112 II 167
29. Auszug aus dem Urteil der I. Zivilabteilung vom 29. April 1986 i.S. Eidgenössische Alters- und Hinterlassenenversicherung gegen Basler Versicherungs-Gesellschaft (Direktprozess)
Regeste (de):
- Motorfahrzeughaftpflicht. Regressrecht der Sozialversicherung.
- Art. 48ter Satz 2 AHVG enthält entgegen seinem Wortlaut und Äusserungen zu seiner Entstehung keinen blossen Vorbehalt, sondern eine Haftungsbeschränkung zugunsten der in Art. 129 Abs. 2 KUVG (nun in Art. 44 Abs. 1 UVG) erwähnten Familienangehörigen.
- Die Beschränkung kann einer Regressforderung der Sozialversicherung entgegengehalten werden, gleichviel ob der vom Unfall Betroffene bei der SUVA versichert gewesen sei oder nicht.
Regeste (fr):
- Responsabilité civile automobile. Droit de recours de l'assurance sociale.
- L'art. 48ter 2e phrase, LAVS, contrairement à ce que pourraient laisser croire son texte et les déclarations faites lors de son élaboration, ne contient pas une simple réserve, mais une limitation de la responsabilité en faveur des proches mentionnés à l'art. 129 al. 2 LAMA (maintenant à l'art. 44 al. 1 LAA).
- La limitation de la responsabilité peut être opposée à une prétention récursoire de l'assurance sociale, que la victime de l'accident ait été assurée ou non auprès de la CNA.
Regesto (it):
- Responsabilità civile veicoli a motore. Diritto di regresso dell'assicurazione sociale.
- L'art. 48ter secondo periodo LAVS, contrariamente a quanto lascia supporre il suo testo e le dichiarazioni fatte al momento della sua elaborazione, non contiene una semplice riserva, bensì una limitazione della responsabilità a favore dei familiari menzionati nell'art. 129 cpv. 2 LAMI (attualmente, nell'art. 44 cpv. 1 LAINF).
- La limitazione della responsabilità può essere eccepita contro una pretesa fondata sul diritto di regresso dell'assicurazione sociale, indipendentemente dal fatto che la vittima dell'infortunio fosse o non fosse assicurata presso l'INSAI.
Sachverhalt ab Seite 167
BGE 112 II 167 S. 167
A.- Antonio Carrieri wohnte 1982 in Neuenstadt (BE) und war Halter eines VW-Lieferwagens, der mit schweizerischen Kontrollschildern versehen war. Für seine Halterhaftpflicht war er bei der "Basler" versichert.
BGE 112 II 167 S. 168
Am 10. Juli 1982 fuhr er in Begleitung seiner Ehefrau sowie der Tochter Orietta mit dem Wagen durch das Aostatal. Im Gebiet von Gignod brach am Wagen eine Stabilisierungsstange. Carrieri verlor daraufhin die Herrschaft über das Fahrzeug, das über die Strasse hinaus geriet und sich überschlug. Seine Frau kam beim Unfall ums Leben. Ein Strafverfahren gegen Carrieri wurde vom "Tribunale di Aosta" am 21. Dezember 1982 mangels Verschuldens eingestellt. Orietta Carrieri, die am 28. November 1971 geboren ist, bezieht von der Eidgenössischen Alters- und Hinterlassenenversicherung seit dem 1. August 1982 eine "Mutterwaisenrente" (Art. 48
SR 831.101 Verordnung vom 31. Oktober 1947 über die Alters- und Hinterlassenenversicherung (AHVV) AHVV Art. 48 |
B.- Am 20. September 1985 klagte die Eidgenössische Alters- und Hinterlassenenversicherung, vertreten durch das Bundesamt für Sozialversicherung, beim Bundesgericht gegen die "Basler" auf Zahlung von Fr. 28'249.-- nebst 5% Zins seit 1. August 1982. Die Klägerin berief sich in der Sache auf Art. 48ter AHVG. Das Bundesgericht weist die Klage gemäss Antrag der Beklagten ab.
Erwägungen
Aus den Erwägungen:
2. Gemäss Art. 48ter AHVG tritt die Alters- und Hinterlassenenversicherung bis auf die Höhe ihrer gesetzlichen Leistungen in die Ansprüche ein, die der Versicherte und seine Hinterlassenen gegen den haftpflichtigen Dritten haben (Satz 1); Art. 129
SR 831.101 Verordnung vom 31. Oktober 1947 über die Alters- und Hinterlassenenversicherung (AHVV) AHVV Art. 48 |
SR 831.101 Verordnung vom 31. Oktober 1947 über die Alters- und Hinterlassenenversicherung (AHVV) AHVV Art. 48 |
BGE 112 II 167 S. 169
wie hier geht. Die Beklagte bejaht die Frage, zumal ein Fall reiner Kausalhaftung vorliege; die Klägerin verneint sie dagegen, weil die Verstorbene nicht bei der SUVA versichert gewesen sei. a) Satz 2 von Art. 48ter AHVG war im Entwurf des Bundesrates nicht enthalten. Er geht auf einen Antrag Hefti in der ständerätlichen Kommission zurück, die Haftung des Dritten fallenzulasen, soweit eine Institution, der er Prämien zahle, die Haftung übernehme. Der Antrag wurde in der Folge dahin abgeändert, dass Art. 129
SR 831.101 Verordnung vom 31. Oktober 1947 über die Alters- und Hinterlassenenversicherung (AHVV) AHVV Art. 48 |
SR 831.101 Verordnung vom 31. Oktober 1947 über die Alters- und Hinterlassenenversicherung (AHVV) AHVV Art. 48 |
SR 741.01 Strassenverkehrsgesetz vom 19. Dezember 1958 (SVG) SVG Art. 80 - Geschädigten, die nach dem Unfallversicherungsgesetz vom 20. März 1981199 versichert sind, bleiben die Ansprüche aus diesem Gesetz gewahrt. |
SR 831.101 Verordnung vom 31. Oktober 1947 über die Alters- und Hinterlassenenversicherung (AHVV) AHVV Art. 48 |
SR 741.01 Strassenverkehrsgesetz vom 19. Dezember 1958 (SVG) SVG Art. 80 - Geschädigten, die nach dem Unfallversicherungsgesetz vom 20. März 1981199 versichert sind, bleiben die Ansprüche aus diesem Gesetz gewahrt. |
SR 831.101 Verordnung vom 31. Oktober 1947 über die Alters- und Hinterlassenenversicherung (AHVV) AHVV Art. 48 |
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BGE 112 II 167 S. 170
wenn die Vorschrift des Art. 129 Abs. 2 KUVG im Bereich der Sozialversicherungen bloss unter den in ihr genannten Voraussetzungen anwendbar sein sollte; dazu gehörte insbesondere, dass der Unfall einen bei der SUVA Versicherten traf. b) Eine Gesetzesbestimmung ist in erster Linie aus sich selbst, d.h. nach ihrem Wortlaut, Sinn und Zweck sowie nach den ihr zugrunde liegenden Wertungen auszulegen. Die Vorarbeiten sind weder verbindlich noch für die Auslegung unmittelbar entscheidend (BGE 103 Ia 290 E. 2c mit Hinweisen); denn ein Gesetz entfaltet, wie in BGE 67 II 236 E. 2d gerade zu Art. 129 Abs. 2 KUVG ausgeführt worden ist, ein eigenständiges, vom Willen des Gesetzgebers unabhängigen Dasein, sobald es in Kraft getreten ist. Das heisst nicht, die Gesetzesmaterialien seien methodisch unbeachtlich; sie können namentlich dann, wenn eine Bestimmung unklar ist oder verschiedene, sich widersprechende Auslegungen zulässt, ein wertvolles Hilfsmittel sein, den Sinn der Norm zu erkennen (BGE 100 II 57 mit Hinweisen). Das ist hier allerdings nicht der Fall, da die Äusserungen der Subkommission zu Satz 2 von Art. 48ter AHVG die Schwierigkeit, wie der streitige Vorbehalt zu verstehen ist, nicht beseitigen, sondern erhöhen. Fragen kann sich daher bloss, ob der an sich klare Wortlaut den Sinn, den Satz 2 von Art. 48ter AHVG in Verbindung mit Satz 1 vernünftigerweise haben muss, wirklich wiedergibt oder ob er ihm gar zuwiderläuft. Diesfalls darf auch von einem klaren Text abgewichen werden (BGE 105 II 138 E. 2a und BGE 101 Ia 207 mit Hinweisen). Wortlaut und Einordnung des streitigen Vorbehaltes ermöglichen, wie SCHAER (Rz. 835) und STOESSEL (Das Regressrecht der AHV/IV gegen den Haftpflichtigen, Diss. Zürich 1982, S. 48/49) aufzeigen, verschiedene Auslegungen. Nach den Äusserungen zu ihrer Entstehung könnte angenommen werden, dass die Bestimmung nur das vorbehalte, was bereits in Art. 129 Abs. 2 KUVG gesagt sei. Diese Auslegung hat zwar den Wortlaut für sich, entbehrt aber jeder Rechtfertigung; Satz 2 von Art. 48ter AHVG wäre sinn- und zwecklos, hielte er bloss fest, was auch ohne einen solchen Hinweis bereits aufgrund von Art. 129 Abs. 2 KUVG gilt (STOESSEL, S. 49; SCHAER, Rz. 835). Abzulehnen ist auch die Auffassung, das in Art. 129 Abs. 2 KUVG enthaltene Haftungsprivileg sei anzuwenden, wenn der Verletzte oder Getötete nicht bei der SUVA, sondern nur bei der AHV/IV versichert ist. Die Sozialversicherungen decken den Versorgerschaden in den allerwenigsten Fällen ausreichend; da sie nur das notwendige Mindesteinkommen
BGE 112 II 167 S. 171
sicherstellen wollen, müssen die bei ihnen Versicherten sehr oft sogar zusätzliche Bedingungen erfüllen, um in den Genuss der vollen Leistungen zu kommen. Es kann daher nicht der Sinn des Gesetzes sein, den Geschädigten durch eine weiterreichende Haftungsbeschränkung noch mehr zu benachteiligen; das widerspräche nicht nur dem System, sondern liefe auch den Grundgedanken des Gesetzes stracks zuwider (STOESSEL, S. 49; GEISER, Die Treuepflicht des Arbeitnehmers und ihre Schranken, Diss. Bern 1982, S. 118/19). Im Schrifttum wird Satz 2 von Art. 48ter AHVG durchwegs dahin ausgelegt, dass Regresse der Sozialversicherung gegenüber den in Art. 129 Abs. 2 KUVG genannten Familienangehörigen auszuschliessen sind, weshalb man diese Bestimmung in jener nicht bloss hätte vorbehalten, sondern für sinngemäss anwendbar erklären müssen (SCHAER, Rz. 967; STOESSEL, S. 49/50; BOLLER, S. 70; GEISER, S. 118). Das eine wie das andere leuchtet ein. Die Einschränkung der Haftpflicht von Familienangehörigen gemäss Art. 129 Abs. 2 KUVG ist Ausfluss der Idee, dass die Sozialversicherung nicht mit der linken Hand zurücknehmen soll, was sie mit der rechten gegeben hat, weil dies als stossend bezeichnet werden müsste. Das ist zu Recht bereits in der bundesrätlichen Botschaft zum Entwurf des KUVG von 1906 hervorgehoben worden (BGE 67 II 235) und heute mehr denn je als allgemein gültige Überlegung zu beachten, wenn der soziale Zweck der AHV gegenüber Familienangehörigen, die eine wirtschaftliche Einheit bilden, nicht in Frage gestellt werden soll (MAURER, Recht und Praxis der schweizerischen obligatorischen Unfallversicherung, S. 355; SCHAER, Rz. 966 ff. mit Hinweisen). Eine harmonisierende Betrachtungsweise in dem Sinne, dass der Familienangehörige unbekümmert um die Herkunft der Leistungen allgemein privilegiert wird, drängt sich um so mehr auf, als Art. 72 Abs. 3
SR 741.01 Strassenverkehrsgesetz vom 19. Dezember 1958 (SVG) SVG Art. 80 - Geschädigten, die nach dem Unfallversicherungsgesetz vom 20. März 1981199 versichert sind, bleiben die Ansprüche aus diesem Gesetz gewahrt. |