103 Ia 191
35. Urteil vom 8. Juni 1977 i.S. Einwohnergemeinde Moosseedorf gegen Grossen Rat des Kantons Bern
Regeste (de):
- Gemeindeautonomie; Rechtsetzungsbefugnisse der bernischen Gemeinden auf dem Gebiete des Ladenschlusses (Abendverkauf).
- 1. Beginn der Beschwerdefrist bei Anfechtung eines dem fakultativen Referendum unterstehenden Erlasses; verfrühte Einreichung der Beschwerde (E. 1).
- 2. Engt der kantonale Gesetzgeber den von ihm einmal festgelegten Umfang der kommunalen Rechtsetzungsbefugnis nachträglich durch Gesetzesänderung ein, so liegt hierin keine Verletzung der Gemeindeautonomie, solange nicht in unmittelbar durch die Verfassung gewährleistete Rechtsetzungsbefugnisse eingegriffen wird (E. 3).
- 3. Eine Gemeinde kann im Rahmen einer Autonomiebeschwerde nicht die Verletzung verfassungsmässiger Individualrechte rügen (E. 4a). Hingegen kann sie sich auf gewisse allgemeine Verfassungsgrundsätze berufen (E. 4b).
Regeste (fr):
- Autonomie communale; compétence législative des communes bernoises en matière d'heures de fermeture des magasins (vente nocturne).
- 1. Début du délai de recours pour attaquer un arrêté susceptible d'être soumis à un référendum facultatif; dépôt prématuré du recours (consid. 1).
- 2. Il n'y a aucune violation de l'autonomie communale lorsque le législateur cantonal restreint, en modifiant la loi, l'étendue de la compétence législative des communes qu'il avait au préalable déterminée, pour autant qu'il n'empiète pas sur la compétence législative garantie directement par la Constitution (consid. 3).
- 3. Une commune ne peut pas faire valoir la violation de droits constitutionnels individuels dans le cadre d'un recours concernant son autonomie (consid. 4a). Elle peut en revanche invoquer la violation de certains principes constitutionnels généraux (consid. 4b).
Regesto (it):
- Autonomia comunale; competenza legislativa dei comuni bernesi in materia di orario di chiusura dei negozi (vendita notturna).
- 1. Inizio del termine per ricorrere contro un testo legislativo soggetto al referendum facoltativo; presentazione prematura del ricorso (consid. 1).
- 2. Non vi è violazione dell'autonomia comunale allorquando il legislatore cantonale restringe, modificando la legge, l'estensione - che egli aveva in precedenza determinato - della competenza legislativa dei comuni, sempreché non limiti la competenza legislativa garantita direttamente dalla Costituzione (consid. 3).
- 3. Un comune non può, nel quadro di un ricorso concernente la propria autonomia, far valere la violazione di diritti costituzionali individuali (consid. 4a). Esso può, per converso, invocare la violazione di certi principi costituzionali generali (consid. 4b).
Sachverhalt ab Seite 192
BGE 103 Ia 191 S. 192
Nach Art. 20 des bernischen Gesetzes über Handel, Gewerbe und Industrie vom 4. Mai 1969 (Gewerbegesetz) war die Regelung des Ladenschlusses - und damit auch die Zulassung allfälliger Abendverkäufe - den Gemeinden überlassen. Die Genossenschaft Migros Bern erstellte in der (unweit von Bern gelegenen) Gemeinde Moosseedorf das Einkaufszentrum Shoppyland, das sie seit März 1975 zusammen mit vierzig Mietern betreibt. Der Gemeinderat Moosseedorf hatte seinerzeit im Rahmen einer "Vereinbarung" der Migros die Möglichkeit von vier Abendverkäufen pro Woche zugesichert. Die Stimmbürger von Moosseedorf nahmen in der Folge am 13. Dezember 1974 ein Ladenschlussreglement an, das den Gemeinderat ermächtigte, an bis zu fünf Abenden pro Woche (d.h. ausgenommen an Samstagen, Sonntagen und Feiertagen)
BGE 103 Ia 191 S. 193
jeweils bis spätestens 21.00 Uhr den Abendverkauf zu bewilligen. Die kantonale Volkswirtschaftsdirektion erteilte dem Reglement am 28. Februar 1975 vorbehaltlos die erforderliche Genehmigung. Gestützt auf dieses Reglement und in Bestätigung der bisherigen, bereits seit Eröffnung des Einkaufszentrums geltenden Regelung bewilligte der Gemeinderat Moosseedorf am 9. Dezember 1975 die Durchführung von vier Abendverkäufen pro Woche (Dienstag bis Freitag, jeweils bis 21.00 Uhr). Als Folge einer im Februar 1975 angenommenen Motion beschloss der Grosse Rat des Kantons Bern am 9. September 1976 eine "Ergänzung" des kantonalen Gewerbegesetzes. Nach dem neuen Art. 20a können die Gemeinden den Abendverkauf nur noch an höchstens zwei Tagen pro Woche zulassen. Eine Ausnahme gilt nach Art. 20b für die überwiegend vom Fremdenverkehr abhängigen Gemeinden. Für die Anpassung der kommunalen Reglemente an die veränderte kantonale Gesetzgebung wird eine Frist von einem Jahr seit Inkraftsetzung eingeräumt. Der Erlass wurde, unter Hinweis auf die Möglichkeit des fakultativen Referendums, im kantonalen Amtsblatt vom 6. Oktober 1976 publiziert. Nachdem die Referendumsfrist am 7. Januar 1977 unbenützt abgelaufen war, setzte der Regierungsrat mit Beschluss vom 12. Januar 1977 den Erlass auf den 1. Februar 1977 in Kraft und ordnete seine Aufnahme in die Gesetzessammlung an. Die Gemeinde Moosseedorf führt im Anschluss an die Publikation der Referendumsvorlage am 28. Oktober 1976 staatsrechtliche Beschwerde mit dem Begehren, die am 9. September 1976 beschlossene Ergänzung des Gewerbegesetzes aufzuheben. Das Bundesgericht weist die Beschwerde, soweit es darauf eintritt, ab aus folgenden
Erwägungen
Erwägungen:
1. Die dreissigtägige Frist zur staatsrechtlichen Beschwerde gegen einen allgemeinverbindlichen Erlass beginnt, sofern kein kantonales Rechtsmittel mehr offensteht, grundsätzlich mit dessen Veröffentlichung im Amtsblatt zu laufen (BGE 99 Ia 643 mit Hinweisen). Handelt es sich um einen dem fakultativen Referendum unterstehenden Erlass, so beginnt die dreissigtägige
BGE 103 Ia 191 S. 194
Beschwerdefrist, wenn das Referendum nicht ergriffen wird, mit der amtlichen Bekanntmachung, dass der (bereits publizierte) Erlass infolge unbenützten Ablaufs der Referendumsfrist zustandegekommen sei bzw. auf einen bestimmten Termin in Kraft trete (BIRCHMEIER, Bundesrechtspflege, S. 382; BGE 66 I 70 ff.; bezüglich Fristbeginn bei Ergreifung des fakultativen Referendums oder bei Anfechtung eines dem obligatorischen Referendum unterstehenden Erlasses vgl. BGE 101 Ia 270, BGE 99 Ia 643, BGE 91 I 83 f. E. 1, sowie GIACOMETTI, Die Verfassungsgerichtsbarkeit des Schweizerischen Bundesgerichtes, S. 194). Der Zeitpunkt, an dem der angefochtene Erlass in Kraft tritt oder vollziehbar wird, ist für die Fristberechnung ohne Bedeutung (BGE 67 I 23; BGE 66 I 70; BIRCHMEIER, a.a.O.; S. 381). Die vorliegende, noch während der Dauer der Referendumsfrist eingereichte staatsrechtliche Beschwerde war somit verfrüht. Die dreissigtägige Beschwerdefrist begann nach dem Gesagten mit der Publikation des Regierungsratsbeschlusses vom 12. Januar 1977, mit dem die Inkraftsetzung des Erlasses angeordnet wurde. Die verfrühte Einreichung der Beschwerde schadet jedoch in derartigen Fällen nichts; sie hat lediglich zur Folge, dass das Verfahren bis zum Vorliegen des massgebenden Publikationsaktes sistiert wird (BGE 98 Ia 204; BIRCHMEIER, a.a.O. S. 381/82). Auf die vorliegende Beschwerde ist insoweit einzutreten.
2. Der angefochtene kantonale Erlass berührt die Gemeinde Moosseedorf in ihren hoheitlichen Befugnissen. Sie ist daher legitimiert, wegen Verletzung der Gemeindeautonomie staatsrechtliche Beschwerde zu führen. Ob sie im betreffenden Bereich den Schutz der Autonomie geniesst, ist keine Frage des Eintretens, sondern der materiellen Beurteilung der Beschwerde (BGE 100 Ia 282 E. 3 mit Hinweisen).
3. Ob und wieweit eine Gemeinde in einem bestimmten Bereich autonom ist, bestimmt sich nach dem kantonalen Verfassungs- und Gesetzesrecht. Die bernische Staatsverfassung vom 4. Juni 1893 (vgl. Art. 63-71) legt die Bereiche, in denen die Gemeinden zur Rechtsetzung befugt sind, nicht selber fest. Es gibt insbesondere keine Verfassungsvorschrift, welche den Gemeinden auf dem Gebiete des Ladenschlusses irgendwelche autonomen Rechtsetzungsbefugnisse garantieren würde. Massgebend sind einzig die einschlägigen Bestimmungen
BGE 103 Ia 191 S. 195
des kantonalen Gewerbegesetzes. Dieses ermächtigte in seiner bisherigen Fassung die Gemeinden generell zum Erlass von Ladenschlussreglementen (sowie zur Verbindlicherklärung von Ladenschlussordnungen) und eröffnete damit einen Bereich autonomer Rechtsetzung. Der geschützte Autonomiebereich besteht jedoch, da die Verfassung selber hierüber nichts bestimmt, nur innerhalb der vom kantonalen Gesetzgeber gezogenen Schranken. Engt dieser die von ihm einmal gesetzten Schranken nachträglich durch Gesetzesänderung ein, so liegt hierin grundsätzlich keine Verletzung der Gemeindeautonomie, solange nicht irgendwelche unmittelbar durch die Verfassung gewährleistete Rechtsetzungs- oder Selbstverwaltungsbefugnisse berührt werden (BGE 94 I 457 E. 4). Die Frage, ob der Gesetzgeber eine in der Kantonsverfassung an sich vorausgesetzte, dort aber nicht näher umschriebene Gemeindeautonomie beliebig einschränken darf oder ob er sie in einem bestimmten Mindestmass erhalten muss, stellt sich hier nicht, da im zu beurteilenden Fall von einem Eingriff in den Wesenskern der Gemeindeautonomie zum vornherein nicht die Rede sein kann (vgl. dazu ULRICH ZIMMERLI, ZBl 73/1972 S. 263/64).
4. Die Beschwerdeführerin behauptet nicht, dass der kantonale Gesetzgeber mit der Limitierung der Zahl der Abendverkäufe seine Kompetenzen überschritten und in ein Sachgebiet eingegriffen habe, dessen Regelung nach der Kantonsverfassung den Gemeinden vorbehalten sei. Sie stellt sich jedoch auf den Standpunkt, dass eine bestehende kommunale Rechtsetzungsbefugnis nur durch ein Gesetz beschränkt werden könne, das in jeder Hinsicht verfassungsmässig sei. Andernfalls sei die Gemeinde - um welche Verfassungsnorm es sich auch immer handle - in ihrer Autonomie verletzt. Sie könne daher gegenüber einem die kommunale Autonomie einschränkenden Gesetz alle in Betracht fallenden Verfassungsrügen erheben, so auch die Rüge der Verletzung von Art. 31
SR 101 Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft vom 18. April 1999 BV Art. 31 Freiheitsentzug - 1 Die Freiheit darf einer Person nur in den vom Gesetz selbst vorgesehenen Fällen und nur auf die im Gesetz vorgeschriebene Weise entzogen werden. |
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1 | Die Freiheit darf einer Person nur in den vom Gesetz selbst vorgesehenen Fällen und nur auf die im Gesetz vorgeschriebene Weise entzogen werden. |
2 | Jede Person, der die Freiheit entzogen wird, hat Anspruch darauf, unverzüglich und in einer ihr verständlichen Sprache über die Gründe des Freiheitsentzugs und über ihre Rechte unterrichtet zu werden. Sie muss die Möglichkeit haben, ihre Rechte geltend zu machen. Sie hat insbesondere das Recht, ihre nächsten Angehörigen benachrichtigen zu lassen. |
3 | Jede Person, die in Untersuchungshaft genommen wird, hat Anspruch darauf, unverzüglich einer Richterin oder einem Richter vorgeführt zu werden; die Richterin oder der Richter entscheidet, ob die Person weiterhin in Haft gehalten oder freigelassen wird. Jede Person in Untersuchungshaft hat Anspruch auf ein Urteil innert angemessener Frist. |
4 | Jede Person, der die Freiheit nicht von einem Gericht entzogen wird, hat das Recht, jederzeit ein Gericht anzurufen. Dieses entscheidet so rasch wie möglich über die Rechtmässigkeit des Freiheitsentzugs. |
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machen kann, die kantonale Behörde verkenne die Tragweite verfassungsmässiger Freiheitsrechte oder sonstiger verfassungsmässiger Grundsätze (BGE 102 Ia 70; BGE 101 Ia 394 ff.; BGE 100 Ia 289 ff.; BGE 99 Ia 66 E. 4 und 5; BGE 97 I 515 f. E. 4a; 96 I 382 ff.). Verweigert beispielsweise eine Kantonsregierung einem kommunalen Friedhofreglement die Genehmigung, weil sie einen Verstoss gegen die Glaubens- und Gewissensfreiheit erblickt, so kann die Gemeinde diesen Eingriff in ihre Rechtsetzungsbefugnisse anfechten mit der Begründung, dass die behauptete Verletzung von Art. 49
SR 101 Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft vom 18. April 1999 BV Art. 49 Vorrang und Einhaltung des Bundesrechts - 1 Bundesrecht geht entgegenstehendem kantonalem Recht vor. |
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1 | Bundesrecht geht entgegenstehendem kantonalem Recht vor. |
2 | Der Bund wacht über die Einhaltung des Bundesrechts durch die Kantone. |
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und den Grundsatz der Rechtsgleichheit verletze. Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichts kann sich eine Gemeinde im Rahmen einer Autonomiebeschwerde - im Sinne eines Angriffsmittels - zwar nicht auf verfassungsmässige Individualrechte (s. oben), so doch auf gewisse ungeschriebene oder aus Art. 4
SR 101 Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft vom 18. April 1999 BV Art. 4 Landessprachen - Die Landessprachen sind Deutsch, Französisch, Italienisch und Rätoromanisch. |
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durch die besondere Ladenschlussordnung der Gemeinde Moosseedorf veranlasst und ist die Beschwerdeführerin zur Zeit die einzige Gemeinde, die wegen der angefochtenen Vorschriften ihre Ladenschlussordnung ändern muss. Doch handelt es sich bei diesen Vorschriften nichtsdestoweniger um einen allgemeinverbindlichen Erlass, der sich an alle bernischen Gemeinden richtet. Die streitigen Vorschriften wurden - anders als die in BGE 94 I 339 ff. zu beurteilende "Spezialbauordnung" - nicht nur für einen Einzelfall erlassen. Die vom Bundesgericht für den Widerruf von Verfügungen entwickelten Grundsätze kommen deshalb nicht zur Anwendung, und die diesbezüglichen Ausführungen der Beschwerdeführerin gehen an der Sache vorbei. bb) Welche Übergangsfrist der kantonale Gesetzgeber für die Anpassung an die neue Ordnung gewähren muss, ist nicht eine Frage des Vertrauensschutzes, sondern eine solche der Verhältnismässigkeit. Die Gemeinde kann im Rahmen einer Autonomiebeschwerde nicht mehr verlangen, als dass ihr die für den Erlass einer neuen Ladenschlussordnung erforderliche Zeit eingeräumt wird. Die gewährte Übergangsfrist von einem Jahr trägt diesem Erfordernis Rechnung. Zur Rüge, dass diese Frist aus der Sicht der betroffenen Gewerbetreibenden zu kurz sei und verfassungsmässige Individualrechte verletze, ist die Gemeinde nach dem Gesagten nicht legitimiert. cc) Die Beschwerdeführerin macht schliesslich geltend, dass Art. 20b der Gesetzesnovelle, wonach in Fremdenverkehrsgemeinden während der Saison mehr als zwei Abendverkäufe pro Woche gestattet werden dürfen, zwischen den Gemeinden eine unzulässige Rechtsungleichheit schaffe. Zu diesem Einwand, der mit der gerügten Autonomieverletzung in engem Zusammenhang steht, ist die Gemeinde legitimiert (BGE 97 I 511). Die Rüge dringt jedoch nicht durch. Es ist in manchen Kantonen üblich, für Fremdenverkehrsgemeinden eine freiere Ordnung der Ladenöffnungszeiten vorzusehen. Die Ladenbesitzer in solchen Gemeinden leben weitgehend von saisonalen Verkäufen, die daher möglichst erleichtert und den besonderen Konsumgewohnheiten der Gäste angepasst werden sollen. Diese Erleichterungen an Fremdenkurorten wirken sich in der Regel auch nicht wettbewerbsverzerrend aus. Die beanstandete Differenzierung zwischen Fremdenverkehrsgemeinden und übrigen Gemeinden beruht somit auf vertretbaren sachlichen
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Überlegungen und hält daher, wie bereits in BGE 97 I 517 E. 4c festgestellt wurde, vor dem Grundsatz der Rechtsgleichheit stand.