S. 9 / Nr. 3 Staatsverträge (d)

BGE 69 I 9

3. Urteil vom 5. März 1943 i. S. Martig gegen Graubünden,
Steuerrekurskommission

Regeste:
Genügt für das Doppelbesteuerungsabkommen zwischen Frankreich und der Schweiz
ein bloss virtueller Konflikt 7
Art. 14 des Abkommens: schweizerischer Wohnsitz eines Emigranten, der sich
seit 1940 in der Schweiz aufhält, obwohl er seine Wohnung am früheren
ausländischen Wohnort nicht aufgegeben hat.
Un conflit simplement virtuel suffit-il pour l'application de la Convention
franco-suisse en matière de double imposition 7
Art. 14 de la Convention. Domicile en Suisse d'un émigrant qui est revenu en
Suisse et y habite depuis 1940, sans avoir abandonné son appartement à son
ancien domicile à l'étranger.
Un conflitto meramente virtuale basta per l'applicazione della convenzione
franco-svizzera in materia di doppia imposta 7
Art. 14 della convenzione. Domicilio in Isvizzera di un emigrante che ivi si
trova dal 1940, benchè abbia conservato il suo appartamento nel luogo del suo
precedente domicilio

A. ­ Der in Basel-Stadt heimatberechtigte Rekurrent hat sich anfangs der 30er
Jahre in Paris als Kunstmaler

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niedergelassen. Wegen des drohenden Krieges kehrte er erstmals im August 1939
für drei Monate in die Schweiz zurück, um später, d. h. im April 1940, Paris
im Hinblick auf die drohende Invasionsgefahr wiederum zu verlassen. Seither
hält er sich bei seiner Mutter in Davos auf. Er behielt aber seine Wohnung in
Paris bei und beauftragte jemanden mit deren Überwachung und der Regelung
seiner übrigen Angelegenheiten. Die Steuern bezahlte er in Paris letztmals für
das Jahr 1939. In der Wehropfererklärung, die er 1940 abgab, gab Martig an, in
Paris Wohnsitz zu haben. Als er es auf Aufforderung hin unterliess, den
Steuerbehörden des Kantons Graubünden nachzuweisen, dass er für 1940 ff. in
Paris Steuern zu entrichten habe, erklärte ihn die Kreissteuerkommission Davos
mit Verfügung vom 31. März 1942 seit dem 1. Januar 1940 steuerpflichtig und
hielt auf Einsprache hin an dieser Verfügung in dem Sinne fest, dass sie
Martig vom 1. Mai 1940 weg mit Fr. 58000.- zur Vermögenssteuer veranlagte.
Diesen Entscheid hat die kantonale Rekurskommission auf Beschwerde des
Pflichtigen hin am 30. Oktober 1942 bestätigt.
B. ­ Mit rechtzeitiger staatsrechtlicher Beschwerde beantragt Martig, der
Entscheid der Steuerrekurskommission sei aufzuheben und festzustellen, dass
der Rekurrent in Davos nicht steuerpflichtig sei. Es wird Verletzung der Art.
4
SR 101 Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft vom 18. April 1999
BV Art. 4 Landessprachen - Die Landessprachen sind Deutsch, Französisch, Italienisch und Rätoromanisch.
und 46
SR 101 Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft vom 18. April 1999
BV Art. 46 Umsetzung des Bundesrechts - 1 Die Kantone setzen das Bundesrecht nach Massgabe von Verfassung und Gesetz um.
1    Die Kantone setzen das Bundesrecht nach Massgabe von Verfassung und Gesetz um.
2    Bund und Kantone können miteinander vereinbaren, dass die Kantone bei der Umsetzung von Bundesrecht bestimmte Ziele erreichen und zu diesem Zweck Programme ausführen, die der Bund finanziell unterstützt.10
3    Der Bund belässt den Kantonen möglichst grosse Gestaltungsfreiheit und trägt den kantonalen Besonderheiten Rechnung.11
BV sowie des Abkommens zwischen der Schweizerischen Eidgenossenschaft
und der Französischen Republik zur Vermeidung der Doppelbesteuerung auf dem
Gebiete der direkten Steuern vom 13. Oktober 1937 geltend gemacht. Diese wird
darin erblickt, dass der Rekurrent im Kanton Graubünden zur Vermögenssteuer
herangezogen werde, obwohl er hier lediglich mit einer befristeten
Aufenthaltsbewilligung verweile, keine Erwerbstätigkeit ausübe, seine Wohnung
in Paris beibehalten und die Absicht habe, sobald als möglich dorthin
zurückzukehren. Willkür soll darin liegen, dass angenommen wird, der Rekurrent
habe in Davos die Schriften hinterlegt,

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um dort Niederlassung zu nehmen, und erteile Malunterricht, ferner darin, dass
die Rekurskommission die Akten ergänzt und dem Rekurrenten davon keine
Mitteilung gemacht habe, und dass für die Steuerpflicht des Rekurrenten daraus
etwas abgeleitet werde, dass er das Wehropfer entrichtete.
C. ­ Die kantonale Steuerverwaltung und die Rekurskommission schliessen auf
Abweisung der Beschwerde.
Das Bundesgericht zieht in Erwägung:
1. ­ Der Rekurrent hat trotz wiederholter Aufforderung seitens der kantonalen
Steuerbehörden nicht dargetan, dass er für die Zeit seit dem 1. Mai 1940 für
das bewegliche Vermögen auch in Frankreich besteuert werde. Es ist daher davon
auszugehen, dass kein aktueller Konflikt vorliegt. Für die internationale
Abgrenzung der Steuerhoheiten gilt, jedenfalls bezüglich Liegenschaften und
beim Fehlen einer staatsvertraglichen Ordnung, dass sich der Pflichtige nur
bei tatsächlicher Doppelbesteuerung beschweren kann (BGE 46 I Nr. 57, 49 I Nr.
34; Urteil vom 21. Oktober 1938 i. S. Stern, nicht publiziert). Besteht zur
Vermeidung solcher Doppelbesteuerung ein Abkommen, so beurteilt sich nach
diesem, ob schon ein virtueller oder erst ein aktueller Konflikt genüge. Es
kann indessen offen bleiben, wie es sich damit bei dem hier anwendbaren
Abkommen zwischen der Schweizerischen Eidgenossenschaft und der Französischen
Republik zur Vermeidung der Doppelbesteuerung auf dem Gebiete der direkten
Steuern verhält, wenn sich bei Prüfung der Beschwerde ergibt, dass keine
Verletzung des Abkommens vorliegt und die Beschwerde daher abzuweisen ist. Das
trifft aber zu.
2. ­ Die vom Kanton Graubünden beanspruchte Steuerhoheit bezieht sich auf das
bewegliche Vermögen des Rekurrenten unter Ausschluss des in Paris befindlichen
Hausrates. Dafür steht sie nach Art. 14 § 1 des Abkommens demjenigen Staate
zu, in dessen Gebiet der Pflichtige

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seinen Wohnsitz hat. Ihn hat aber die natürliche Person an dem Orte, wo sie
sich mit der Absicht dauernden Verbleibens aufhält, wobei im Falle von
Schwierigkeiten abzustellen ist auf den ordentlichen Wohnort im Sinne einer
ständigen Wohnstätte. Für die Auslegung dieses Wohnsitzbegriffes sind das
schweizerische Recht, insbesondere die Grundsätze massgebend, von denen das
Bundesgericht bei Beurteilung interkantonaler Doppelbesteuerungskonflikte sich
hat leiten lassen.
Darnach hat Wohnsitz an einem Ort, wer die Absicht hat, dort dauernd zu
bleiben, und diesen Willen durch tatsächlichen Aufenthalt betätigt. Das erste
Erfordernis erfüllt nicht nur, wer an einem Orte für immer oder doch für
unbestimmte Zeit verbleiben will, sondern schon, wer den Ort, sei es auch nur
für kürzere Zeit, zum Mittelpunkt der Lebensverhältnisse, der persönlichen und
geschäftlichen Beziehungen macht und ihm dadurch eine gewisse Stabilität
verleiht. Auch die Absicht, bei eintretender Änderung der Verhältnisse oder
nach bestimmter Zeit anderswohin zu übersiedeln, schliesst den Wohnsitz am
Orte des tatsächlichen Aufenthaltes nicht aus (BGE 41 III 193; 49 I 193, 49 I
429
; 64 II 403).
Der Rekurrent ist ursprünglich in die Schweiz eingereist, um nach Wegfall der
Kriegs- und Invasionsgefahr oder doch nach Eintritt normaler Verhältnisse
wieder nach Paris zurückzukehren Darauf deutet nicht nur, dass er die Wohnung
in Paris beibehielt und jemanden mit der Verwaltung seines dortigen Besitzes
beauftragte, sondern auch, dass er am 8. November 1939, als er die Gefahr
vorläufig als behoben betrachtete, an den früheren Wohnort zurückkehrte und
dort bis zum 23. April 1940 verblieb. Nach seiner zweiten Einreise in die
Schweiz sah er dann offenbar im Hinblick auf den Einbezug von Paris in die
besetzte Zone von einer neuerlichen Rückkehr ab. Denn er blieb in der Schweiz,
obwohl sich die Verhältnisse seit der Besetzung nicht mehr veränderten,
offenbar in der Absicht, den Aufenthalt in Davos solange

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beizubehalten, als jener Zustand andauere. Dass das nicht für ganz
vorübergehend geschah, zeigt sich darin, dass der Rekurrent in Davos, wo er im
Hause seiner Mutter lebt; dem Berufe als Maler nachgeht, Gemäldeausstellungen
veranstaltet und Malunterricht erteilt, wenn auch richtig sein mag, dass dies
mehr gelegentlich geschieht; sodann spricht dafür, dass sich auch seine
gesellschaftlichen Beziehungen nach Davos verschoben haben und er zu Paris
abgesehen von der Sorge um den dortigen Besitz keine Beziehungen mehr
unterhält. Davos ist so für unbestimmte Zeit zum Mittelpunkt der
Lebensbetätigung des Rekurrenten geworden. Dazu kommt, dass der Aufenthalt in
der Schweiz tatsächlich bald drei Jahre gedauert hat, durch keine Aufenthalte
in Paris unterbrochen wurde, sodass die Abwesenheit von dort auch deshalb
nicht mehr als bloss vorübergehender Natur gelten kann. Was vorliegt, genügt
daher, um annehmen zu können, der Wohnsitz des Rekurrenten im Sinne des
Abkommens befinde sich zur Zeit in Davos. Der Rekurrent beruft sich
demgegenüber zu Unrecht auf die Auskunft des eidgenössischen politischen
Departementes, die davon ausgeht, dass Schweizerbürger, die aus Anlass der
Kriegsereignisse aus Frankreich in die Heimat zurückgekehrt sind, im Ausland
steuerpflichtig bleiben, sofern sie dort eine ständige Wohnstätte behalten
haben, und beabsichtigen zurückzukehren, sobald die Verhältnisse es gestatten.
Abgesehen davon, dass diese Auskunft für die Gerichte nicht verbindlich ist
und bereits im Juli 1941 erteilt wurde, wird darin ausdrücklich betont, dass
dies für vorübergehend zurückgekehrte Schweizer gelte, und hinzugefügt, dass
ein verlängerter Aufenthalt nicht zu einer unbegrenzten Freistellung von den
Steuern des Bundes und der Kantone führen könne. Dem entspricht übrigens auch
die Auffassung der eidgenössischen Steuerverwaltung in ihrer Korrespondenz mit
den bündnerischen Steuerbehörden. Ob der Rekurrent seine Schriften in Davos
hinterlegt und Niederlassung genommen habe oder die

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Schriften sich dort befinden, weil sie anlässlich der Ausstellung des Passes
nötig waren, oder ob sich der Rekurrent in Davos nur auf Grund einer
befristeten Bewilligung aufhält, ist unmassgeblich. Denn auf derartige äussere
Momente, die wesentlich vom Willen der Beteiligten abhängen, ist für die
Bestimmung des Wohnsitzes kein entscheidendes Gewicht zu legen (Urteile vom
21. Oktober 1933 i. S. Schenker und vom 1. Dezember 1941 i. S. Linsi).
Massgebend ist vielmehr die Gesamtheit der Lebensverhältnisse, die Frage nach
dem Mittelpunkt der Lebensbeziehungen. Die Antwort darauf kann nach dem
Ausgeführten nur zugunsten des derzeitigen schweizerischen Aufenthaltsortes
ausfallen.
Gleich wäre übrigens zu entscheiden, wenn ein Zweifelsfall im Sinne von Art.
14 § 1 Satz 2 des Abkommens angenommen würde. Denn darnach hätte als
ordentlicher Wohnsitz die ständige Wohnstätte zu gelten, die sich zur Zeit nur
in Davos befinden kann.
Auch der Zeitpunkt, von dem die Unterstellung unter die Steuerhoheit des
Kantons Graubünden vorgenommen wird, bedeutet keine Vertragsverletzung; wenn
die Besteuerung unzulässig gewesen wäre für die Zeit vom 1. Januar 1940 bis
April 1940, d. h. für einen Zeitpunkt, in dem sich der Rekurrent tatsächlich
noch in Paris aufhielt, so doch jedenfalls nicht für die Zeit seines zweiten
Aufenthaltes in Davos. Übrigens wird in der Beschwerde nicht behauptet, dass
das Abkommen mit Rücksicht hierauf verletzt sei.
3. ­ Mit dem Ausgeführten erledigt sich die Rüge der Verletzung von Art. 4
SR 101 Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft vom 18. April 1999
BV Art. 4 Landessprachen - Die Landessprachen sind Deutsch, Französisch, Italienisch und Rätoromanisch.
BV,
soweit sie sich dagegen richtet, dass die Rekurskommission angenommen habe,
der Rekurrent besitze in Davos eine polizeiliche Niederlassungsbewilligung,
und dass sie übergehe, dass er in der Wehropfererklärung Paris als seinen
Wohnsitz genannt habe. Der Hinweis auf jene Erklärung im
Wehropferveranlagungsverfahren war übrigens für die Entscheidung nicht
massgebend. Dafür, dass die Rekurskommission

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nicht befugt gewesen sei, selbst weitere Erhebungen anzustellen oder dass sie
dem Rekurrenten davon hätte Kenntnis geben müssen, wird in der Beschwerde
keine Bestimmung des kantonalen Rechtes angerufen, aus der sich die
Unzulässigkeit des Verhaltens der Rekurskommission ergäbe. Das wäre aber zur
Begründung der Willkürrüge notwendig gewesen. Es wird darin auch nicht geltend
gemacht, dass die Besteuerung selbst, weil gegen Bestimmungen des
bündnerischen Steuergesetzes verstossend. willkürlich sei.
Demnach erkennt das Bundesgericht: Die Beschwerde wird abgewiesen.