Bundesverwaltungsgericht
Tribunal administratif fédéral
Tribunale amministrativo federale
Tribunal administrativ federal


Abteilung V

E-4664/2014

Urteil vom 1. September 2014

Richter Daniel Willisegger (Vorsitz),

Besetzung Richter Hans Schürch, Richterin Esther Karpathakis,

Gerichtsschreiber Alain Degoumois.

A._______,

B._______,

C._______,

D._______,

Parteien E._______,

F._______,

Kosovo,

vertreten durch lic. iur. Urs Ebnöther,
substituiert durch MLaw Angela Stettler,

Beschwerdeführende,

gegen

Bundesamt für Migration (BFM),

Quellenweg 6, 3003 Bern,

Vorinstanz.

Nichteintreten auf Asylgesuch und Wegweisung

Gegenstand (Dublin-Verfahren);

Verfügung des BFM vom 6. August 2014 / N (...).

Sachverhalt:

A.
Die Beschwerdeführenden reichten am 18. Juli 2013 in der Schweiz Asylgesuche ein. Am 12. August 2013 wurden sie im Empfangs- und Verfahrenszentrum Kreuzlingen zur Person (BzP) befragt. Gleichzeitig wurde ihnen das rechtliche Gehör zur Zuständigkeit von Österreich, Deutschland, Frankreich oder Ungarn zur Durchführung des Asyl- und Wegweisungsverfahrens gewährt.

B.
Mit Verfügung vom 13. September 2013 (eröffnet am 24. September 2013) trat die Vorinstanz auf die Asylgesuche nicht ein, verfügte die Wegweisung nach Ungarn und forderte die Beschwerdeführenden auf, die Schweiz spätestens am Tag nach Ablauf der Beschwerdefrist zu verlassen.

C.
Mit Eingabe vom 29. September 2013 (Poststempel vom 30. September 2013) reichten die Beschwerdeführenden beim Bundesverwaltungsgericht Beschwerde ein und beantragten sinngemäss, die Verfügung der Vorinstanz vom 13. September 2013 sei aufzuheben.

D.
Mit Urteil des Bundesverwaltungsgerichts E-5505/2013 vom 17. Juni 2014 wurde die Beschwerde gutgeheissen, die Verfügung der Vorinstanz vom 13. September 2013 aufgehoben und die Akten zur Weiterführung des Verfahrens im Sinne der Erwägungen an die Vorinstanz zurückgewiesen.

E.
Mit Verfügung vom 6. August 2014 (eröffnet am 13. August 2014) trat die Vorinstanz auf die Asylgesuche nicht ein, verfügte die Wegweisung nach Ungarn und forderte die Beschwerdeführenden auf, die Schweiz spätestens am Tag nach Ablauf der Beschwerdefrist zu verlassen, verpflichtete den zuständigen Kanton mit dem Vollzug der Wegweisung, händigte den Beschwerdeführenden die editionspflichtigen Akten gemäss Aktenverzeichnis aus und stellte fest, einer allfälligen Beschwerde gegen die Verfügung komme keine aufschiebende Wirkung zu.

F.
Mit Eingabe vom 20. August 2014 (Poststempel) reichten die Beschwerdeführenden durch ihre Rechtsvertreterin und unter Beilage der auf Seite 17 der Eingabe aufgeführten Beweismittel (1 bis 5) beim Bundesverwaltungsgericht Beschwerde ein und beantragten, die Verfügung sei vollumfänglich aufzuheben und die Vorinstanz sei anzuweisen, auf das Asylgesuch einzutreten und in der Schweiz ein materielles Asylverfahren durchzuführen. In prozessualer Hinsicht beantragten sie, es sei der vorliegenden Beschwerde die aufschiebende Wirkung zu erteilen, im Sinne einer superprovisorischen vorsorglichen Massnahme seien die Vollzugsbehörden anzuweisen, von einer Überstellung der Beschwerdeführenden nach Ungarn abzusehen, bis das Bundesverwaltungsgericht über die Erteilung der aufschiebenden Wirkung entschieden habe, es sei die unentgeltliche Prozessführung zu bewilligen und auf die Erhebung eines Kostenvorschusses zu verzichten, es sei den Beschwerdeführenden in der Person der Unterzeichnenden eine unentgeltliche Rechtsbeiständin zu bestellen.

G.
Mit superprovisorischer Massnahme vom 22. August 2014 hat der zuständige Instruktionsrichter den Vollzug der Überstellung nach Ungarn per sofort einstweilen ausgesetzt.

Das Bundesverwaltungsgericht zieht in Erwägung:

1.
Gemäss Art. 31 VGG ist das Bundesverwaltungsgericht zur Beurteilung von Beschwerden gegen Verfügungen nach Art. 5 VwVG zuständig und entscheidet auf dem Gebiet des Asyls in der Regel - wie auch vorliegend - endgültig (Art. 83 Bst. d Ziff. 1 BGG; Art. 105 AsylG [SR 142.31]). Die Beschwerdeführenden sind als Verfügungsadressaten zur Beschwerdeführung legitimiert (Art. 48 VwVG). Auf die frist- und formgerecht eingereichte Beschwerde (Art. 108 Abs. 2 AsylG und Art. 52 Abs. 1 VwVG) ist einzutreten.

2.
Mit Beschwerde kann die Verletzung von Bundesrecht, einschliesslich Missbrauch und Überschreitung des Ermessens, sowie die unrichtige und unvollständige Feststellung des rechtserheblichen Sachverhalts gerügt werden (Art. 106 Abs. 1 AsylG).

3.
Vorliegend handelt es sich um eine Beschwerde gegen die Verfügung vom 6. August 2014, welche auf das Urteil des Bundesverwaltungsgerichts E-5505/2013 vom 17. Juni 2014 (kassatorische Gutheissung) erfolgte. Die grundsätzliche staatsvertragliche Zuständigkeit Ungarns für die Durchführung des Asyl- und Wegweisungsverfahrens liegt ausser Streit. Streitig ist hingegen, ob allenfalls Gründe dafür bestehen, dass die Schweiz den Selbsteintritt gemäss Art. 3 Abs. 2 Dublin-II-VO (Souveränitätsklausel) erklären sollte.

4.

4.1 Die Vorinstanz zeigt in der angefochtenen Verfügung auf, wie sich die Rechtslage von Dublin-Rückkehrern und deren Ansprüche im Asylverfahren in Ungarn darstelle, weshalb von einem Selbsteintritt abgesehen und die Überstellung der Beschwerdeführenden nach Ungarn als zumutbar betrachtet werde.

4.2 Die Beschwerdeführenden bringen im Wesentlichen vor, die Vorinstanz habe es wiederum versäumt, eine sorgfältige Einzelfallprüfung hinsichtlich des Selbsteintrittsrechts durchzuführen. Es handle sich bei ihnen um besonders verletzliche Personen, da die Mutter seit der Frühgeburt an gesundheitlichen Beschwerden leide und der gesundheitliche Zustand des frühgeborenen Kindes äusserst fragil sei (Beilage 5). Wenn es wahrscheinlich sei, dass besonders verletzliche Personen die Voraussetzungen für eine Inhaftierung erfüllten, verbiete sich eine Überstellung nach Ungarn. Diesbezüglich hätte die Vorinstanz im Einzelfall aufgrund aktuellster Informationen prüfen müssen, ob die Wahrscheinlichkeit einer Inhaftierung und auch die Gefährdung durch gravierende Mängel des Asylverfahrens respektive der Aufnahmebedingungen ausgeschlossen werden könne. Dies habe sie unterlassen und auch keine weitere Abklärungen zum Gesundheitszustand der Beschwerdeführenden gemacht, obwohl die Frühgeburt aktenkundig gewesen sei. Auch dränge sich im vorliegenden Fall unter einer Gesamtwürdigung aller Umstände ein Selbsteintritt aufgrund humanitärer Gründe auf.

5.

5.1 Gemäss Art. 3 Abs. 2 Dublin-II-VO kann jeder Mitgliedstaat einen von einem Drittstaatsangehörigen eingereichten Asylantrag prüfen, auch wenn er nach den in dieser Verordnung festgelegten Kriterien nicht für die Prüfung zuständig ist. Der betreffende Mitgliedstaat wird dadurch zum zuständigen Mitgliedstaat im Sinne dieser Verordnung und übernimmt die mit dieser Zuständigkeit einhergehenden Verpflichtungen. Gegebenenfalls unterrichtet er den zuvor zuständigen Mitgliedstaat, den Mitgliedstaat, der ein Verfahren zur Bestimmung des zuständigen Staates durchführt, oder den Mitgliedsstaat, an den ein Aufnahme- oder Wiederaufnahmegesuch gerichtet wurde (sog. Selbsteintrittsrecht bzw. Souveränitätsklausel).

5.2 Asylsuchende können gemäss der Praxis des Bundesverwaltungsgerichts zwar unmittelbar aus der Souveränitätsklausel keine rechtlich durchsetzbaren Ansprüche ableiten (vgl. BVGE 2010/45), sie können sich aber in einem Beschwerdeverfahren auf die Verletzung einer direkt anwendbaren Bestimmung des internationalen öffentlichen Rechts oder einer Norm des Landesrechts - insbesondere Art. 29a Abs. 3 AsylV 1 -, welche einer Überstellung entgegenstehen, berufen. Ist die Rüge begründet, muss die Souveränitätsklausel angewendet werden und die Schweiz muss sich zur Prüfung des Asylgesuchs zuständig erklären (vgl. BVGE 2010/45 E. 5).

5.3 Das Bundesverwaltungsgericht hat in seinem Urteil E-2093/2012 vom 9. Oktober 2013 die Widerlegbarkeit der grundsätzlichen Vermutung, dass die Dublin-Mitgliedstaaten ihren völkerrechtlichen Pflichten sowie ihren Pflichten aus der Aufnahme- und Verfahrensrichtlinie nachkommen würden (vgl. E-2093/2012 E. 4.2), bekräftigt (vgl. BVGE 2012/27, 2011/35 und 2010/45). Es hat mit Blick auf die vergangene und die derzeit herrschende Situation von Asylsuchenden in Ungarn das Vorhandensein systematischer Mängel verneint, jedoch kam es analog der Rechtsprechung zu Malta im Dublin-Kontext (BVGE 2012/27 E. 7.4) zum Schluss, dass sich die Vermutung, Ungarn beachte die den betroffenen Personen im Gemeinsamen Europäischen Asylsystem zustehenden Grundrechte in angemessener Weise, nicht ohne weiteres mehr aufrechterhalten lasse (vgl. E-2093/2012 E. 9.1 und 9.2). Die im Rahmen eines Dublin-Verfahrens nach Ungarn überstellten Personen würden zwar nicht generell verhaftet, und es müsse auch nicht davon ausgegangen werden, sie hätten im Allgemeinen keinen Zugang zu einem ordnungsgemässen Asylverfahren, jedoch müsse von Amtes wegen im Einzelfall geprüft werden, ob eine Überstellung dorthin zulässig ist, wobei der Zurechenbarkeit der Beschwerdeführenden zu einer besonders verletzlichen Personengruppe Rechnung zu tragen sei (E-2093/2012 E. 9 ff.).

5.4 Den Beschwerdeführenden ist zuzustimmen, dass die Vorinstanz in ihrer Begründung bezüglich der Anwendbarkeit des Selbsteintrittsrechts zwar die Rechtslage bezüglich Dublin-Rückkehrern in Ungarn respektive deren Ansprüche im Asylverfahren darlegt, nicht jedoch in genügender Weise auf den konkreten Einzelfall der Familie eingeht. Zwar prüft die Vorinstanz mögliche Haftgründe, vermag jedoch nicht in überzeugender Weise darzulegen, dass die Wahrscheinlichkeit einer die Grundrechte der Beschwerdeführenden verletzenden Inhaftierung als gering einzustufen ist. Dies insbesondere auch in Anbetracht der Tatsache, dass der Vater der Familie anlässlich des ersten Asylverfahrens in Ungarn inhaftiert und von seiner Familie getrennt wurde. Auch bestreitet die Vorinstanz zwar nicht eine gewisse Vulnerabilität der Beschwerdeführenden, führt jedoch in pauschaler Weise aus, sie hätten in Ungarn als Familie Anspruch auf Unterbringung in einem Familienzimmer auf einem separaten Stockwerk. Damit legt sie wiederum die allgemeine Lage dar, nimmt jedoch keine einzelfallgerechte Prüfung vor, welche insbesondere bei besonders verletzlichen Personengruppen angezeigt wäre (vgl. E. 5.3). Schliesslich hält die Vorinstanz fest, den Akten könne nicht entnommen werden, dass die Beschwerdeführenden auf eine medizinische Versorgung angewiesen seien, diesfalls könnten sie sich aber an die ungarischen Behörden wenden. Damit verkennt sie die aktenkundige Frühgeburt des jüngsten Beschwerdeführers und die damit einhergegangen gesundheitlichen Beschwerden der Mutter. Auch kommt hinzu, dass gemäss ärztlichem Bericht vom 11. August 2014 (Beilage 5) das frühgeboren Kind an Hustenepisoden leidet. Durch die Darlegung der allgemeinen Rechtslage in Ungarn und der den Dublin-Rückkehrern dort zustehenden Ansprüche, ohne in ausführlicherer Weise auf den Einzelfall der Beschwerdeführenden einzugehen, hat die Vorinstanz die Begründungspflicht gemäss Art. 35 Abs. 1 VwVG und somit Bundesrecht verletzt. Unter dem Aspekt des Beschleunigungsgebot und in Anbetracht der langen Verfahrensdauer des vorliegenden Dublin-Verfahrens rechtfertigt es sich, die Vorinstanz anzuweisen, das nationale Asylverfahren aufzunehmen.

6.
Die Beschwerde ist nach dem Gesagten gutzuheissen und die Vorinstanz ist anzuweisen, auf die Asylgesuche der Beschwerdeführenden einzutreten und das nationale Asylverfahren aufzunehmen.

7.
Bei diesem Ausgang der Verfahren sind keine Kosten aufzuerlegen (vgl. Art. 63 Abs. 1 und 2 VwVG). Den vertretenen Beschwerdeführenden ist angesichts ihres Obsiegens in Anwendung von Art. 64 VwVG und Art. 7 Abs. 1 des Reglements vom 21. Februar 2008 über die Kosten und Entschädigungen vor dem Bundesverwaltungsgericht (VGKE, SR 173.320.2) eine Entschädigung für die ihnen notwendigerweise erwachsenen Parteikosten zuzusprechen. Da die Rechtsvertreterin vor dem Entscheid und ohne gerichtliche Aufforderung eine detaillierte Kostennote einzureichen hat, ist der Antrag auf Fristansetzung abweisen und der notwendige Vertretungsaufwand von Amtes wegen aufgrund der Akten festzusetzen (Art. 14 VGKE). In Anwendung der Bemessungsfaktoren von Art. 7 ff . VGKE ist eine Parteientschädigung von insgesamt Fr. 2500.- (inkl. Auslagen und Mehrwertsteuer) festzusetzen. Die Vorinstanz ist anzuweisen, diesen Betrag den Beschwerdeführenden für das Verfahren vor dem Bundesverwaltungsgericht auszurichten.

(Dispositiv nächste Seite)

Demnach erkennt das Bundesverwaltungsgericht:

1.
Die Beschwerde wird gutgeheissen.

2.
Die Verfügung des BFM vom 6. August 2014 wird aufgehoben, das BFM wird angewiesen auf die Asylgesuche der Beschwerdeführenden einzutreten und das nationale Asylverfahren aufzunehmen.

3.
Es werden keine Verfahrenskosten erhoben.

4.
Das BFM wird angewiesen, den Beschwerdeführenden für das Verfahren vor dem Bundesverwaltungsgericht eine Parteientschädigung in der Höhe von insgesamt Fr. 2500.- (inkl. Auslagen und MwSt) zu entrichten.

5.
Dieses Urteil geht an die Beschwerdeführenden, das BFM und die zuständige kantonale Behörde.

Der vorsitzende Richter: Der Gerichtsschreiber:

Daniel Willisegger Alain Degoumois

Versand:
Informazioni decisione   •   DEFRITEN
Documento : E-4664/2014
Data : 01. settembre 2014
Pubblicato : 10. settembre 2014
Sorgente : Tribunale amministrativo federale
Stato : Inedito
Ramo giuridico : Allontanamento Dublino (Art. 107a LAsi)
Oggetto : Nichteintreten auf Asylgesuch und Wegweisung; Verfügung des BFM vom 6. August 2014


Registro di legislazione
LAsi: 105  106  108
LTAF: 31
LTF: 83
OAsi 1: 29a
PA: 5  35  48  52  63  64
TS-TAF: 7  14
Parole chiave
Elenca secondo la frequenza o in ordine alfabetico
autorità inferiore • ungheria • tribunale amministrativo federale • procedura d'asilo • stato membro • famiglia • assegnato • allegato • contratto con sé stessi • cancelliere • effetto sospensivo • madre • d'ufficio • termine ricorsuale • fattispecie • presunzione • giorno • decisione • ufficio federale della migrazione • imposta sul valore aggiunto
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