108 II 503
94. Auszug aus dem Urteil der II. Zivilabteilung vom 18. November 1982 in S. H. gegen H. (Berufung)
Regeste (de):
- Art. 142 Abs. 2
ZGB: Wann ist die Berufung auf Art. 142 Abs. 2
ZGB rechtsmissbräuchlich?
- Leben die Ehegatten bei Einreichung der Scheidungsklage seit 15 Jahren getrennt, so ist anzunehmen, dass einerseits beim Gatten, der sich auf das Widerspruchsrecht gegen die Scheidungsklage beruft, der wirkliche Ehewille erloschen sei und dass anderseits auch kein schützenswertes Interesse mehr an der Aufrechterhaltung der Ehe dem Bande nach bestehe, sofern der widersprechende Ehegatte nicht den Gegenbeweis erbringt.
Regeste (fr):
- Art. 142 al. 2 CC: quand y a-t-il abus de droit à invoquer l'art. 142 al. 2 CC?
- Lorsque, au moment de l'introduction de l'action en divorce, les conjoints vivent séparés depuis 15 ans, on doit admettre d'une part que l'époux qui prétend s'opposer au divorce a en fait perdu la réelle volonté de poursuivre le mariage, d'autre part, qu'il n'existe plus d'intérêt digne de protection au maintien du lien conjugal, pour autant que l'époux qui s'oppose au divorce n'apporte pas la preuve du contraire.
Regesto (it):
- Art. 142 cpv. 2 CC: quando il richiamo all'art. 142 cpv. 2 CC costituisce un abuso di diritto?
- Ove al momento in cui è promossa l'azione di divorzio i coniugi vivano separati da 15 anni, devesi presumere, da un lato, che al coniuge che invoca il suo diritto di opporsi sia venuta meno la volontà effettiva di continuare il matrimonio e, dall'altro, che più neppure sussista un interesse degno di protezione a mantenere il vincolo coniugale; rimane peraltro salva la prova del contrario da parte del coniuge che si oppone al divorzio.
Sachverhalt ab Seite 503
BGE 108 II 503 S. 503
F. H., geboren 1929, und H. R., geboren 1927, heirateten nach kurzer Bekanntschaft am 29. Oktober 1951. Ein Jahr später wurde den Ehegatten ein Sohn geboren. Nachdem die Eheleute H. während acht Jahren im Ausland gelebt hatten, kehrten sie im Jahre 1962 wieder in die Schweiz zurück. In der Folge lernte der
BGE 108 II 503 S. 504
Ehemann eine andere Frau kennen, mit welcher er zwei Kinder zeugte und seit anfangs 1964 zusammenlebt. Am 6. Dezember 1966 machte der Ehemann eine erste Scheidungsklage anhängig, der sich die Ehefrau widersetzte. Das Amtsgericht des Kantons X. wies die Klage mit rechtkräftigem Urteil vom 21. Juli 1967 wegen überwiegenden Verschuldens des Ehemannes ab. Im Urteil wurde festgehalten, dem Kläger sei der Nachweis, dass die eheliche Zerrüttung schon vor der Aufnahme seiner Beziehungen zu seiner Geliebten bestanden habe, nicht gelungen. Einziger Zerrüttungsgrund sei demnach sein ehebrecherisches Verhältnis zu dieser Frau. Mit Urteil vom 19. November 1981 hiess das Kantonsgericht des Kantons Y. eine erneute Scheidungsklage von F. H. trotz des Widerstandes der Beklagten gut und schied die Ehe der Parteien gestützt auf Art. 142

Erwägungen
Aus den Erwägungen:
2. Das Obergericht hat mit Recht festgehalten, dass aufgrund der vom Kläger im vorliegenden Verfahren vorgetragenen Tatsachenbehauptungen an eine vom früheren Urteil abweichende Beurteilung der Verschuldensfrage nicht gedacht werden könne. Es finden sich in der Tat keine Anhaltspunkte dafür, dass die Ehe der Parteien vor Aufnahme der Beziehungen des Klägers zu seiner jetzigen Geliebten bereits tief und unheilbar zerrüttet oder jedenfalls bereits so stark gestört gewesen wäre, dass das ehebrecherische
BGE 108 II 503 S. 505
Verhältnis des Klägers für den Eintritt der Zerrüttung nicht mehr als die wesentliche Ursache hätte betrachtet werden dürfen (BGE 98 II 162 /63, BGE 87 II 4 ff. mit Hinweis auf BGE 68 II 65 ff. und BGE 78 II 301; BÜHLER/SPÜHLER, N. 31 zu Art. 137



SR 210 Schweizerisches Zivilgesetzbuch vom 10. Dezember 1907 ZGB Art. 2 - 1 Jedermann hat in der Ausübung seiner Rechte und in der Erfüllung seiner Pflichten nach Treu und Glauben zu handeln. |
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1 | Jedermann hat in der Ausübung seiner Rechte und in der Erfüllung seiner Pflichten nach Treu und Glauben zu handeln. |
2 | Der offenbare Missbrauch eines Rechtes findet keinen Rechtsschutz. |

SR 210 Schweizerisches Zivilgesetzbuch vom 10. Dezember 1907 ZGB Art. 2 - 1 Jedermann hat in der Ausübung seiner Rechte und in der Erfüllung seiner Pflichten nach Treu und Glauben zu handeln. |
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1 | Jedermann hat in der Ausübung seiner Rechte und in der Erfüllung seiner Pflichten nach Treu und Glauben zu handeln. |
2 | Der offenbare Missbrauch eines Rechtes findet keinen Rechtsschutz. |


BGE 108 II 503 S. 506
bestand und der Scheidungskläger im Ausland eine neue Ehe eingegangen war, aus der Kinder hervorgegangen waren; zudem standen die Ehegatten schon in sehr fortgeschrittenem Alter, und der sich der Scheidung widersetzende Ehegatte hatte nicht dargetan, dass ihn die Scheidung in schutzwürdigen materiellen oder ideellen Interessen treffen würde. Als nicht schutzwürdig hat das Bundesgericht in BGE 108 II 25 das rein finanzielle Interesse an der Fortdauer der Ehe angesehen, wenn der widersprechende Ehegatte selber im Konkubinat lebt und dadurch bekundet, dass er sich seinerseits endgültig von seinem Ehepartner abgewendet hat. In einem nicht veröffentlichten Urteil vom 2. Oktober 1980 in Sachen K. hat das Bundesgericht die von den kantonalen Instanzen ausgesprochene Scheidung trotz des überwiegenden Verschuldens des klagenden Ehemannes und des Widerspruchs der Ehefrau gestützt auf das Rechtsmissbrauchsverbot bestätigt angesichts der völligen Entfremdung, die durch die seit gut zwanzig Jahren bestehende Trennung bewirkt worden war, und des fortgeschrittenen Alters der Parteien. Zudem machte die Ehefrau kein schutzwürdiges Interesse an der Aufrechterhaltung der nur noch dem Bande nach bestehenden Ehe glaubhaft. Demgegenüber hat das Bundesgericht in BGE 105 II 218 ff. den Widerspruch einer Ehefrau, deren eheliche Gesinnung noch nicht völlig erloschen war und die aus achtenswerten Gründen an der Ehe festhielt, gegenüber der Scheidungsklage eines Mannes, der nach dreizehnjähriger faktischer Trennung seine Konkubine heiraten wollte, geschützt. Ganz ähnliche Verhältnisse liegen BGE 108 II 165 ff. zugrunde, was ebenfalls zur Abweisung der Scheidungsklage des vorwiegend schuldigen Ehemannes führte.
3. Diese neueste Rechtsprechung des Bundesgerichts, wie sie vor allem in BGE 104 II 145 ff. und BGE 105 II 218 ff. konkretisiert worden ist und dabei zu unterschiedlichen Ergebnissen geführt hat, lässt noch keine fest umschriebene Kriterien erkennen, nach denen im Einzelfall die Frage beantwortet werden könnte, unter welchen Umständen die Berufung auf Art. 142 Abs. 2

BGE 108 II 503 S. 507
Rechtsprechung in den Entscheiden BGE 104 II 145 ff. und BGE 105 II 218 ff. schwer tun, zeigt gerade auch der vorliegende Fall, in dem die erste Instanz den Widerspruch der Beklagten gegen die Scheidung unter Berufung auf das Bundesgericht als rechtsmissbräuchlich betrachtet, während das Obergericht die Berufung der Beklagten auf Art. 142 Abs. 2


BGE 108 II 503 S. 508
schützenswerte Interessen - ideelle oder materielle - am Fortbestand der Ehegemeinschaft habe. Dabei ist vor allem an Fälle von materieller Härte zu denken, während der Widerstand gegen die Scheidung aus rein ideellen Gründen kaum je genügen dürfte, um die zugunsten des klagenden Ehegatten aufgestellte Tatsachenvermutung umzustossen.
4. Im vorliegenden Fall leben die Parteien seit anfangs 1964 faktisch getrennt. Die Trennung dauerte somit bis zur neuen Scheidungsklage mehr als 15 Jahre. Der Kläger ist nicht bereit, seine Lebensgefährtin und die mit ihr gezeugten beiden Kinder zu verlassen und vorbehaltlos zur Beklagten zurückzukehren. Nach dem Ausgeführten ist anzunehmen, dass auch der Ehewille der Beklagten inzwischen erloschen ist und keine schützenswerten Interessen am Fortbestand der Ehe dem Bande nach bestehen. Allerdings hat die Beklagte ihre Bereitschaft zur Wiederaufnahme des Ehelebens mit dem Kläger immer wieder betont, so insbesondere auch in der formellen Parteibefragung vor erster Instanz. Aus den Akten ergibt sich zudem, dass sie den Kläger verschiedentlich brieflich um eine Rückkehr zu ihr und ihrem gemeinsamen Sohn gebeten hat. Nach den Angaben in der Klageantwort haben sich die Parteien während der Trennungszeit zweimal getroffen, nämlich 1974 und 1976, wobei es jeweils zwischen ihnen zu intimen Beziehungen gekommen sein soll. Die Begegnung im Jahre 1976 hat der Kläger sogar in seiner Einvernahme vor erster Instanz zugegeben. Im übrigen berief sich die Beklagte im kantonalen Verfahren auf ihren katholischen Glauben und machte geltend, sie könne aus grundsätzlichen Erwägungen einer Scheidung nicht zustimmen. Demgegenüber legte das Kantonsgericht besonderes Gewicht auf die Äusserung der Beklagten zum Sohn der Parteien, wenn der Kläger jetzt noch kommen würde, dann könnte sie mit ihm nicht mehr zusammenleben; er solle da bleiben, wo der Pfeffer wachse. Dabei handelt es sich jedoch um eine vereinzelte Aussage, aus der allein noch nicht geschlossen werden kann, die Beklagte lehne den Kläger grundsätzlich ab, wobei auch zu berücksichtigen ist, dass die Beziehungen zwischen der Beklagten und ihrem Sohn seit langem gespannt sind und sie keinen Kontakt mehr miteinander pflegen. Ob die von der Beklagten bisher angeführten Gründe ausreichen würden, um die erwähnte tatsächliche Vermutung umzustossen, ist fraglich. Indessen ist im vorliegenden Fall zu beachten, dass die Beklagte nach der bisherigen Rechtsprechung des Bundesgerichts auch gar keine Veranlassung hatte, weitere Gründe anzuführen.
BGE 108 II 503 S. 509
Insbesondere macht sie auch keine materiellen Interessen am Fortbestand der Ehe geltend. Dabei wäre denkbar, dass sie durch den Verlust ihrer Teilhabe an den Sozialversicherungsansprüchen des Ehemannes hart getroffen würde. Es soll ihr nicht verwehrt sein, den Gegenbeweis anzutreten. Doch ist es Sache der Vorinstanz, die Beweisanträge entgegenzunehmen und die entsprechenden Tatsachen festzustellen. Je nach Ausgang der Beweiswürdigung wird die Vorinstanz die Scheidung mit den Nebenfolgen auszusprechen oder die Scheidungsklage abzuweisen haben. Das angefochtene Urteil ist daher aufzuheben und die Sache zu neuer Beurteilung an die Vorinstanz zurückzuweisen.