Bundesverwaltungsgericht
Tribunal administratif fédéral
Tribunale amministrativo federale
Tribunal administrativ federal


Abteilung V

E-4694/2015

Urteil vom 31. August 2015

Richterin Christa Luterbacher (Vorsitz),

Besetzung Richter François Badoud, Richter Daniel Willisegger,

Gerichtsschreiberin Natasa Stankovic.

A._______, geboren am (...),

Tunesien,

Parteien vertreten durch lic. iur. Patricia Müller,

(...),

Beschwerdeführer,

gegen

Staatssekretariat für Migration (SEM),

Quellenweg 6, 3003 Bern,

Vorinstanz.

Gegenstand Asyl und Wegweisung;
Verfügung des SEM vom 30. Juni 2015 / N (...).

Sachverhalt:

A.
Der Beschwerdeführer verliess eigenen Angaben zufolge sein Heimatland (letztmals) 1983 beziehungsweise 1986. Er lebte in den folgenden Jahren in B._______ [Europa] und C._______ [Europa]. Am 17. Februar 2015 reiste er in die Schweiz ein, wo er gleichentags um Asyl nachsuchte. Anlässlich der Befragung zur Person (BzP) im Empfangs- und Verfahrenszentrum (EVZ) (...) vom 19. Februar 2015 und der Anhörung vom 5. Mai beziehungsweise 2. Juni 2015 machte er zu seinen Ausreise- und Asylgründen im Wesentlichen Folgendes geltend:

Er sei tunesischer Staatsbürger und in Tunis geboren, wo er bis im Alter von (...) Jahren gelebt habe. Im Jahr [70er Jahre] sei er mit seiner Familie beziehungsweise seinem Bruder nach B._______ gegangen, wo er bei [Verwandter] gelebt und gearbeitet habe. Im Jahr [70er Jahre] habe er [zum Militär] gehen wollen, womit sein Vater nicht einverstanden gewesen sei, weshalb er im Jahr [70er Jahre] nach Tunesien zurückgekehrt sei. Dort habe er den einjährigen Militärdienst absolviert und sei später erneut nach B._______ zu [Verwandter] gegangen, um zu arbeiten. Später habe er mit einer Frau zusammengelebt, diese jedoch nicht geheiratet.

Im Jahr [80er Jahre] habe er bei einem Autounfall [schwere Verletzungen erlitten]; nach der Operation sei er sehr krank gewesen. Etwas später sei seine Schwester gestorben, woraufhin er nach Tunesien zurückgekehrt sei. Er sei im Quartier nicht willkommen gewesen und beschuldigt worden, Leute zu belästigen, wenn er Alkohol getrunken habe. Er habe auch keine Moschee besucht. Eines Tages sei er mit einem Kollegen zum Rathaus gegangen, wo er die tunesische Flagge verbrannt habe. Er könne die Religion nicht akzeptieren und die Leute würden einen nicht in Ruhe lassen; man werde andauernd beobachtet. Er habe nicht mehr in seinem Heimatland bleiben können und sei im Jahr 1983 beziehungsweise 1986 aus Tunesien ausgereist. Bis [90er Jahre] habe er wiederum in B._______ gelebt. Da er in B._______ aber keinen geregelten Aufenthaltsstatus gehabt habe, habe er dort nicht bleiben können. In der Folge sei er nach C._______ gegangen, wo er seither - zuerst in Abbruchhäusern, später in einem Heim für Obdachlose - gelebt habe.

Im Übrigen sei er mehrere Jahre drogenabhängig gewesen; seit Jahren nehme er Methadon zu sich. Er sei krank und habe [diverse gesundheitliche Beschwerden]. Er sei in der Schweiz bereits beim Arzt gewesen.

Zur Stützung seiner Vorbringen reichte er eine Kopie einer Mahlzeitenkarte ein, mit welcher er bei der Caritas in C._______ Essen habe beziehen können.

B.
Mit Schreiben vom 3. Juni 2015 forderte das SEM den Beschwerdeführer auf, innert Frist einen Arztbericht einzureichen.

Der Beschwerdeführer liess die Frist ungenutzt verstreichen.

C.
Mit Verfügung vom 30. Juni 2015 - eröffnet am 3. Juli 2015 - stellte das SEM fest, der Beschwerdeführer erfülle die Flüchtlingseigenschaft nicht, wies sein Asylgesuch ab, ordnete die Wegweisung an und beauftragte den zuständigen Kanton mit dem Vollzug der Wegweisung.

Zur Begründung führte es insbesondere aus, dass die Vorbringen des Beschwerdeführers nicht asylrelevant seien, zumal die Verfolgung - sofern der Staat überhaupt noch ein Interesse an einer solchen habe - wegen Flaggenverbrennung staatlich legitim sei. Abgesehen davon müsse die Glaubhaftigkeit seiner Vorbringen aufgrund der zahlreichen Unstimmigkeiten in seinen Aussagen erheblich in Zweifel gezogen werden. Namentlich habe er zuerst angegeben, letztmals im Jahr 1986 in Tunesien gewesen zu sein; später in der Anhörung habe er zu Protokoll gegeben, dass es im Jahr 1983 gewesen sei (A23/14 S. 7). Zudem seien seine Aussagen bezüglich der Verbrennung der Flagge im Rathaus anlässlich der Anhörung ohne Substanz und Tiefe geblieben. Trotz wiederholter Aufforderung, das Vorgefallene ausführlich zu schildern, sei es bei wenigen Sätzen geblieben. Oft habe er die gestellten Fragen ausweichend beantwortet respektive sich wiederholt.

Ferner sei in Bezug auf die Zumutbarkeit des Wegweisungsvollzugs festzuhalten, dass der Beschwerdeführer in der Anhörung diverse medizinische Probleme geltend gemacht habe, woraufhin er aufgefordert worden sei, einen Arztbericht einzureichen; dieser Aufforderung sei er indes nicht nachgekommen. Sodann würden seine Angaben hinsichtlich seiner medizinischen Probleme in der Anhörung im Widerspruch zu seinen Aussagen in der BzP stehen, wo er erklärt habe, dass seine gesundheitlichen Probleme einer Rückkehr nach Tunesien nicht hinderlich seien. Ausserdem habe er Medikamente erhalten, welche er nicht einmal einnehme und demzufolge diese nicht brauche. Folglich würden Ungereimtheiten in Bezug auf seine gesundheitlichen Probleme bestehen, welche nicht nachvollziehbar belegt worden seien. Damit könne sich das SEM in dieser Hinsicht nicht konkret zu seiner medizinischen Situation äussern. Sollte er jedoch tatsächlich an den geltend gemachten gesundheitlichen Beeinträchtigungen leiden, könne festgehalten werden, dass die diesbezügliche medizinische Versorgung in Tunesien gewährleistet sei, weshalb sein gesundheitlicher Zustand nicht gegen die Zumutbarkeit des Wegweisungsvollzugs spreche. Auch die lange Abwesenheit in seinem Heimatland vermöge daran nichts zu ändern. Der Beschwerdeführer habe im Rahmen der Anhörung erklärt, er spreche besser (...) (als Arabisch), weil er seit [vielen] Jahren in Europa gelebt habe. Hierzu sei festzuhalten, dass auch in Tunesien (...) gesprochen werde und er doch einen beträchtlichen Teil seiner Sozialisation in Tunesien erlebt habe, wo er auch die Schule wie auch den einjährigen Militärdienst absolviert habe. Daher dürfte er mit seinen Arabischkenntnissen keine Schwierigkeiten haben. Weiter habe er in der BzP erklärt, nur eine Schwester und einen Bruder zu haben. In der Anhörung habe er demgegenüber behauptet, er habe zwei Schwestern und zwei Brüder (A23/14 S. 8). Auch habe er einen [Verwandter] erwähnt, bei welchem er sich in B._______ aufgehalten habe. Somit könne nach wie vor davon ausgegangen werden, dass er Familienangehörige habe, die ihn unterstützen könnten. Schliesslich habe er in der BzP zu Protokoll gegeben, dass er zurückkehren werde, wenn das Geld stimme. Diesbezüglich könnte er allenfalls Rückkehrhilfe in Anspruch nehmen.

D.
Mit Eingabe vom 30. Juli 2015 (Datum Poststempel unleserlich; Eingang beim Bundesverwaltungsgericht: 3. August 2015) erhob die Rechtsvertreterin namens und im Auftrag des Beschwerdeführers gegen die vor-instanzliche Verfügung beim Bundesverwaltungsgericht Beschwerde und beantragte, die Verfügung des SEM vom 30. Juni 2015 sei aufzuheben, der Beschwerdeführer sei als Flüchtling anzuerkennen und es sei ihm Asyl zu gewähren; eventualiter sei die Sache zur Neubeurteilung an die Vorinstanz zurückzuweisen; subeventualiter sei festzustellen, dass der Wegweisungsvollzug unzulässig und unzumutbar sei und es sei in der Folge dem Beschwerdeführer die vorläufige Aufnahme zu gewähren.

In prozessualer Hinsicht wurde um Gewährung der unentgeltlichen Prozessführung sowie Rechtsverbeiständung und um Verzicht auf die Erhebung eines Kostenvorschusses ersucht.

Den vorinstanzlichen Erwägungen wurde insbesondere entgegnet, dass das SEM, da die asylrelevanten Geschehnisse vor Jahrzehnten vorgefallen seien, aufgrund der geltenden Untersuchungsmaxime im Asylverfahren über eine Botschaftsabklärung hätte herausfinden müssen, ob heute noch ein Haftbefehl gegen den Beschwerdeführer vorliege. Er sei vor [vielen] Jahren aus Tunesien geflüchtet und nehme an, dass er auch heute noch gesucht werde.

In Bezug auf die Zumutbarkeit des Wegweisungsvollzugs sei festzustellen, dass der Beschwerdeführer in der Anhörung auf seine medizinischen Probleme aufmerksam gemacht habe. Entgegen den Ausführungen im Protokoll - der Beschwerdeführer habe deutlich gesagt, dass er zur Zeit Medikamente einnehme (A23/14 S. 10) - behaupte das SEM, er habe Medikamente erhalten, die er nicht einmal einnehme. Ohne Kenntnis der Diagnose und ohne Wissen betreffend die aktuelle Behandlung des Beschwerdeführers halte das Staatssekretariat fest, dass die medizinische Versorgung in Tunesien - sollte der Beschwerdeführer tatsächlich die von ihm geltend gemachten gesundheitlichen Probleme haben - gewährleistet sei. Obschon die medizinische Versorgung in Tunesien - sofern man in Tunis lebe und über die nötigen finanziellen Mittel verfüge, um Privatspitäler aufzusuchen - gut sei, sei es dennoch unerlässlich, dass eine individuelle Prüfung durch das SEM erfolge. Dies habe die Vorinstanz jedoch unterlassen. Des Weiteren werde dem Beschwerdeführer eine Mitwirkungspflichtverletzung vorgeworfen, weil er nicht innert Frist einen Arztbericht eingereicht habe. Dazu sei festzuhalten, dass er das Schreiben des SEM seinem behandelnden Arzt übergeben habe, welcher das Formular entgegen genommen und dem Beschwerdeführer gesagt habe, er werde das Nötige unternehmen. Es sei davon auszugehen, dass der Arzt nicht aus Nachlässigkeit vergessen habe, das Formular auszufüllen, sondern bewusst auf eine Eingabe verzichtet habe. Er habe sich im Übrigen bis dato geweigert, einen Arztbericht auszustellen (vgl. eingereichtes Telefax der Arztsekretärin von Dr. med. D._______ vom (...) Juli 2015). Dem Beschwerdeführer könne somit nicht vorgeworfen werden, dass er seinem behandelnden Arzt vertraut habe. Zudem habe das SEM ihn in der Anhörung gefragt, ob er damit einverstanden sei, dass mit dem behandelnden Arzt Kontakt aufgenommen werde (A23/14 S. 11). Er sei davon ausgegangen beziehungsweise habe annehmen dürfen, dass das SEM über seine gesundheitlichen Probleme bestens informiert sei. Überdies nehme der Beschwerdeführer täglich eine Dosis Methadon ein. Er habe hierzu erklärt, er nehme seit langer Zeit Methadon und habe bereits in [Stadt in B._______ ] mit dem Konsum von Kokain begonnen. Hierzu habe eine Fachperson der Rechtsvertreterin erklärt, dass der Beschwerdeführer vermutlich sein Leben lang nicht mehr ohne Methadon auskommen werde.

Ferner weise das SEM darauf hin, der Beschwerdeführer habe in seinem Heimatland Geschwister, weshalb angenommen werden könne, dass er dort die notwendige Unterstützung erhalte. Diesbezüglich sei festzuhalten, dass er seit seinem (...) Lebensjahr - abgesehen von zwei kurzen Ausnahmen - immer in Europa gelebt habe. Die letzten [viele] Jahre habe er in C._______ als obdachloser "Junkie" beziehungsweise "Ex-Junkie" in einem Heim für Obdachlose gewohnt. Er habe erklärt, dass er seit Jahren keinen Kontakt mehr zu seinen Geschwistern habe; er habe kein Geld zum Telefonieren, nichts Erfreuliches zu berichten und die Eltern seien auch bereits verstorben. Es sei durchaus glaubwürdig, dass der Beschwerdeführer, welcher zunehmend verwahrlost sei und ums tägliche Überleben habe kämpfen müssen, keinen Kontakt mehr zu seiner Familie in Tunesien habe. Ihn einfach in seine Heimatland zu überstellen, ohne mit der nötigen Sorgfalt zu prüfen, ob ein Wegweisungsvollzug des methadonabhängigen und gesundheitlich angeschlagenen - er leide unter (...) - (...)-jährigen Mannes nach [vielen] Jahren Aufenthalts in Europa zumutbar sei, verletze den Anspruch auf das rechtliche Gehör und den Untersuchungsgrundsatz.

Zum Beleg der geltend gemachten Vorbringen wurden folgende Beweismittel eingereicht: Röntgenbilder vom Beschwerdeführer des Röntgeninstituts (...) vom (...) Juni 2015, Telefax der Arztsekretärin von Dr. med. D._______ vom (...) Juli 2015, zwei Methadonfläschchen und eine Entbindungserklärung vom 9. Juli 2015.

E.
Mit Kurzverfügung vom 7. August 2015 hielt das Bundesverwaltungsgericht insbesondere fest, der Beschwerdeführer könne den Abschluss des Verfahrens in der Schweiz abwarten und über die weiteren Parteibegehren werde zu einem späteren Zeitpunkt befunden.

Das Bundesverwaltungsgericht zieht in Erwägung:

1.

1.1 Gemäss Art. 31 VGG beurteilt das Bundesverwaltungsgericht Beschwerden gegen Verfügungen nach Art. 5 VwVG. Das SEM gehört zu den Behörden nach Art. 33 VGG und ist daher eine Vorinstanz des Bundesverwaltungsgerichts. Eine das Sachgebiet betreffende Ausnahme im Sinne von Art. 32 VGG liegt nicht vor. Das Bundesverwaltungsgericht ist daher zuständig für die Beurteilung der vorliegenden Beschwerde und entscheidet auf dem Gebiet des Asyls in der Regel - wie auch vorliegend - endgültig (vgl. Art. 83 Bst. d Ziff. 1 BGG; Art. 105 AsylG [SR 142.31]).

1.2 Die Beschwerde ist frist- und formgerecht eingereicht. Der Beschwerdeführer hat am Verfahren vor der Vorinstanz teilgenommen, ist durch die angefochtene Verfügung besonders berührt und hat ein schutzwürdiges Interesse an deren Aufhebung beziehungsweise Änderung; er ist daher zur Einreichung der Beschwerde legitimiert (Art. 105 und Art. 108 Abs. 1 AsylG, Art. 48 Abs. 1 sowie Art. 52 VwVG). Auf die Beschwerde ist einzutreten.

1.3 Das Verfahren richtet sich nach dem VwVG, soweit das VGG und das AsylG nichts anderes bestimmen (Art. 37 VGG und Art. 6 AsylG).

1.4 Gestützt auf Art. 111a Abs. 1 AsylG wurde vorliegend auf einen Schriftenwechsel verzichtet.

2.
Die Kognition des Bundesverwaltungsgerichts und die zulässigen Rügen richten sich im Asylbereich nach Art. 106 Abs. 1 AsylG, im Bereich des Ausländerrechts nach Art. 49 VwVG (vgl. BVGE 2014/26 E. 5).

3.

3.1 In der Beschwerde wurden die formellen Rügen erhoben, die Vor-instanz habe den Anspruch auf das rechtliche Gehör und den Untersuchungsgrundsatz beziehungsweise die Pflicht zur vollständigen und richtigen Abklärung des rechtserheblichen Sachverhalts verletzt. Diese sind vorab zu beurteilen, da sie allenfalls geeignet wären, eine Kassation der vorinstanzlichen Verfügung zu bewirken (vgl. BVGE 2015/4 E. 3.1; Alfred Kölz/Isabelle Häner/Martin Bertschi, Verwaltungsverfahren und Verwaltungsrechtspflege des Bundes, 3. Aufl. 2013, Rz. 1156 m.w.H.).

3.2 Gemäss Art. 12 VwVG stellt die zuständige Behörde den Sachverhalt von Amtes wegen fest. Sie ist jedoch nur in dem Ausmass zur Untersuchung des Sachverhaltes verpflichtet, als man dies vernünftigerweise von ihr erwarten kann. Der Untersuchungsgrundsatz findet seine Grenze an der gesetzlichen Mitwirkungspflicht. Art. 13 VwVG verpflichtet die Parteien, an der Feststellung des Sachverhaltes in Verfahren mitzuwirken, die sie durch ihr Begehren eingeleitet haben. Die Mitwirkungspflicht des Gesuchstellers betrifft insbesondere Tatsachen, die seine persönliche Situation betreffen und die er besser kennt als die Behörden oder die von diesen ohne seine Mitwirkung gar nicht oder nicht mit vernünftigem Aufwand erhoben werden können (vgl. BVGE 2008/24 E. 7.2, m.w.H.). Art. 8 AsylG konkretisiert diese Mitwirkungspflicht für das Asylverfahren.

3.3 Das Bundesverwaltungsgericht entscheidet in der Regel reformatorisch. Ausnahmsweise wird eine angefochtene Verfügung kassiert und an die Vorinstanz zurückgewiesen. Vorliegend liegt - wie nachfolgend aufzuzeigen sein wird - der Mangel der angefochtenen Verfügung in einer unvollständigen Abklärung des Sachverhalts soweit den Wegweisungsvollzug betreffend. Unter den vorliegenden Umständen rechtfertigt sich gemäss Praxis des Bundesverwaltungsgerichts diesbezüglich die Kassation der angefochtenen Verfügung. Zudem bleibt dem Beschwerdeführer auf diese Weise der Instanzenzug erhalten, was umso wichtiger ist, als im Asylverfahren das Bundesverwaltungsgericht letztinstanzlich entscheidet (vgl. dazu BVGE 2009/53 E. 7.3, BVGE 2008/47 E. 3.3.4, BVGE 2008/14 E. 4.1).

4.

4.1 Den Ausführungen in der Beschwerdeschrift, wonach das SEM im Asylpunkt, da die asylrelevanten Geschehnisse vor Jahrzehnten vorgefallen seien, aufgrund der geltenden Untersuchungsmaxime im Asylverfahren über eine Botschaftsabklärung hätte herausfinden müssen, ob heute noch ein Haftbefehl gegen den Beschwerdeführer in seinem Heimatland vorliege, kann nicht gefolgt werden. Wie das SEM zu Recht festhielt, weist das geltend gemachte fluchtauslösende Ereignis, welches gemäss den Angaben des Beschwerdeführers in den 80er Jahren stattgefunden habe, keine Asylrelevanz auf, da eine staatliche Verfolgung - sofern der Staat überhaupt noch ein Interesse an einer solchen hat - wegen Flaggenverbrennung grundsätzlich legitim ist (vgl. im Schweizer Recht die Strafbestimmung von Art. 270 StGB). Ferner ist nicht ersichtlich, inwiefern aufgrund der Aussagen des Beschwerdeführers in den Befragungen diesbezüglich weitere Abklärungen hätten erfolgen sollen.

Weiter ist vorliegend bereits an dieser Stelle festzuhalten, dass, zumal auch die Vorbringen auf Beschwerdestufe keine erlittene oder drohende individuelle Verfolgungshandlung in einem asylrechtlichen Sinne aufzuzeigen vermögen, das SEM zu Recht und mit zutreffender Begründung die Flüchtlingseigenschaft des Beschwerdeführers verneint und sein Asylgesuch abgelehnt hat.

Da im Übrigen im vorliegenden Fall der Kanton keine Aufenthaltsbewilligung erteilt hat und auch kein Anspruch auf Erteilung einer solchen besteht (vgl. BVGE 2013/37 E 4.4; 2009/50 E. 9, je m.w.H.), steht die verfügte Wegweisung im Einklang mit den gesetzlichen Bestimmungen und wurde demnach zu Recht angeordnet.

4.2 Im Hinblick auf allfällige Wegweisungsvollzugshindernisse und die diesbezügliche Feststellung des rechtserheblichen Sachverhalts ist festzuhalten, dass es sich beim (...)-jährigen Beschwerdeführer um einen gesundheitlich angeschlagen, methadonabhängigen Ex-Drogensüchtigen zu handeln scheint, der eigenen Angaben zufolge sein Heimatland letztmals - nachdem er bereits [70er Jahre] erstmals emigriert sei - im Jahr 1983 beziehungsweise 1986 verlassen habe.

Das SEM führte in seiner angefochtenen Verfügung hinsichtlich des medizinischen Sachverhalts hauptsächlich aus, der Beschwerdeführer sei der Aufforderung, innert Frist ein Arztzeugnis einzureichen, nicht nachgekommen. Zudem würden Ungereimtheiten in Bezug auf seine gesundheitlichen Probleme bestehen, weshalb sich das Staatssekretariat nicht konkret zu seiner Gesundheitslage äussern könne. Sollte er aber tatsächlich unter den geltend gemachten Beschwerden leiden, könne gleichwohl festgehalten werden, dass die diesbezügliche medizinische Versorgung in Tunesien gewährleistet sei, weswegen sein gesundheitlicher Zustand nicht gegen die Zumutbarkeit des Wegweisungsvollzugs spreche. Auch die lange Abwesenheit in seinem Heimatland vermöge daran nichts zu ändern. Im Übrigen könne davon ausgegangen werden, dass er Familienangehörige habe, die ihn unterstützen könnten.

4.3 Wie in der Rechtsschrift zutreffend festgehalten wurde, ist der Umstand, dass im vorinstanzlichen Verfahren kein Arztzeugnis eingereicht wurde, nicht dem Beschwerdeführer anzulasten. Mit einem auf Beschwerdestufe eingereichten Telefax der Arztsekretärin von Dr. med. D._______, welcher nach dem Diktat "verreist" sei, vom (...) Juli 2015 wurde insbesondere Folgendes festgehalten: "Unseres Erachtens ist ein Rechtshilfegesuch missbräuchlich, da es sich bei Herr A._______ primär nicht um ein medizinisches-, sondern um ein soziales Problem handelt. Wir bitten Sie um Verständnis". Im Rahmen des Untersuchungsgrundsatzes dürfen sich die Behörden nicht mit solch einer Stellungnahme begnügen, sondern haben - unter Beachtung der Mitwirkungspflicht der asylsuchenden Person - den rechtserheblichen Sachverhalt zu ermitteln. Anhand der Ausführungen im Telefaxschreiben, welche - wenn überhaupt - zusammen mit weiteren relevanten Angaben in einem Arztzeugnis festgehalten werden müssten, liegt jedenfalls noch keine entscheidreife Aktenlage vor. Im Übrigen sind die Angaben des Beschwerdeführers, wonach ihm der behandelnde Arzt versichert habe, das Nötige zu unternehmen - worunter im vorliegenden Fall die Anfertigung eines Arztberichts zu verstehen ist -, durchaus glaubhaft. Gegebenenfalls hätte er sich bei der Vorinstanz informieren können, ob in der Zwischenzeit ein Arztbericht eingegangen ist. Aufgrund der vorliegenden Umstände kann ihm gleichwohl nicht vorgeworfen, dass er seine Mitwirkungspflicht verletzt hat.

4.4 Sodann hält das SEM fest, dass sich der Beschwerdeführer selbst bei Vorliegen von gesundheitlichen Probleme in seinem Heimatland behandeln lassen könnte. Demnach wäre aus dieser Aussage zu schlussfolgern, dass asylsuchende Personen aus entsprechenden Ländern gar nie ein Arztzeugnis einreichen müssten, was mithin nicht richtig sein kann.

Vorliegend ist unbestritten, dass der Beschwerdeführer unter gesundheitlichen Beschwerden leidet. Da den Akten jedoch kein Arztzeugnis beiliegt, gilt der medizinische Sachverhalt infolge fehlender Entscheidreife in der Sache als nicht erstellt. Das SEM ist demnach gehalten - unter der Mitwirkungspflicht des Beschwerdeführers - ein entsprechendes Arztzeugnis einzuholen und seinem Entscheid zugrunde zu legen. Im Übrigen hielt bereits die Hilfswerksvertretung in der Anhörung fest, dass die vorgetragenen medizinischen Beschwerden für die Entscheidungsgrundlage geprüft werden sollten (A23/14 letzte Seite, Unterschriftenblatt).

4.5 Weiter ist seitens der Vorinstanz abzuklären, ob im Heimatland des Beschwerdeführers - sollte er tatsächlich keine familiäre Unterstützung erhalten, zumal aufgrund seines Alters und nach einem derart langen Auslandaufenthalt sowie angesichts seiner Lebensumstände nicht ohne Weiteres angenommen werden kann, dass er in seinem Heimatland noch über Familienangehörige verfügt beziehungsweise diese ihn unterstützen würden - eine minimale Sozialstruktur im Sinne eines Auffangnetzes für Obdachlose vorhanden ist (vgl. zu den praxisgemäss zu berücksichtigenden Aspekten einer "konkreten Gefährdung" im Sinne von Art. 83 Abs. 4 AuG BVGE 2014/26 E. 7.5 m.w.H.). Zudem ist abzuklären, ob in Tunesien ein Methadonprogramm existiert und gewährleistet ist, dass der Beschwerdeführer Zugang zu einem solchen erhält, andernfalls nicht ausgeschlossen werden kann, dass er erneut dem Konsum illegaler Drogen verfällt.

5.
Zusammenfassend ist festzuhalten, dass die Verfügung des SEM vom 30. Juni 2015 im Wegweisungsvollzugspunkt Bundesrecht verletzt. Die Beschwerde ist daher im Wegweisungsvollzugspunkt gutzuheissen, die Dispositivziffern 4 und 5 der angefochtenen Verfügung sind aufzuheben und die Sache ist zur Abklärung des Sachverhalts im Sinne der Erwägungen sowie zur Neubeurteilung an die Vorinstanz zurückzuweisen.

Im Übrigen ist die Beschwerde abzuweisen. Die Verfügung des SEM vom 30. Juni 2015 ist betreffend Verweigerung der Flüchtlingseigenschaft und des Asyls sowie in Bezug auf die Anordnung der Wegweisung als solche in Rechtskraft erwachsen.

6.

6.1 Bei diesem Ausgang des Verfahrens wären die reduzierten Verfahrenskosten dem Beschwerdeführer aufzuerlegen (Art. 63 Abs. 1 VwVG; Art. 1 -3 des Reglements vom 21. Februar 2008 über die Kosten und Entschädigungen vor dem Bundesverwaltungsgericht [VGKE, SR 173.320.2]). Mit Beschwerdeeingabe vom 30. Juli 2015 wurde ein Gesuch um Gewährung der unentgeltlichen Prozessführung eingereicht, über welches im Urteilszeitpunkt zu befinden ist.

Das Gesuch um unentgeltliche Prozessführung ist gutzuheissen, da die Rechtsbegehren vor dem Hintergrund obiger Erwägungen nicht aussichtlos waren und aufgrund der Akten von der prozessuale Bedürftigkeit des Beschwerdeführers auszugehen ist. Folglich sind auch für den abzuweisenden Teil der Beschwerde keine Verfahrenskosten zu erheben. Das Gesuch um Verzicht auf die Erhebung eines Kostenvorschusses ist hinfällig.

6.2 Der Beschwerdeführer ist im Umfang seines Obsiegens - sprich hälftig - für die ihm erwachsenen notwendigen Kosten zu entschädigen (Art. 64 Abs. 1 VwVG, Art. 7 ff . VGKE).

Der obsiegenden Partei ist zulasten der Vorinstanz eine Parteientschädigung für die ihr erwachsenen notwendigen und verhältnismässig hohen Kosten zuzusprechen (vgl. Art. 64 Abs. 1 VwVG i.V.m. Art. 7 des Reglements vom 21. Februar 2008 über die Kosten und Entschädigungen vor dem Bundesverwaltungsgericht [VGKE, SR 173.320.2]). Vorliegend wurde zwar keine Kostennote zu den Akten gereicht (vgl. Art. 14 Abs. 1 VGKE). Der notwendige Vertretungsaufwand lässt sich aufgrund der Aktenlage jedoch hinreichend zuverlässig abschätzen. Die von der Vorinstanz auszurichtende Parteientschädigung ist unter Berücksichtigung der massgebenden Berechnungsfaktoren (vgl. Art. 7 ff . VGKE) auf Fr. 800.- (inkl. Auslagen und eine allfällige Mehrwertsteuer) festzusetzen.

6.3 Sodann wird das Gesuch um Gewährung der unentgeltlichen Rechtsverbeiständung gutgeheissen (Art. 110a Abs. 1 Bst. a AsylG) und Frau lic. iur. Patricia Müller als amtliche Rechtsbeiständin für das vorliegende Verfahren beigeordnet.

Folglich ist im Umfang des Unterliegens zu Lasten des Gerichts eine Entschädigung zuzusprechen. Das Honorar der amtlichen Vertretung ist unabhängig vom Ausgang des Verfahrens festzusetzen und vom Bundesverwaltungsgericht der Rechtsvertreterin persönlich zu entrichten. Demnach ist das zu entrichtende Honorar der amtlichen Vertretung unter Berücksichtigung des oben Gesagten in der Höhe von Fr. 800.-(inkl. Auslagen und Mehrwertsteuer) festzulegen.

(Dispositiv nächste Seite)

Demnach erkennt das Bundesverwaltungsgericht:

1.
Die Beschwerde wird im Wegweisungsvollzugspunkt gutgeheissen. Im Übrigen wird die Beschwerde abgewiesen.

2.
Die Dispositivziffern 1, 2 und 3 der Verfügung des SEM vom 30. Juni 2015 sind in Rechtskraft erwachsen.

3.
Die Dispositivziffern 4 und 5 der angefochtenen Verfügung des SEM vom 30. Juni 2015 werden aufgehoben. Die Sache wird im Sinne der Erwägungen zur Abklärung des Sachverhalts im Sinne der Erwägungen sowie zur Neubeurteilung an die Vorinstanz zurückgewiesen.

4.
Es werden keine Verfahrenskosten erhoben.

5.
Die Vorinstanz wird angewiesen, dem Beschwerdeführer eine Parteientschädigung im Betrag von Fr. 800.- auszurichten.

6.
Das Gesuch um Gewährung der unentgeltlichen Rechtsverbeiständung wird gutgeheissen und Frau lic. iur. Patricia Müller als amtliche Rechtsbeiständin für das vorliegende Verfahren beigeordnet.

Das Bundesverwaltungsgericht entrichtet der als amtliche Rechtsbeiständin eingesetzten Rechtsvertretung ein Honorar in der Höhe von Fr. 800.-.

7.
Dieses Urteil geht an den Beschwerdeführer, das SEM und die zuständige kantonale Behörde.

Die vorsitzende Richterin: Die Gerichtsschreiberin:

Christa Luterbacher Natasa Stankovic

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Informazioni decisione   •   DEFRITEN
Documento : E-4694/2015
Data : 31. agosto 2015
Pubblicato : 10. dicembre 2015
Sorgente : Tribunale amministrativo federale
Stato : Inedito
Ramo giuridico : Asilo
Oggetto : Asyl und Wegweisung; Verfügung des SEM vom 30. Juni 2015


Registro di legislazione
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Parole chiave
Elenca secondo la frequenza o in ordine alfabetico
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