110 Ia 140
30. Auszug aus dem Beschluss der I. öffentlichrechtlichen Abteilung vom 16. Juli 1984 i.S. M. gegen Staatsanwaltschaft und Anklagekammer des Obergerichts des Kantons Zürich (staatsrechtliche Beschwerde)
Regeste (de):
- Art. 88 OG.
- 1. Das aktuelle praktische Interesse an der Behandlung einer Haftbeschwerde entfällt, wenn der Beschwerdeführer während der Hängigkeit des bundesgerichtlichen Verfahrens aus der Haft entlassen wird (E. 2a, Änderung der Rechtsprechung).
- 2. Umstände, unter denen auf das Erfordernis des aktuellen praktischen Interesses verzichtet wird (E. 2b).
Regeste (fr):
- Art. 88 OJ.
- 1. Un intérêt actuel et pratique ne peut plus être reconnu à celui qui est libéré alors que le recours de droit public qu'il a exercé contre sa détention est pendant devant le Tribunal fédéral (consid. 2a; modification de la jurisprudence).
- 2. Circonstances permettant de renoncer à l'exigence d'un intérêt actuel et pratique (consid. 2b).
Regesto (it):
- Art. 88 OG.
- 1. Non può più essere riconosciuto un interesse attuale e pratico a chi sia liberato in pendenza del ricorso di diritto pubblico da lui proposto al Tribunale federale contro la propria carcerazione (consid. 2a) (cambiamento della giurisprudenza).
- 2. Circostanze che consentono di rinunciare al requisito di un interesse attuale e pratico (consid. 2b).
Sachverhalt ab Seite 141
BGE 110 Ia 140 S. 141
M. erhob gegen die Verlängerung seiner Untersuchungshaft staatsrechtliche Beschwerde. Während der Hängigkeit des bundesgerichtlichen Verfahrens wurde M. aus der Haft entlassen. Das Bundesgericht schreibt die Beschwerde als gegenstandslos geworden ab.
Erwägungen
Auszug aus den Erwägungen:
2. a) Nach der Rechtsprechung zu Art. 88 OG verlangt das Bundesgericht, dass der Beschwerdeführer ein aktuelles praktisches Interesse an der Aufhebung des angefochtenen Entscheides hat (BGE 109 Ia 170, BGE 108 Ib 124, BGE 107 Ia 139, BGE 106 Ia 152, mit Hinweisen). Dieses Erfordernis soll sicherstellen, dass das Gericht konkrete und nicht bloss theoretische Fragen entscheidet, und es dient damit der Prozessökonomie (BGE 109 Ia 170, BGE 106 Ia 152, BGE 104 Ia 488; WALTER KÄLIN, Das Verfahren der staatsrechtlichen Beschwerde, Bern 1984, S. 244). Im vorliegenden Fall steht ausser Zweifel, dass der Beschwerdeführer im Hinblick auf die Entlassung aus der Haft kein aktuelles praktisches Interesse mehr an der Behandlung seiner Beschwerde hat. Es stellt sich indessen die Frage, ob allenfalls in anderer Hinsicht weiterhin ein Interesse an der Feststellung der behaupteten Verfassungswidrigkeit der erstandenen Untersuchungshaft besteht. Das Bundesgericht hat in seiner früheren Rechtsprechung ein Interesse an der materiellen Behandlung von Haftbeschwerden auch dann anerkannt, wenn die Untersuchungshaft durch Freilassung oder rechtskräftiges Urteil beendet worden war (BGE 98 Ia 100; nicht veröffentlichtes Urteil i.S. F. Sch. vom 19. Dezember 1979, zitiert bei ROBERT LEVI, Schwerpunkte der Rechtsprechung des Bundesgerichts zu Fragen der Untersuchungshaft seit dem Beitritt der Schweiz zur Europäischen Menschenrechtskonvention, in: Mélanges André Grisel, Neuchâtel 1983, S. 346 f.). Es nahm an, der Betroffene sei an der Feststellung der Verfassungswidrigkeit der erstandenen Haft deshalb nach wie vor interessiert, weil er daraus allenfalls Schadenersatz- oder Genugtuungsansprüche ableiten könne und es unsicher sei, ob der mit der Klage befasste Richter die Verfassungsmässigkeit der Haft vorfrageweise
BGE 110 Ia 140 S. 142
überprüfe (vgl. BGE 47 I 143, BGE 109 Ia 171, LEVI, a.a.O., S. 347, mit weitern Hinweisen).
Im Jahre 1980 ging das Bundesgericht zu einer zurückhaltenderen Beurteilung des Interesses an Beschwerden über bereits beendete Haft über (vgl. die Darstellung bei LEVI, a.a.O., S. 347 f.). In einem den Kanton Basel-Stadt betreffenden Fall führte es aus, aufgrund des kantonalen Rechts stehe die rechtskräftige Ablehnung eines Haftentlassungsgesuches durch die kantonalen Behörden der materiellen Beurteilung eines späteren Entschädigungsbegehrens nicht entgegen, und es verneinte daher ein Interesse an der Prüfung der Verfassungsmässigkeit der erstandenen Haft (nicht veröffentlichter Beschluss i.S. B. N. vom 25. Juni 1980). In einem späteren Verfahren legte das Bundesgericht dar, dass viele Kantonsverfassungen und die Strafprozessordnungen praktisch sämtlicher Kantone Bestimmungen enthielten über den Entschädigungsanspruch sowohl widerrechtlich verhafteter als auch solcher Personen, welche zwar entsprechend den gesetzlichen Vorschriften in Haft gesetzt wurden, die sich aber in der Folge als unschuldig erweisen und die Haft auch nicht durch vorwerfbares Verhalten veranlasst haben (vgl. BGE 107 Ia 166 f.). Daraus zog es den Schluss, in allen diesen Fällen komme es nicht in Frage, dass die Haftentschädigung mit der Begründung verweigert werden könnte, ein Gesuch um Haftentlassung sei rechtskräftig abgewiesen worden. Es fügte bei, ein derartiger Ausschluss verstiesse auch klarerweise gegen Art. 5 Ziff. 5
IR 0.101 Konvention vom 4. November 1950 zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (EMRK) EMRK Art. 5 Recht auf Freiheit und Sicherheit - (1) Jede Person hat das Recht auf Freiheit und Sicherheit. Die Freiheit darf nur in den folgenden Fällen und nur auf die gesetzlich vorgeschriebene Weise entzogen werden: |
|
a | rechtmässiger Freiheitsentzug nach Verurteilung durch ein zuständiges Gericht; |
b | rechtmässige Festnahme oder rechtmässiger Freiheitsentzug wegen Nichtbefolgung einer rechtmässigen gerichtlichen Anordnung oder zur Erzwingung der Erfüllung einer gesetzlichen Verpflichtung; |
c | rechtmässige Festnahme oder rechtmässiger Freiheitsentzug zur Vorführung vor die zuständige Gerichtsbehörde, wenn hinreichender Verdacht besteht, dass die betreffende Person eine Straftat begangen hat, oder wenn begründeter Anlass zu der Annahme besteht, dass es notwendig ist, sie an der Begehung einer Straftat oder an der Flucht nach Begehung einer solchen zu hindern; |
d | rechtmässiger Freiheitsentzug bei Minderjährigen zum Zweck überwachter Erziehung oder zur Vorführung vor die zuständige Behörde; |
e | rechtmässiger Freiheitsentzug mit dem Ziel, eine Verbreitung ansteckender Krankheiten zu verhindern, sowie bei psychisch Kranken, Alkohol- oder Rauschgiftsüchtigen und Landstreichern; |
f | rechtmässige Festnahme oder rechtmässiger Freiheitsentzug zur Verhinderung der unerlaubten Einreise sowie bei Personen, gegen die ein Ausweisungs- oder Auslieferungsverfahren im Gange ist. |
BGE 110 Ia 140 S. 143
machen, dass bereits vorher die Unrechtmässigkeit der Haft festgestellt worden ist. Darüber hinaus garantiert Art. 5 Ziff. 5
IR 0.101 Konvention vom 4. November 1950 zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (EMRK) EMRK Art. 5 Recht auf Freiheit und Sicherheit - (1) Jede Person hat das Recht auf Freiheit und Sicherheit. Die Freiheit darf nur in den folgenden Fällen und nur auf die gesetzlich vorgeschriebene Weise entzogen werden: |
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a | rechtmässiger Freiheitsentzug nach Verurteilung durch ein zuständiges Gericht; |
b | rechtmässige Festnahme oder rechtmässiger Freiheitsentzug wegen Nichtbefolgung einer rechtmässigen gerichtlichen Anordnung oder zur Erzwingung der Erfüllung einer gesetzlichen Verpflichtung; |
c | rechtmässige Festnahme oder rechtmässiger Freiheitsentzug zur Vorführung vor die zuständige Gerichtsbehörde, wenn hinreichender Verdacht besteht, dass die betreffende Person eine Straftat begangen hat, oder wenn begründeter Anlass zu der Annahme besteht, dass es notwendig ist, sie an der Begehung einer Straftat oder an der Flucht nach Begehung einer solchen zu hindern; |
d | rechtmässiger Freiheitsentzug bei Minderjährigen zum Zweck überwachter Erziehung oder zur Vorführung vor die zuständige Behörde; |
e | rechtmässiger Freiheitsentzug mit dem Ziel, eine Verbreitung ansteckender Krankheiten zu verhindern, sowie bei psychisch Kranken, Alkohol- oder Rauschgiftsüchtigen und Landstreichern; |
f | rechtmässige Festnahme oder rechtmässiger Freiheitsentzug zur Verhinderung der unerlaubten Einreise sowie bei Personen, gegen die ein Ausweisungs- oder Auslieferungsverfahren im Gange ist. |
BGE 110 Ia 140 S. 144
In bezug auf Beschwerden aus dem Bereiche von Haft trat das Bundesgericht auf Beschwerden von Personen ein, die im Anschluss an eine Demonstration für einige Stunden festgenommen und während dieser Zeit erkennungsdienstlich behandelt worden waren (BGE 107 Ia 139). Ebenso prüfte es eine Beschwerde, in der die Zuständigkeit eines ausserordentlichen Untersuchungsrichters zur Anordnung von Haft für die Dauer von 14 Tagen bestritten worden war (BGE 107 Ia 253). Schliesslich trat es auf eine Beschwerde ein, die sich gegen die kurzfristige Einlieferung eines Jugendlichen in ein Gefängnis aus vorwiegend fürsorgerischen Motiven wandte (nicht veröffentlichtes Urteil i.S. D. G. vom 31. März 1982; vgl. LEVI, a.a.O., S. 348 f.). An diesen Voraussetzungen fehlt es indessen bei der Mehrzahl staatsrechtlicher Beschwerden, mit denen die Verfassungs- und Konventionswidrigkeit der Anordnung oder Erstreckung einer inzwischen dahingefallenen Untersuchungshaft gerügt wird. Die damit aufgeworfenen Verfassungsfragen können sich in der Regel nicht mehr unter gleichen oder ähnlichen Umständen stellen. Vielmehr ist im Einzelfall das Vorliegen der Haftgründe zu prüfen, und es sind dabei die konkreten Umstände wie etwa die Verdachtsgründe, die Flucht- oder Kollusionsgefahr, der Stand des Verfahrens, die persönlichen Verhältnisse, die bisherige Dauer der Haft u.a.m. zu berücksichtigen. Es stellen sich dabei keine Fragen, deren Beantwortung wegen ihrer grundsätzlichen Bedeutung im öffentlichen Interesse liegt. Das Bundesgericht ist auch durchaus in der Lage, derartige Beschwerden rechtzeitig zu behandeln. Es besteht daher kein Grund, solche Beschwerden trotz des Fehlens eines aktuellen praktischen Bedürfnisses materiell zu behandeln. So verhält es sich auch bei der vorliegenden Beschwerde. Der Beschwerdeführer bestreitet in erster Linie das Vorliegen von Kollusionsgefahr und beanstandet die Dauer der Untersuchungshaft. Diese Beschwerdegründe rechtfertigen es nicht, die durch Freilassung bereits beendete Untersuchungshaft auf ihre Verfassungs- und Konventionsmässigkeit hin zu überprüfen. Die Beschwerde ist daher als gegenstandslos geworden vom Geschäftsverzeichnis abzuschreiben.