112 II 87
16. Auszug aus dem Urteil der I. Zivilabteilung vom 28. Januar 1986 i.S. Eidgenössische Alters- und Hinterlassenenversicherung gegen "Winterthur" Schweizerische Versicherungs-Gesellschaft AG (Direktprozess)
Regeste (de):
- Art. 48ter
ff. AHVG. Rückgriff auf haftpflichtige Dritte.
- 1. Zuständigkeit des Bundesgerichts. Partei- und Prozessfähigkeit der Eidgenössischen Alters- und Hinterlassenenversicherung (E. 1).
- 2. Unfalltod eines IV-Rentners, der Versorger seiner Ehefrau war; die Sozialversicherung kann für die AHV-Witwenrente, die sie daraufhin ausrichtet, auf den für den Unfall verantwortlichen Dritten zurückgreifen, obwohl die IV-Rente wegfällt (E. 2).
Regeste (fr):
- Art. 48ter ss LAVS. Recours contre le tiers responsable.
- 1. Compétence du Tribunal fédéral. Capacité d'être partie et d'ester en justice de l'assurance-vieillesse et survivants de la Confédération (consid. 1).
- 2. Décès accidentel du bénéficiaire d'une rente AI (avec rente complémentaire), qui était soutien de famille; octroi subséquent d'une rente de veuve AVS. L'assurance sociale peut de ce chef exercer son recours contre la personne responsable, bien que le décès la libère du paiement de la rente AI (consid. 2).
Regesto (it):
- Art. 48ter segg. LAVS. Regresso nei confronti del terzo responsabile.
- 1. Competenza del Tribunale federale. Capacità di essere parte e legittimazione processuale dell'assicurazione per la vecchiaia e per i superstiti della Confederazione (consid. 1).
- 2. L'assicurazione sociale può, con riferimento ad una rendita per vedove dell'AVS da essa versata, esercitare il suo diritto di regresso anche nel caso in cui una rendita AI (con rendita complementare), percepita da un sostegno di famiglia quale reddito sostitutivo in ragione di un primo evento assicurativo, venga meno in seguito al decesso per infortunio del suo beneficiario (consid. 2).
Sachverhalt ab Seite 87
BGE 112 II 87 S. 87
A.- K. wurde am 29. Mai 1928 geboren. Gemäss einem Beschluss der Eidgenössischen Invalidenversicherung vom 16. Mai 1978 war er damals infolge eines Unfalls zu 54% invalid. Er bezog seit dem 1. März 1977 monatlich für sich eine einfache halbe IV-Rente von Fr. 457.-- und für seine Frau eine Zusatzrente von Fr. 160.--. Dazu kam sein Arbeitseinkommen, das 1978/79 Fr. 1'875.-- im Monat oder Fr. 22'500.-- im Jahr ausmachte. Am 5. März 1979 stiess der Wagen des M. fast frontal mit dem Fahrzeug des K. zusammen. K., der nicht angegurtet war, wurde dabei tödlich verletzt. M. war für seine Halterhaftpflicht bei der "Winterthur" versichert, welche eine Haftungsquote von 90% anerkannte. Die Ehefrau des Verunfallten erhielt von der Alters- und Hinterlassenenversicherung eine Witwenrente von Fr. 748.--, die sich
BGE 112 II 87 S. 88
durch die gesetzliche Anpassung 1980/81 auf Fr. 783.-- und 1982 auf Fr. 883.-- im Monat erhöhte. Frau K. starb am 28. November 1982. Die Eidgenössische Alters- und Hinterlassenenversicherung wollte für die Witwenrente auf die "Winterthur" zurückgreifen, die sich dem Regressanspruch aber widersetzte, weil die Sozialversicherung dadurch, dass sie ab März 1979 eine Witwenrente statt einer IV-Rente bezahlt habe, nicht geschädigt sei.
B.- Am 5. Dezember 1984 klagte die Eidgenössische Alters- und Hinterlassenenversicherung, vertreten durch das Bundesamt für Sozialversicherung, beim Bundesgericht gegen die "Winterthur" auf Zahlung von Fr. 30'236.-- nebst 5% Zins seit 1. Februar 1981. Sie berief sich auf eine Prorogationsabrede mit der Beklagten vom 24. Mai 1984. In der Replik setzte sie die Forderung auf Fr. 29'929.-- herab. Die Beklagte beantragte, auf die Klage mangels Partei- und Prozessfähigkeit der Klägerin nicht einzutreten oder deren Parteibezeichnung wie folgt zu berichtigen: "Schweizerische Eidgenossenschaft, vertreten durch das Bundesamt für Sozialversicherung, Bern." Wenn auf die Klage eingetreten werde, sei diese abzuweisen, soweit sie Fr. 5'900.-- übersteige. In der Duplik erhöhte die Beklagte diesen Betrag auf Fr. 6'554.--.
Erwägungen
Das Bundesgericht zieht in Erwägung:
1. Die Klage betrifft die wirtschaftlichen Folgen eines Verkehrsunfalles und damit zivilrechtliche Ansprüche. Dass das Regressrecht der Klägerin im Sozialversicherungsrecht geregelt ist, ändert daran nichts, denn es beruht auf ihrem Eintritt in die Ansprüche der Witwe. Angesichts eines Streitwertes von über Fr. 20'000.-- durften die Parteien vereinbaren, den Rechtsstreit im Sinne von Art. 41 lit. c
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Prozessual streitig geblieben unter den Parteien ist indes, ob die Eidgenössische Alters- und Hinterlassenenversicherung selber als Klägerin auftreten, die Regressforderung also im eigenen Namen geltend machen kann, oder ob ihr mangels Rechtspersönlichkeit die Partei- und Prozessfähigkeit abzusprechen sei, wie die Beklagte einwendet. a) Die Klägerin stützt sich für ihren Standpunkt, dass sie im vorliegenden Prozess als Partei zugelassen werden müsse, vor allem auf Art. 48ter
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BGE 112 II 87 S. 89
und seiner Hinterlassenen gegen den haftpflichtigen Dritten ein; das könne nur dahin verstanden werden, dass die Sozialversicherung mit dem Eintritt in die Rechte des Versicherten Gläubigerin der Regressforderung werde, den Anspruch folglich selber geltend machen könne. Die Klägerin verweist auf ein Gutachten des Bundesamtes für Justiz vom 13. Januar 1982 (teilweise veröffentlicht in VPB 1982 Nr. 56 S. 311 ff.); dieses Amt sei ebenfalls zum Schluss gelangt, dass der Gesetzgeber mit der Einführung des Regressrechtes gemäss Art. 48ter
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SR 210 Schweizerisches Zivilgesetzbuch vom 10. Dezember 1907 ZGB Art. 12 - Wer handlungsfähig ist, hat die Fähigkeit, durch seine Handlungen Rechte und Pflichten zu begründen. |
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SR 273 Bundesgesetz vom 4. Dezember 1947 über den Bundeszivilprozess BZP Art. 14 - Die Partei kann insoweit selbständig Prozess führen als sie handlungsfähig ist. |
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SR 831.20 Bundesgesetz vom 19. Juni 1959 über die Invalidenversicherung (IVG) IVG Art. 52 |
BGE 112 II 87 S. 90
gestützt auf Art. 48sexies
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SR 831.20 Bundesgesetz vom 19. Juni 1959 über die Invalidenversicherung (IVG) IVG Art. 52 |
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SR 831.101 Verordnung vom 31. Oktober 1947 über die Alters- und Hinterlassenenversicherung (AHVV) AHVV Art. 79quater |
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SR 831.10 Bundesgesetz vom 20. Dezember 1946 über die Alters- und Hinterlassenenversicherung (AHVG) AHVG Art. 56 3. Verfahren - 1 Verbände, die eine Ausgleichskasse errichten wollen, haben dem Bundesrat ein schriftliches Gesuch einzureichen unter Beilage des Entwurfes zu einem Kassenreglement. Gleichzeitig haben sie den Nachweis zu erbringen, dass die Voraussetzungen des Artikels 53 und gegebenenfalls des Artikels 54 erfüllt sind. |
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1 | Verbände, die eine Ausgleichskasse errichten wollen, haben dem Bundesrat ein schriftliches Gesuch einzureichen unter Beilage des Entwurfes zu einem Kassenreglement. Gleichzeitig haben sie den Nachweis zu erbringen, dass die Voraussetzungen des Artikels 53 und gegebenenfalls des Artikels 54 erfüllt sind. |
2 | Der Bundesrat erteilt die Bewilligung zur Errichtung einer Verbandsausgleichskasse, sofern die Voraussetzungen des Artikels 53 und gegebenenfalls des Artikels 54 erfüllt sind und Sicherheit gemäss Artikel 55 geleistet ist. |
3 | Die Verbandsausgleichskasse gilt als errichtet und erlangt das Recht der Persönlichkeit mit der Genehmigung des Kassenreglementes durch den Bundesrat. |
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SR 831.10 Bundesgesetz vom 20. Dezember 1946 über die Alters- und Hinterlassenenversicherung (AHVG) AHVG Art. 61 Kantonale Erlasse - 1 Jeder Kanton errichtet durch einen Erlass eine kantonale Ausgleichskasse als selbstständige kantonale öffentlich-rechtliche Anstalt. Vorbehalten bleibt Absatz 1bis.320 |
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1 | Jeder Kanton errichtet durch einen Erlass eine kantonale Ausgleichskasse als selbstständige kantonale öffentlich-rechtliche Anstalt. Vorbehalten bleibt Absatz 1bis.320 |
1bis | Die kantonale Ausgleichskasse kann einer kantonalen Sozialversicherungsanstalt angeschlossen sein, sofern diese als selbstständige öffentlich-rechtliche Anstalt ausgestaltet ist und über eine vom Kanton unabhängige Verwaltungskommission verfügt.321 |
2 | Der kantonale Erlass bedarf der Genehmigung des Bundes322 und muss Bestimmungen enthalten über: |
a | die Aufgaben und Befugnisse des Kassenleiters; |
b | die interne Kassenorganisation; |
c | ... |
d | die Grundsätze, nach welchen die Verwaltungskostenbeiträge erhoben werden; |
dbis | die Wahl der Revisionsstelle; |
e | die Arbeitgeberkontrolle; |
f | die Genehmigung von Jahresrechnung und Geschäftsbericht der Ausgleichskasse; |
g | die Errichtung der Verwaltungskommission und über deren Grösse, Zusammensetzung und Zuständigkeiten. |
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SR 831.10 Bundesgesetz vom 20. Dezember 1946 über die Alters- und Hinterlassenenversicherung (AHVG) AHVG Art. 107 Bildung - 1 Unter der Bezeichnung «Ausgleichsfonds der Alters- und Hinterlassenenversicherung» (AHV-Ausgleichsfonds) wird ein Fonds gebildet, dem alle Einnahmen gemäss Artikel 102 gutgeschrieben und alle Leistungen gemäss dem dritten Abschnitt des ersten Teils, die Zuschüsse gemäss Artikel 69 Absatz 2 dieses Gesetzes sowie die Ausgaben aufgrund des Regresses nach den Artikeln 72-75 ATSG445 belastet werden.446 |
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1 | Unter der Bezeichnung «Ausgleichsfonds der Alters- und Hinterlassenenversicherung» (AHV-Ausgleichsfonds) wird ein Fonds gebildet, dem alle Einnahmen gemäss Artikel 102 gutgeschrieben und alle Leistungen gemäss dem dritten Abschnitt des ersten Teils, die Zuschüsse gemäss Artikel 69 Absatz 2 dieses Gesetzes sowie die Ausgaben aufgrund des Regresses nach den Artikeln 72-75 ATSG445 belastet werden.446 |
2 | Der Bund leistet seinen Beitrag monatlich an den AHV-Ausgleichsfonds.447 |
3 | Der AHV-Ausgleichsfonds darf in der Regel nicht unter den Betrag einer Jahresausgabe sinken.448 |
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SR 831.20 Bundesgesetz vom 19. Juni 1959 über die Invalidenversicherung (IVG) IVG Art. 52 |
BGE 112 II 87 S. 91
entgegen den Einwänden der Beklagten aber nicht, dass die vom Gesetzgeber einzelnen Organen zuerkannte Prozessfähigkeit deswegen entfalle oder dass der Zivilrichter sich darüber hinwegsetzen dürfe. c) Bei diesem Ergebnis kann offenbleiben, ob das Bundesamt für Sozialversicherung schon seit Jahren in Auseinandersetzungen um Regressforderungen gemäss Art. 48ter
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SR 831.20 Bundesgesetz vom 19. Juni 1959 über die Invalidenversicherung (IVG) IVG Art. 52 |
2. In der Sache selbst ist unbestritten, dass den verstorbenen K. am Unfall vom 5. März 1979 bloss ein leichtes Mitverschulden trifft und die Haftung der Beklagten deshalb nur um 10% zu kürzen ist. Einig sind sich die Parteien auch darüber, dass der Verunfallte bis zum Tod seiner Frau im November 1982 aus seiner Erwerbstätigkeit mindestens das gleiche Einkommen erzielt hätte wie 1978/79 und dass die Versorgungsquote der Witwe mit 45% einzusetzen ist. Streitig ist dagegen, ob die Klägerin sich bei der Ausübung des Regressrechtes gemäss Art. 48ter
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BGE 112 II 87 S. 92
Die Beklagte ist dagegen der Auffassung, die Klägerin müsse sich die weggefallenen IV-Leistungen voll anrechnen lassen. Die Art. 48ter
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BGE 112 II 87 S. 93
nicht voll ausgleichen, sondern das notwendige Mindesteinkommen sicherstellen (vgl. BGE 108 II 440 E. 5a). Dass es vor der Einführung der Invalidenversicherung im Jahre 1960 lediglich eine AHV-Rente gab, ein Versorgerschaden, wie er heute von der Klägerin aus dem Übergang der IV-Rente in eine AHV-Witwenrente abgeleitet wird, also nicht denkbar war, hilft der Beklagten ebenfalls nicht. Die Besonderheit ist damit zu erklären, dass eine Witwe sich vor 1960 bei der Berechnung des Versorgerschadens nicht auf ein entsprechendes Renteneinkommen ihres invaliden Ehemannes berufen konnte. Dies hat sich seit 1960 jedoch geändert, da der Invalide seitdem ein Ersatzeinkommen und unter Umständen eine Zusatzrente für seine Ehefrau erhält. Richtig ist somit, dass erst die Einführung der Invalidenversicherung es ermöglichte, IV-Leistungen bei der Berechnung des Versorgerschadens einer Witwe mitzuberücksichtigen. Deswegen aber von einem "rein sozialversicherungsbedingten scheinbaren Versorgerschaden" zu reden, der dem haftpflichtigen Dritten nicht entgegengehalten werden könne, wie die Beklagte einwendet, geht nicht an, will man den Sinn und Zweck der neuen Rechtslage nicht ins Gegenteil verkehren. Auch der Hinweis der Beklagten auf den Sonderfall, dass der haftpflichtige Dritte den Schaden nach der Rechtsauffassung der Klägerin doppelt ersetzen müsste, wenn ein Versorger wegen eines Unfalles zunächst invalid werde und später an den Folgen eines zweiten Unfalles sterbe, vermag nicht zu überzeugen. Diesfalls liegen zwei voneinander klar getrennte Schäden vor, nämlich der Invalidenschaden aus dem ersten und der Versorgerschaden der Witwe aus dem zweiten Unfall; beide Schäden sind von den Sozialversicherungen nach den auf sie anwendbaren Normen zu ersetzen, ergeben folglich auch getrennte Regressrechte. Das gilt auch dann, wenn die Sozialversicherungen auf den gleichen haftpflichtigen Dritten zurückgreifen. Für IV-Renten des Versorgers wird übrigens, wie die Klägerin anerkennt, nur bis zu seinem 65., für AHV-Renten der Witwe nur bis zu ihrem 62. Altersjahr regressiert. Selbst wenn der Geschädigte vorher stirbt, ergibt sich keine verkappte Doppelzahlung oder Bereicherung der Sozialversicherung, weil dieses Risiko bei der Kapitalisierung der Rente mitberücksichtigt wird, was sich in anderen Fällen, wo der Rentenberechtigte das AHV-Alter erreicht, zulasten der Sozialversicherung auswirkt.
Der Einwand schliesslich, dass der Regress der Klägerin auf die Mehrbelastung von Fr. 6'554.--, die ihr nach Abzug der weggefallenen IV-Leistungen aus dem Verkehrsunfall tatsächlich entstanden
BGE 112 II 87 S. 94
sei, beschränkt werden müsse, scheitert schon am klaren Wortlaut des Art. 48ter
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c) Damit ist auch den weiteren Einwänden, mit denen die Beklagte den Regressanspruch der Klägerin zu bestreiten sucht, der Boden entzogen. Dies gilt insbesondere für die Begründung ihres Eventualstandpunktes über die Anrechnung von angeblichen Vorteilen: Da die Klägerin in die Rechte der Witwe eintritt, wäre entscheidend, ob bei dieser die Voraussetzungen für eine Vorteilsanrechnung gegeben sind. Das wird aber von der Beklagten zu Recht nicht geltend gemacht; IV-Rente und Zusatzrente sind ja mit dem Tode des K. weggefallen. Aus BGE 109 II 65 ff. kann die Beklagte ebenfalls nichts zu ihren Gunsten ableiten, zumal dort die Regressforderung schon daran scheiterte, dass eine Subrogation nach schweizerischem Recht zu verneinen war, die Frage nach einer Anrechnung der Rente auf den Versorgerschaden sich also gar nicht stellte.
3. Die Klägerin kann somit für die von ihr erbrachten AHV-Witwenrenten voll auf die Beklagte zurückgreifen...
Dispositiv
Demnach erkennt das Bundesgericht:
Die Klage wird gutgeheissen und die Beklagte verpflichtet, der Klägerin Fr. 29'929.-- nebst 5% Zins seit 1. Februar 1981 zu bezahlen.