115 Ia 103
115 Ia 103 20. Auszug aus dem Urteil der I. öffentlichrechtlichen Abteilung vom 14. März 1989 i.S. X. gegen Staatsanwaltschaft und Obergericht (I. Strafkammer) des Kantons Zürich (staatsrechtliche Beschwerde)
Regeste (de):
- Art. 4
SR 101 Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft vom 18. April 1999
BV Art. 4 Landessprachen - Die Landessprachen sind Deutsch, Französisch, Italienisch und Rätoromanisch.
- In Fällen, in denen der Angeklagte nicht mit einer Freiheitsstrafe von mehr als 18 Monaten rechnen muss, die jedoch keine Bagatellfälle darstellen, bestimmt sich die Notwendigkeit der amtlichen Verteidigung nach den Umständen des Einzelfalles. Nicht entscheidend für die Verweigerung der amtlichen Verteidigung ist, dass das Strafverfahren vom Untersuchungsgrundsatz beherrscht ist (E. 4).
Regeste (fr):
- Art. 4 Cst.; défense d'office en procédure pénale.
- Dans les cas où l'accusé ne doit pas s'attendre à une peine supérieure à 18 mois et qui, néanmoins, ne sont pas dépourvus d'importance, la nécessité d'une défense d'office doit être déterminée selon les circonstances de l'espèce. La défense d'office ne doit pas être refusée seulement parce que la procédure pénale est régie par la maxime inquisitoire (consid. 4).
Regesto (it):
- Art. 4 Cost.; difesa d'ufficio in un procedimento penale.
- Nei casi in cui l'imputato non deve attendersi una pena privativa della libertà personale di durata superiore a 18 mesi, ma che non sono privi d'importanza, la necessità di una difesa d'ufficio va determinata secondo le circostanze della fattispecie concreta. La difesa d'ufficio non può essere negata solo perché il procedimento penale è retto dal principio inquisitorio (consid. 4).
Sachverhalt ab Seite 104
BGE 115 Ia 103 S. 104
Am 15. Februar 1988 erhob die Bezirksanwaltschaft H. gegen X. beim Einzelrichter des Bezirksgerichtes H. Anklage wegen Grenzverrückung, einfacher Körperverletzung, Sachbeschädigung und Drohung. Gleichzeitig wurde der Antrag gestellt, X. sei mit drei Monaten Gefängnis unter Verweigerung des bedingten Strafvollzuges zu bestrafen. Das von X. am 4. Juli 1988 gestellte Begehren um amtliche Verteidigung sowie sinngemäss um Bewilligung der unentgeltlichen Prozessführung wurde vom Einzelrichter in Strafsachen des Bezirksgerichtes H. am 15. September 1988 abgewiesen. Den von X. hiergegen erhobenen Rekurs wies das Obergericht des Kantons Zürich (I. Strafkammer) am 9. Dezember 1988 ab. Zur Begründung führt es aus, der zu beurteilende Fall biete weder tatsächliche noch rechtliche Schwierigkeiten, denen X. nicht gewachsen sei, wobei letztere weniger in der Qualifikation der zu beurteilenden Handlungen als in der Beweiswürdigung lägen; diesbezüglich sei jedoch zu beachten, dass der zürcherische Strafrichter im Hinblick auf das Anklageprinzip nicht an die Anträge und Vorbringen der Verfahrensbeteiligten gebunden sei. Im Lichte des das zürcherische Strafverfahren beherrschenden Offizialprinzips sowie der Grundsätze der Rechtsanwendung und der freien Beweiswürdigung von Amtes wegen ergäbe sich, dass bei Fällen, welche keine besonderen Schwierigkeiten böten und wo die Höhe der allenfalls auszufällenden Freiheitsstrafe ein Jahr nicht übersteige, die Befürchtung unbegründet erscheine, der nicht durch einen Anwalt vertretene Angeklagte könnte einen Rechtsnachteil erleiden. Gegen den Entscheid des Obergerichts hat X. staatsrechtliche Beschwerde eingereicht. Das Bundesgericht heisst die Beschwerde gut
Erwägungen
aus folgenden Erwägungen:
4. Der Beschwerdeführer macht im weitern geltend, in Verletzung von Art. 4
SR 101 Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft vom 18. April 1999 BV Art. 4 Landessprachen - Die Landessprachen sind Deutsch, Französisch, Italienisch und Rätoromanisch. |
BGE 115 Ia 103 S. 105
Verteidigungsfähigkeit geschlossen werden. Auch die obergerichtliche Argumentation, hinreichende Rechtsnachteile entstünden erst, wenn das angedrohte Strafmass eine Freiheitsstrafe von einem Jahr übersteige, widerspreche Art. 4
SR 101 Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft vom 18. April 1999 BV Art. 4 Landessprachen - Die Landessprachen sind Deutsch, Französisch, Italienisch und Rätoromanisch. |
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BGE 115 Ia 103 S. 106
von drei Monaten beantragt. Es handelt sich somit um eine als relativ schwer zu bezeichnende Strafsache. Zudem bilden drei verschiedene Sachverhalte, welche gemäss der Anklageschrift vier verschiedene Vergehenstatbestände betreffen, Gegenstand des Verfahrens. Ferner ergibt sich aus den Akten, dass die vorliegende Strafsache zwar weniger in rechtlicher Hinsicht als vielmehr in tatsächlicher Beziehung nicht geringe Schwierigkeiten bietet. Die drei zur Beurteilung stehenden Sachverhalte sind tatsächlich völlig umstritten. Ausserdem ergibt sich aus den Akten, dass der Beschwerdeführer den sich bietenden Schwierigkeiten, nicht zuletzt auf Grund seiner Persönlichkeitsstruktur, nicht gewachsen ist. Diese Schwierigkeiten vermag auch der Beistand seines Sohnes, selbst wenn dieser auch zukünftig möglich wäre, nicht hinreichend zu beseitigen. Der Beschwerdeführer selbst muss nämlich als Prozesssubjekt zu einer Reihe von Fragen selbständig Stellung nehmen. Aufgrund der Akten zeigt sich, dass er den sich dabei bietenden Schwierigkeiten nicht gewachsen ist. Ausschlaggebend ist in diesem Zusammenhang nicht, ob der Beschwerdeführer dringend psychiatrisch behandelt werden sollte, wie einer der Geschädigten ausführte. Entscheidend ist jedoch, dass der Beschwerdeführer von massgeblichen Amtspersonen im Leumundsbericht als sehr aufbrausend und jähzornig sowie mit querulatorischen Zügen behaftet geschildert wird. Dies trat denn auch im Laufe der Strafuntersuchung zu Tage. So geriet er anlässlich der ersten untersuchungsrichterlichen Einvernahme "ausser Rand und Band" und verliess "wutentbrannt das Zimmer", obschon er den unmittelbar darauf stattfindenden Zeugeneinvernahmen hätte beiwohnen sollen. Sowohl im vorliegenden als auch in einem vorangegangenen Strafverfahren weigerte er sich, zu seiner Person auszusagen und betonte, auch an der gerichtlichen Hauptverhandlung werde er diesbezüglich keine Angaben machen, sei er doch "kein Verbrecher". Diesen Schwierigkeiten vermag auch das strafprozessuale Offizialprinzip nicht bzw. nicht hinreichend zu begegnen. Damit sind aber nach der dargelegten Rechtsprechung des Bundesgerichtes die Voraussetzungen gegeben, dass dem Beschwerdeführer für die betreffende Strafsache ein amtlicher Verteidiger beizugeben ist.