Urteilskopf

114 V 225

45. Auszug aus dem Urteil vom 22. Dezember 1988 i.S. M. gegen Ausgleichskasse des Kantons Schaffhausen und Obergericht des Kantons Schaffhausen
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Erwägungen ab Seite 225

BGE 114 V 225 S. 225

Aus den Erwägungen:

3. a) Das Eidg. Versicherungsgericht hat in seiner früheren Rechtsprechung, auf welche sich das kantonale Gericht bezieht, angenommen, dass eine Inhaftierung von einer gewissen Dauer - sei es als Untersuchungshaft oder zum Zwecke des Strafvollzuges - eine Änderung des rechtlichen Status des Versicherten bewirke, dessen Invalidität nach den Kriterien der Erwerbsunfähigkeit bemessen worden ist. Da die Ausübung einer Erwerbstätigkeit
BGE 114 V 225 S. 226

in beiden Fällen der Inhaftierung in der Regel ausgeschlossen ist, wurde der Versicherte als Nichterwerbstätiger betrachtet und konnte als solcher keine Rente beanspruchen, sofern er in seinem üblichen Aufgabenbereich, der in der Verbüssung der Strafe besteht, nicht behindert ist (BGE 110 V 288 Erw. 2b, 107 V 222 Erw. 2, BGE 102 V 170 Erw. 2). In BGE 113 V 273 hat das Eidg. Versicherungsgericht in Änderung seiner bisherigen Rechtsprechung entschieden, die Tatsache, dass der Bezüger einer Invalidenrente eine Freiheitsstrafe verbüsst, stelle keinen Revisionsgrund im Sinne von Art. 41
SR 831.20 Bundesgesetz vom 19. Juni 1959 über die Invalidenversicherung (IVG)
IVG Art. 41
IVG dar. Dies bedeutet aber nicht, dass die Rente während des Vollzuges einer Strafe oder Massnahme weiter ausgerichtet werden muss. Wie das Gericht unter Berufung auf verschiedene Normen des internationalen Rechts der Sozialen Sicherheit sowie Art. 43
SR 833.1 Bundesgesetz vom 19. Juni 1992 über die Militärversicherung (MVG)
MVG Art. 43 Anpassung an die Lohn- und Preisentwicklung - 1 Der Bundesrat passt durch Verordnung die folgenden Renten dem vom Bundesamt für Statistik ermittelten Nominallohnindex vollständig an:
1    Der Bundesrat passt durch Verordnung die folgenden Renten dem vom Bundesamt für Statistik ermittelten Nominallohnindex vollständig an:
a  die auf unbestimmte Zeit festgesetzten Renten der Versicherten, die das Referenzalter nach Artikel 21 Absatz 1 AHVG102 noch nicht erreicht haben;
b  die Renten der Ehegatten und Waisen der Verstorbenen, die im Zeitpunkt der Anpassung das Referenzalter nach Artikel 21 Absatz 1 AHVG noch nicht erreicht hätten.103
2    Alle übrigen auf unbestimmte Zeit festgesetzten Renten sind dem Stand des Landesindexes der Konsumentenpreise vollständig anzupassen.
3    Die Anpassung der Leistungen erfolgt durch Erhöhung oder Herabsetzung des der Rente zugrunde liegenden Jahresverdienstes. Sie erfolgt jeweils auf den gleichen Zeitpunkt wie die AHV/IV-Rentenanpassung.
4    Der Bundesrat erlässt durch Verordnung die näheren Bestimmungen, insbesondere über das zu berücksichtigende Spruchjahr und über die Anpassung von Zeitrenten und Neurenten.
MVG dargelegt hat, bildet die Inhaftierung (oder jede andere Form eines durch eine Strafbehörde angeordneten Freiheitsentzuges, einschliesslich des Aufenthaltes in einer Arbeitserziehungsanstalt) einen Grund für die Sistierung - und nicht mehr für die Revision - des Anspruches auf eine Rente der Invalidenversicherung. Da der Rentenanspruch als solcher bestehen bleibt, ist daraus abzuleiten, dass der Strafantritt nicht mehr wie bisher zu einer Einstellung der Zusatzrenten führt, sondern diese im Gegenteil weiter ausgerichtet werden müssen (BGE 113 V 277 Erw. 2b und 278 Erw. 2c). b) Das Eidg. Versicherungsgericht hat bereits unter der Geltung der früheren Rechtsprechung, welche die Inhaftierung eines Versicherten als Revisionsgrund infolge Statuswechsels betrachtete, entschieden, dass die Wartezeit auch Zeiten der Strafverbüssung einschliessen könne, während denen der Versicherte, wenn er sich in Freiheit befunden hätte, in dem von Art. 29 Abs. 1
SR 831.20 Bundesgesetz vom 19. Juni 1959 über die Invalidenversicherung (IVG)
IVG Art. 29 Beginn des Anspruchs und Auszahlung der Rente - 1 Der Rentenanspruch entsteht frühestens nach Ablauf von sechs Monaten nach Geltendmachung des Leistungsanspruchs nach Artikel 29 Absatz 1 ATSG217, jedoch frühestens im Monat, der auf die Vollendung des 18. Altersjahres folgt.
1    Der Rentenanspruch entsteht frühestens nach Ablauf von sechs Monaten nach Geltendmachung des Leistungsanspruchs nach Artikel 29 Absatz 1 ATSG217, jedoch frühestens im Monat, der auf die Vollendung des 18. Altersjahres folgt.
2    Der Anspruch entsteht nicht, solange die versicherte Person ein Taggeld nach Artikel 22 beanspruchen kann.
3    Die Rente wird vom Beginn des Monats an ausbezahlt, in dem der Rentenanspruch entsteht.
4    Beträgt der Invaliditätsgrad weniger als 50 Prozent, so werden die entsprechenden Renten nur an Versicherte ausbezahlt, die ihren Wohnsitz und ihren gewöhnlichen Aufenthalt (Art. 13 ATSG) in der Schweiz haben. Diese Voraussetzung ist auch von Angehörigen zu erfüllen, für die eine Leistung beansprucht wird.
IVG geforderten Ausmass arbeitsunfähig gewesen wäre. Es hat sodann erkannt, dass für die Berechnung der durchschnittlichen Arbeitsunfähigkeit von den tatsächlichen oder wahrscheinlichen Verhältnissen nach der Strafentlassung auszugehen sei (BGE 102 V 170 Erw. 2). Konnte jedoch die Wartezeit auch gemäss der früheren Rechtsprechung Zeiten der Strafverbüssung umfassen, obwohl eine Statusänderung angenommen wurde, muss dies um so mehr im Lichte der neuen Rechtsprechung gelten, nach welcher der Strafvollzug keine Statusänderung darstellt und die Rente lediglich sistiert wird. c) In seiner früheren Rechtsprechung nahm das Eidg. Versicherungsgericht an, der Versicherungsfall trete erst nach der Strafverbüssung
BGE 114 V 225 S. 227

ein (BGE 102 V 170 Erw. 2). Nachdem nunmehr eine Statusänderung verneint wird und die Wartezeit auch während der Dauer des Freiheitsentzuges weiterläuft, tritt der Versicherungsfall grundsätzlich nach Ablauf der Wartezeit ein, ungeachtet der Tatsache, dass sich der Versicherte noch im Strafvollzug befindet. Dabei ist allerdings zu beachten, dass die Rente zu sistieren ist, solange der Strafvollzug andauert. Der Invaliditätsgrad des Strafgefangenen ist nach der allgemeinen Methode des Einkommensvergleichs (Art. 28 Abs. 2
SR 831.20 Bundesgesetz vom 19. Juni 1959 über die Invalidenversicherung (IVG)
IVG Art. 28 Grundsatz - 1 Anspruch auf eine Rente haben Versicherte, die:
1    Anspruch auf eine Rente haben Versicherte, die:
a  ihre Erwerbsfähigkeit oder die Fähigkeit, sich im Aufgabenbereich zu betätigen, nicht durch zumutbare Eingliederungsmassnahmen wieder herstellen, erhalten oder verbessern können;
b  während eines Jahres ohne wesentlichen Unterbruch durchschnittlich mindestens 40 Prozent arbeitsunfähig (Art. 6 ATSG206) gewesen sind; und
c  nach Ablauf dieses Jahres zu mindestens 40 Prozent invalid (Art. 8 ATSG) sind.
1bis    Eine Rente nach Absatz 1 wird nicht zugesprochen, solange die Möglichkeiten zur Eingliederung im Sinne von Artikel 8 Absätze 1bis und 1ter nicht ausgeschöpft sind.207
2    ...208
IVG) zu ermitteln. Dem Einkommen, das der Versicherte ohne Invalidität erzielen könnte, ist als Invalideneinkommen dasjenige Erwerbseinkommen gegenüberzustellen, das er trotz seiner Behinderung mit einer zumutbaren Tätigkeit auf dem ausgeglichenen Arbeitsmarkt erlangen könnte. Die Tatsache, dass der Versicherte sich im Strafvollzug befindet, ist somit in bezug auf die Festlegung der hypothetischen Einkommen mit und ohne Invalidität unerheblich; die Invaliditätsschätzung hat in gleicher Weise zu erfolgen, wie wenn der Versicherte in Freiheit wäre. d) Den Akten ist nicht zu entnehmen, ob und gegebenenfalls in welchem Umfang der Beschwerdeführer, der sich ab 31. Oktober 1986 in Untersuchungshaft und anschliessend im Strafvollzug befand, seit Beginn der Wartezeit am 1. Januar 1986 arbeitsunfähig ist. Ebenso fehlen Angaben in erwerblicher Hinsicht, welche die Festlegung des Invaliditätsgrades nach Ablauf der Wartezeit aufgrund eines Einkommensvergleichs ermöglichten. Aus diesen Gründen müsste die Sache zur Vornahme ergänzender Abklärungen und zu neuer Verfügung an die Verwaltung zurückgewiesen werden. Im vorliegenden Fall kann jedoch von einer Rückweisung abgesehen werden. Der Beschwerdeführer ist ledig und kinderlos. Er hätte somit keinen Anspruch auf Zusatzrenten für Angehörige. Da eine ihm nach Ablauf der Wartezeit am 26. Dezember 1986 allenfalls zustehende Invalidenrente während der Dauer des Strafvollzuges zu sistieren wäre (vgl. Erw. 3a hievor), erweist sich eine Sachverhaltsergänzung im gegenwärtigen Zeitpunkt als unnötig. Eine solche wird die Verwaltung bei der Entlassung des Beschwerdeführers aus dem Strafvollzug vorzunehmen haben. Sollten zu jenem Zeitpunkt die gesetzlichen Voraussetzungen für den Rentenanspruch erfüllt sein, wird dem Beschwerdeführer die Rente ab dem Monat, in welchem er entlassen wird, ausgerichtet werden (BGE 113 V 279 Erw. 2d). Anders wäre hingegen vorzugehen, wenn die Invalidenrente eines Strafgefangenen Zusatzrenten auslösen kann. In einem solchen
BGE 114 V 225 S. 228

Fall müsste nach Ablauf der Wartezeit ein Einkommensvergleich vorgenommen werden. Ergäbe sich daraus eine rentenbegründende Invalidität, wäre zwar die Rente des Strafgefangenen zu sistieren, die Zusatzrenten jedoch müssten den Angehörigen ausbezahlt werden.
Decision information   •   DEFRITEN
Document : 114 V 225
Date : 22. Dezember 1988
Published : 31. Dezember 1988
Source : Bundesgericht
Status : 114 V 225
Subject area : BGE - Sozialversicherungsrecht (bis 2006: EVG)
Subject : Art. 28 Abs. 2 und Art. 29 Abs. 1 IVG: Statut des Strafgefangenen in der Invalidenversicherung. Die Wartezeit kann auch


Legislation register
IVG: 28  29  41
MVG: 43
BGE-register
102-V-167 • 107-V-219 • 110-V-284 • 113-V-273 • 114-V-225
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