Bundesverwaltungsgericht
Tribunal administratif fédéral
Tribunale amministrativo federale
Tribunal administrativ federal


Abteilung VI

F-3472/2017, F-3475/2017

Urteil vom 1. Mai 2018

Richter Martin Kayser (Vorsitz),

Besetzung Richter Blaise Vuille,
Richter Philippe Weissenberger,

Gerichtsschreiberin Rahel Altmann.

A._______,
Parteien (...),

Beschwerdeführerin,

gegen

Staatssekretariat für Migration SEM,
Quellenweg 6, 3003 Bern,

Vorinstanz.

Gegenstand Visum aus humanitären Gründen.

Sachverhalt:

A.
B._______ (geb. [...]; nachfolgend: Gesuchsteller 1) reichte zusammen mit seiner Ehefrau (geb. [...]), der gemeinsamen Tochter (geb. [...]) sowie seinem Bruder (geb. [...]; nachfolgend: Gesuchsteller 2), alle syrische Staatsangehörige, auf der Schweizer Botschaft in Istanbul Gesuche um Ausstellung humanitärer Visa ein. Die Schweizer Auslandvertretung wies die Gesuche mit Formularentscheid vom (...) ab.

B.
Eine dagegen erhobene Einsprache der in der Schweiz wohnhaften Schwester der Gesuchsteller 1 und 2 (nachfolgend: Beschwerdeführerin) wies das SEM mit Verfügung vom 23. Mai 2017 ab.

C.
Die Beschwerdeführerin beantragt mit Rechtsmitteleingabe vom 19. Juni 2017 sinngemäss die Aufhebung der angefochtenen Verfügung sowie die Erteilung humanitärer Visa für die Gesuchstellenden.

D.
Mit Zwischenverfügung vom 4. August 2017 lehnte das Bundesverwaltungsgericht das Gesuch der Beschwerdeführerin vom 14. Juli 2017 um Gewährung der unentgeltlichen Prozessführung ab.

E.
Die Vorinstanz beantragte in ihrer Vernehmlassung vom 21. September 2017 die Abweisung der Beschwerde. Die Beschwerdeführerin liess sich in der Folge nicht weiter vernehmen.

F.
Auf den weiteren Akteninhalt wird, soweit rechtserheblich, in den Erwägungen eingegangen.

Das Bundesverwaltungsgericht zieht in Erwägung:

1.

1.1 Von der Vorinstanz erlassene Einspracheentscheide bezüglich Schengen- und humanitäre Visa sind mit Beschwerde beim Bundesverwaltungsgericht anfechtbar (vgl. Art. 31 ff . VGG i.V.m. Art. 5 VwVG).

1.2 Das Rechtsmittelverfahren richtet sich nach dem VwVG, soweit das VGG nichts anderes bestimmt (vgl. Art. 37 VGG).

1.3 Die Beschwerdeführerin ist als Gastgeberin und Einsprecherin zur Beschwerde berechtigt (vgl. Art. 48 Abs. 1 VwVG). Auch die übrigen Sachurteilsvoraussetzungen sind erfüllt (vgl. Art. 50 und Abs. 52 VwVG).

2.
Mit Beschwerde an das Bundesverwaltungsgericht kann die Verletzung von Bundesrecht, einschliesslich Überschreitung oder Missbrauch des Ermessens, die unrichtige oder unvollständige Feststellung des rechtserheblichen Sachverhaltes sowie - falls nicht eine kantonale Behörde als Beschwerdeinstanz verfügt hat - die Unangemessenheit gerügt werden (Art. 49 VwVG). Massgebend ist grundsätzlich die Sachlage zum Zeitpunkt seines Entscheides (vgl. BVGE 2014/1 E. 2 m.w.H.).

3.

3.1 Als Staatsangehörige Syriens unterliegen die Gesuchstellenden der Visumspflicht gemäss Art. 4 der Verordnung vom 22. Oktober 2008 über die Einreise und die Visumerteilung (VEV, SR 142.204) beziehungsweise der EU-Visa-Verordnung ([EG] Nr. 539/2001 des Rates vom 15. März 2001 [ABl. L 81 vom 21.03.2001] zur Aufstellung der Liste der Drittländer, deren Staatsangehörige beim Überschreiten der Aussengrenzen im Besitz eines Visums sein müssen, sowie der Liste der Drittländer, deren Staatsangehörige von dieser Visumpflicht befreit sind; zum vollständigen Quellennachweis vgl. die Fussnote zu Art. 4 Abs. 1 VEV).

3.2 Die Voraussetzungen für die Erteilung eines ordentlichen Besucher- respektive Schengen-Visums mit Geltung für den gesamten Schengen-Raum sind vorliegend, wie von der Vorinstanz festgestellt, nicht erfüllt (vgl. Art. 5 Abs. 1 und 2 AuG [SR 142.20] und Art. 2 Abs. 1 VEV i.V.m. Art. 6 Abs. 1 Verordnung [EU] Nr. 2016/399 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 9. März 2016 über einen Gemeinschaftskodex für das Überschreiten der Grenzen durch Personen [Schengener Grenzkodex]). Dies wurde von der Beschwerdeführerin auch nicht bestritten. Auf weitere Ausführungen diesbezüglich kann entsprechend verzichtet werden und es bleibt zu prüfen, ob die Ausstellung humanitärer Visa für die Gesuchstellenden zu Recht verweigert wurde.

4.

4.1 Sind die Voraussetzungen für die Ausstellung eines Schengen-Visums nicht erfüllt, kann in Ausnahmefällen ein Visum mit räumlich beschränkter Gültigkeit erteilt werden. Ein Mitgliedstaat kann unter anderem grundsätzlich von dieser Möglichkeit Gebrauch machen, wenn er es aus humanitären Gründen, aus Gründen des nationalen Interesses oder aufgrund internationaler Verpflichtungen für erforderlich hält (vgl. Art. 2 Abs. 4 und Art. 12 Abs. 4 VEV, Art. 25 Abs. 1 Bst. a Visakodex; ebenso Art. 6 Abs. 5 Bst. c SGK).

4.2 Gemäss der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts kann gestützt auf die weiterhin geltende Praxis ein nationales Visum aus humanitären Gründen ausgestellt werden, wenn bei einer Person aufgrund des konkreten Einzelfalles offensichtlich davon ausgegangen werden muss, dass sie im Heimat- oder Herkunftsstaat unmittelbar, ernsthaft und konkret an Leib und Leben gefährdet ist; die betroffene Person muss sich in einer besonderen Notsituation befinden, die ein behördliches Eingreifen zwingend erforderlich macht und die Erteilung eines Einreisevisums rechtfertigt. Dies kann etwa bei akuten kriegerischen Ereignissen oder bei einer aufgrund der konkreten Situation unmittelbaren individuellen Gefährdung gegeben sein. Das Gesuch ist unter Berücksichtigung der aktuellen Gefährdung, der persönlichen Umstände der betroffenen Person und der Lage im Heimat- oder Herkunftsland sorgfältig zu prüfen. Befindet sich die Person bereits in einem Drittstaat, ist in der Regel davon auszugehen, dass keine Gefährdung mehr besteht (vgl. zum Ganzen Urteil des BVGer F-7298/2016 vom 19. Juni 2017 E. 4, insbesondere mit Hinweisen zum Urteil des Europäischen Gerichtshofs [EuGH] vom 7. März 2017, X und X gegen Belgien, C-638/16 PPU, EU:C:2017:173; vgl. ferner BVGE 2015/5 E. 4).

4.3 Die Beschwerdeführerin bringt sinngemäss im Wesentlichen vor, dass die Gesuchsteller 1 und 2 in den Militärdienst der syrischen Regierung berufen und zur Verhaftung ausgeschrieben worden seien. Die Gesuchsteller 1 und 2 befänden sich aufgrund der Verweigerung des Militärdienstes sowie der allgemeinen Lage in Syrien in Gefahr an Leib und Leben und müssten sich in Syrien versteckt halten.

Demgegenüber erwägt die Vorinstanz, die Gesuchstellenden hätten anlässlich der Einreichung eines Gesuchs um humanitäre Visa in Istanbul nicht die Gelegenheit genutzt, sich beim UNHCR oder einer anderen Hilfsorganisation zu melden, um sich in der Türkei vor der geltend gemachten Verfolgung der syrischen Regierung in Sicherheit zu bringen. Eine unmittelbare, ernsthafte, und konkrete Gefahr an Leib und Leben sei nicht ersichtlich.

4.4 Angesichts des Bürgerkriegs in Syrien verkennt das Bundesverwaltungsgericht die schwierige Situation der in ihrem Heimatstaat lebenden Gesuchstellenden nicht. Den Akten ist zu entnehmen, dass sowohl der Gesuchsteller 1 als auch der Gesuchsteller 2 vom Militär der syrischen Regierung rekrutiert und der Gesuchsteller 1 zur Verhaftung wegen Verweigerung des Militärdiensts ausgeschrieben wurde (für den Gesuchsteller 1: [...]; für den Gesuchsteller 2: [...]). Von der Rekrutierung durch die syrische Armee hatten die Gesuchstellenden jedoch bereits im Zeitpunkt der Einreichung des Antrags um Ausstellung humanitärer Visa bei der Schweizer Vertretung in Istanbul (...) Kenntnis (SEM act. 4/76). Das Vorbringen der Beschwerdeführerin respektive der Gesuchsteller 1 und 2, dass Letztere sich in der Türkei nicht beim UNHCR respektive den türkischen Behörden haben registrieren lassen, weil eine Flucht aus Syrien nicht möglich sei, ist gestützt auf die Akten nicht nachvollziehbar. Gemäss eigenen Angaben konnten sie während ihres Aufenthalts (in der Türkei) bei Bekannten leben (SEM act. 4/75). Entsprechend verfügten sie bereits über eine Unterstützung in der Türkei und es wäre ihnen offen gestanden, sich an die lokalen Behörden oder Hilfsorganisationen zu wenden. Dementsprechend lässt sich nicht erschliessen, weshalb die Gesuchsteller nach Einreichung des Antrags auf humanitäre Visa bei der Schweizer Botschaft in Istanbul wieder freiwillig nach Syrien zurückkehrten.

Bei den eingereichten Unterlagen bezüglich der Rekrutierung der Gesuchsteller 1 und 2 handelt es sich im Weiteren um offizielle Aufforderungen der syrischen Behörden zur Leistung des Militärdienstes (vgl. zur allgemeinen Wehrpflicht in Syrien: Bundesamt für Fremdwesen und Asyl [BFA], Fact Finding Mission Report Syrien, August 2017, https://www.bfa.gv.at/files/berichte/FFM_Bericht_Syrien_mit_Beitraegen_zu_Jordanien_Libanon_Irak_ 2017 _8_31_KE.pdf, abgerufen im April 2018). Der Gesuchsteller 1 erwähnte zudem lediglich, dass der für die Partei der Demokratischen Union (PYD) gekämpft habe, welche gemäss seinen Angaben zur Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) gehöre (SEM act. 3/76). Aus der Aufforderung der syrischen Regierung sowie aus den Akten im Allgemeinen wird nicht ersichtlich, dass die syrische Regierung - oder andere Akteure, wie etwa die PKK - die Gesuchstellenden konkret verfolgen würden. Die Pflicht zur Leistung von Militärdienst in Syrien und allfälligen Sanktionierungen für den Fall einer Missachtung der Dienstpflicht durch Refraktion oder Desertion stellen überdies praxisgemäss für sich allein noch keinen Asylgrund dar (Urteil des BVGer vom 17. Oktober 2017 E-856/2015 E. 6.3.3). Die Erteilung eines humanitären Visums gestützt auf die geltend gemachte Bedrohung durch die syrische Regierung erscheint auch unter diesem Aspekt nicht gerechtfertigt. Ebenso kann von einer Kollektivverfolgung der kurdischen Bevölkerung in Syrien nicht ausgegangen werden (Urteil des BVGer E-2793/2016 vom 26. Februar 2018 E. 6.6 m.w.H.). Gemäss der Beschwerdeschrift vom 19. Juni 2017 leben die Gesuchsteller 1 und 2 in (Syrien)([...]). Weitere Angaben zum Aufenthaltsort, zur persönlichen und gesundheitlichen Situation der Familie sowie Nachweise einer möglichen konkreten, unmittelbaren Gefahr im Sinne der obigen Erwägungen (vgl. E. 4.2) reichte die Beschwerdeführerin nicht ein. Sie liess sich auf Beschwerdeebene trotz Aufforderung zur Einreichung einer Replik nicht weiter vernehmen und konnte die von ihr behauptete besondere Notsituation der Gesuchstellenden, die ein behördliches Eingreifen zwingend erforderlich machen und die Erteilung eines Einreisevisums rechtfertigen würde, nicht substantiieren.

4.5 Gestützt auf die Akten und die eingereichten Eingaben liegt insgesamt keine substantiierte unmittelbare Gefährdung der Gesuchstellenden, die die Ausstellung humanitärer Visa rechtfertigen würde, vor. Die angefochtene Verfügung erweist sich somit als rechtskonform und die Beschwerde ist entsprechend abzuweisen.

5.
Entsprechend dem Ausgang des Verfahrens besteht kein Anspruch auf Parteientschädigung, und die Kosten sind der Beschwerdeführerin aufzuerlegen (vgl. Art. 63 Abs. 1 und 2 VwVG i.V.m. Art. 1 ff . des Reglements vom 21. Februar 2008 über die Kosten und Entschädigungen vor dem Bundes-verwaltungsgericht [VGKE, SR 173.320.2]). Die Verfahrenskosten von Fr. 700.- sind durch den von der Beschwerdeführerin in gleicher Höhe geleisteten Kostenvorschuss gedeckt.

(Dispositiv nächste Seite).

Demnach erkennt das Bundesverwaltungsgericht:

1.
Die Beschwerde wird abgewiesen.

2.
Die Verfahrenskosten von Fr. 700.- werden der Beschwerdeführerin auferlegt. Sie sind durch den von der Beschwerdeführerin in gleicher Höhe geleisteten Kostenvorschuss gedeckt.

3.
Dieses Urteil geht an:

- die Beschwerdeführerin (Einschreiben)

- die Vorinstanz (Beilagen: Akten Ref-Nr. [...])

Der vorsitzende Richter: Die Gerichtsschreiberin:

Martin Kayser Rahel Altmann

Versand:
Informazioni decisione   •   DEFRITEN
Documento : F-3472/2017
Data : 01. maggio 2018
Pubblicato : 11. maggio 2018
Sorgente : Tribunale amministrativo federale
Stato : Inedito
Ramo giuridico : Cittadinanza e diritto degli stranieri
Oggetto : Visum aus humanitären Gründen


Registro di legislazione
LStr: 5
LTAF: 31  37
OEV: 2  4  12
PA: 5  48  49  50  63
TS-TAF: 1
Parole chiave
Elenca secondo la frequenza o in ordine alfabetico
allegato • anticipo delle spese • atto di ricorso • autorità cantonale • autorità inferiore • belgio • camera • casale • cittadinanza svizzera • conoscenza • decisione su opposizione • decisione • difesa militare • domanda indirizzata all'autorità • entrata nel paese • famiglia • fattispecie • fratelli e sorelle • fuga • iscrizione • istante • legge federale sugli stranieri • luogo di dimora • militare • motivo d'asilo • parlamento europeo • persona interessata • posto • potere d'apprezzamento • prassi giudiziaria e amministrativa • prato • presupposto processuale • reiezione della domanda • replica • ricorso al tribunale amministrativo federale • riporto • siria • spese di procedura • stato d'origine • stato membro • stato terzo • tribunale amministrativo federale • urbanizzazione • visto • vita
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