fahrunfähig ist und ein Motorfahrzeug führt. |

SR 311.0 Schweizerisches Strafgesetzbuch vom 21. Dezember 1937 StGB Art. 117 - Wer fahrlässig den Tod eines Menschen verursacht, wird mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder Geldstrafe bestraft. |
B.- Am 11. Februar 1965 reichte Müller beim Obergericht ein Revisionsgesuch ein. Er machte erneut geltend, dass Giger das Auto gelenkt habe, und berief sich zum Beweis u.a. auf ein von Ing. Max Troesch über den Unfallablauf erstelltes Gutachten. Das Obergericht wies nach ergänzenden Erhebungen das Gesuch am 2. August 1966 ab. Es anerkannte, dass das Gutachten Troesch, wenn dessen neue technische Beurteilung des Unfallherganges zuträfe, geeignet wäre, die frühere Feststellung über die Person des Wagenlenkers in Frage zu stellen. AufGrund des gesamten Beweismaterials sei jedoch das neue Gutachten nicht haltbar und vermöge die früheren tatsächlichen Feststellungen in keiner Weise zu entkräften.
C.- Müller führt Nichtigkeitsbeschwerde mit dem Antrag, der obergerichtliche Entscheid sei aufzuheben und die Sache zur Anordnung der Revision, eventuell zu Beweisergänzungen an die Vorinstanz zurückzuweisen. Zur Begründung macht er u.a. geltend, das Obergericht habe den Sachverhalt ungenügend abgeklärt. Durch das Gutachten Troesch würden neue Tatsachen über den Bewegungsablauf, die dadurch eingetretenen Verletzungen usw. glaubhaft gemacht, die geeignet seien, die früher behauptete Tatsache, dass das Auto von Giger gelenkt worden sei, glaubhaft erscheinen zu lassen. Das Obergericht hätte daher, wenn es nicht auf das Privatgutachten abstellen wollte, antragsgemäss ein verkehrstechnisches Gutachten von einem anerkannten Fachmann einholen müssen.
Erwägungen
Der Kassationshof zieht in Erwägung:
1. Art. 397

BGE 92 IV 177 S. 179
Verfahrens nur verlangt werden, wenn sich auf Grund neuer erheblicher Tatsachen oder Beweismittel der dem Urteil zugrunde gelegte Sachverhalt als unrichtig erweist. Bloss zur Überprüfung und Änderung der rechtlichen Würdigung des früheren Sachrichters ist die Wiederaufnahme nicht zulässig (BGE 69 IV 139 Erw. 5, BGE 75 IV 184). Zur Begründung der Wiederaufnahme bedarf es entweder einer neuen erheblichen Tatsache oder eines neuen erheblichen Beweismittels zum Nachweis einer im früheren Verfahren behaupteten erheblichen Tatsache. Der Wiederaufnahmegrund der neuen Tatsache liegt somit auch vor, wenn zum Nachweis einer neuen Tatsache ein neues Beweismittel angerufen wird, da der Wiederaufnahmegrund des neuen Beweismittels voraussetzt, dass dieses dem Beweis einer früher namhaft gemachten, bekannten Tatsache dient (BGE 81 IV 44). Ebenso ist der erste Revisionsgrund gegeben, wenn eine neue Tatsache als Beweisindiz angerufen wird, d.h. aus ihr auf das Vorliegen oder Fehlen einer andern erheblichen Tatsache geschlossen werden soll; Indizien sind indirekte Beweise, nicht Beweismittel (vgl. BGE 80 IV 42). Neu sind Tatsachen und Beweismittel, wenn sie dem Gericht zur Zeit der Urteilsfällung unbekannt waren, ihm überhaupt nicht in irgendeiner Form zur Beurteilung vorlagen (siehe dazu BGE 80 IV 42), und erheblich sind sie, wenn sie geeignet sind, die der Verurteilung zugrunde liegenden Feststellungen so zu erschüttern, dass auf Grund des veränderten Sachverhalts ein wesentlich milderes Urteil möglich ist (BGE 69 IV 139 Erw. 6; BGE 76 IV 39 Erw. 3; BGE 78 IV 55; BGE 81 IV 45; BGE 82 IV 184; BGE 86 IV 78). Ob die neue Tatsache oder das neue Beweismittel für sich allein oder zusammen mit andern bekannten oder neu angerufenen schlüssig genug sei, den im frühern Urteil angenommenen Sachverhalt zu entkräften, ist eine Frage der Beweiswürdigung, die dem Gebiet des Tatsächlichen angehört und als solche der Überprüfung des Kassationshofes entzogen ist (Art. 277 bis Abs. 1

SR 311.0 Schweizerisches Strafgesetzbuch vom 21. Dezember 1937 StGB Art. 117 - Wer fahrlässig den Tod eines Menschen verursacht, wird mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder Geldstrafe bestraft. |

SR 311.0 Schweizerisches Strafgesetzbuch vom 21. Dezember 1937 StGB Art. 117 - Wer fahrlässig den Tod eines Menschen verursacht, wird mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder Geldstrafe bestraft. |

BGE 92 IV 177 S. 180
b) Art. 397


2. Nach der Rechtsprechung des Kassationshofes, die in BGE 73 IV 43 ff. begründet wurde und seither Geltung hatte (BGE 76 IV 36, BGE 77 IV 214, BGE 78 IV 55, BGE 81 IV 44, BGE 86 IV 78), setzt die Bewilligung zur Wiederaufnahme des Verfahrens nicht voraus, dass die neue erhebliche Tatsache bewiesen wird, sondern genügt es, wenn sie glaubhaft gemacht ist. An dieser Auffassung, die folgerichtig auch beim Wiederaufnahmegrund des neuen Beweismittels gelten müsste, ist nach erneuter Prüfung nicht festzuhalten. Art. 397


BGE 92 IV 177 S. 181
vorliegen müssen (Sten. Bull. der Bundesversammlung 1930 S. 97). Dass die Kantone hätten verpflichtet werden wollen, die Wiederaufnahme unter leichteren Voraussetzungen, insbesondere schon gestützt auf eine bloss glaubhaft gemachte Behauptung des Gesuchstellers zu gewähren, ist umso weniger anzunehmen, als in der Gesetzesberatung umstritten war, ob überhaupt eine bundesrechtliche Bestimmung über die Revision aufzustellen sei, und Art. 397


BGE 92 IV 177 S. 182
Glaubhaftmachen eines neuen erheblichen Vorbringens zur Wiederaufnahme genüge, besteht dagegen ein Widerspruch, wurden doch die Gesuchsteller in den Glauben versetzt, sie hätten schon unter der erwähnten Voraussetzung einen bundesrechtlichen Anspruch auf Revision, der ihnen aber in Wirklichkeit nicht zustand, wenn der kantonale Revisionsrichter die neuen Tatsachen oder Beweismittel nicht nur auf ihre Glaubhaftmachung hin überprüfte, sondern die Beweise voll würdigte und die Beweiskraft verneinte. Auf den Entscheid in BGE 73 IV 43 zurückzukommen, ist umso begründeter, als die kantonalen Prozessgesetze praktisch ohne Ausnahme den Revisionsrichter für befugt erklären, vor dem Entscheid über das Wiederaufnahmegesuch die notwendig erscheinenden Beweise zu erheben, und von dieser Möglichkeit regelmässig auch Gebrauch gemacht wird. Dazu kommt, dass der Kassationshof, wenn er die Glaubhaftmachung überprüfen müsste, die Beweise vorläufig zu würdigen hätte, was sich mit dem Grundsatz, dass die Beweiswürdigung seiner Überprüfung entzogen ist, schlecht vertrüge. In BGE 73 IV 45 wurde ausgeführt, dass die neue Tatsache nur glaubhaft gemacht zu werden brauche, nicht aber schon bestehen müsse, ansonst sie bereits mit dem Wiederaufnahmegesuch bewiesen sein müsste, was in den meisten Fällen nicht möglich wäre. Diese Begründung übersieht, dass neue Tatsachen oder Beweismittel auch vorliegen können, wenn ihr Bestand im Gesuch nicht bewiesen werden kann und die dafür angetragenen Beweise, z.B. Zeugenaussagen oder Urkunden, die sich in den Händen Dritter befinden, erst noch von Amtes wegen zu erheben sind. Wenn für die Bewilligung der Wiederaufnahme eine neue erhebliche Tatsache oder ein neues erhebliches Beweismittel vorliegen muss, bedeutet das denn auch nur, dass der Nachweis des neuen Vorbringens im Zeitpunkt des Zulassungsentscheides erbracht sein muss, nicht aber, dass er schon zur Zeit der Einreichung des Gesuches geleistet sein müsse. Zur Begründung des Gesuches genügt daher, dass die neuen Tatsachen oder Beweismittel, wie es im französischen Text des Art. 397

BGE 92 IV 177 S. 183
3. Der Beschwerdeführer behauptet, gestützt auf das Privatgutachten Troesch, dass die Bewegung der Wageninsassen anders abgelaufen sei, als im frühern Urteil auf Grund der amtlichen Gutachten angenommen worden war. Damit beruft er sich auf neue Tatsachen, durch die die frühere Feststellung, dass der Beschwerdeführer das Auto gelenkt habe, entkräftet werden soll. Das vorgelegte Gutachten und die beantragte Expertise, die nur dem Beweis dieser neuen Indizien dienen, sind somit keine neuen Beweismittel im Sinne des Art. 397

Ob die vorgebrachten neuen Tatsachen, wie in der Beschwerde geltend gemacht wird, genügend glaubhaft gemacht seien, ist vom Kassationshof nicht zu überprüfen. Nach den vorangegangenen Erwägungen genügt das blosse Glaubhaftmachen einer neuen erheblichen Tatsache nicht, um ein früheres Verfahren wieder aufzunehmen. Die Berufung auf die Glaubhaftmachung hätte übrigens dem Beschwerdeführer auch nach der bisherigen Praxis nicht geholfen. Das Obergericht hat das Privatgutachten und die dazu eingeholten Vernehmlassungen der amtlichen Experten Dr. Frei und Buholzer sowie die Gegenbemerkungen von Troesch eingehend gegeneinander abgewogen und ist nach Überprüfung des gesamten Beweismaterials zum Schlusse gelangt, dass den Darlegungen des Gutachters Troesch die Überzeugungskraft fehle, die darin angeführten neuen Tatsachen also nicht erbracht seien und diese demzufolge die früheren Feststellungen nicht erschüttern könnten. Die Abweisung des Revisionsgesuches beruht demnach auf Beweiswürdigung, die mit der Nichtigkeitsbeschwerde nicht angefochten werden kann. Was der Beschwerdeführer einwendet, ist denn auch nichts anderes als Kritik dieser Beweiswürdigung.
4. ...
Dispositiv
Demnach erkennt der Kassationshof:
Die Nichtigkeitsbeschwerde wird abgewiesen, soweit auf sie eingetreten werden kann.