S. 363 / Nr. 82 Prozessrecht (d)

BGE 61 II 363

82. Auszug aus dem Urteil der II Zivilabteilung vom 12. Dezember 1935 i. S.
Müller-Kneubühler gegen Gemeinderat von Rain.


Seite: 363
Regeste:
Die zivilrechtliche Beschwerde wegen Verletzung von Gerichtsstandsbestimmungen
des eidgenössischen Rechts kann auch dann erhoben werden, wenn als zuständig
Behörden des nämlichen Kantons in Frage kommen.
Sie ist jedoch unzulässig, wenn die Gerichtsstandsfrage vor der letzten
kantonalen Instanz nicht Gegenstand der Entscheidung und deren eigene
Zuständigkeit gegeben war.
Art. 87 Ziff. 3 OG

Die Art. 284 und 285
SR 210 Schweizerisches Zivilgesetzbuch vom 10. Dezember 1907
ZGB Art. 285 - 1 Der Unterhaltsbeitrag soll den Bedürfnissen des Kindes sowie der Lebensstellung und Leistungsfähigkeit der Eltern entsprechen; dabei sind das Vermögen und die Einkünfte des Kindes zu berücksichtigen.
1    Der Unterhaltsbeitrag soll den Bedürfnissen des Kindes sowie der Lebensstellung und Leistungsfähigkeit der Eltern entsprechen; dabei sind das Vermögen und die Einkünfte des Kindes zu berücksichtigen.
2    Der Unterhaltsbeitrag dient auch der Gewährleistung der Betreuung des Kindes durch die Eltern oder Dritte.
3    Er ist zum Voraus zu entrichten. Das Gericht setzt die Zahlungstermine fest.
ZGB enthalten keine Bestimmung über die örtliche
Zuständigkeit zur Handhabung der darin geordneten Massnahmen; doch hat das
Bundesgericht die für die Entmündigung aufgestellte Zuständigkeitsnorm des
Art. 376
SR 210 Schweizerisches Zivilgesetzbuch vom 10. Dezember 1907
ZGB Art. 376 - 1 Bestehen Zweifel, ob die Voraussetzungen für eine Vertretung erfüllt sind, so entscheidet die Erwachsenenschutzbehörde über das Vertretungsrecht und händigt gegebenenfalls dem Ehegatten, der eingetragenen Partnerin oder dem eingetragenen Partner eine Urkunde aus, welche die Befugnisse wiedergibt.
1    Bestehen Zweifel, ob die Voraussetzungen für eine Vertretung erfüllt sind, so entscheidet die Erwachsenenschutzbehörde über das Vertretungsrecht und händigt gegebenenfalls dem Ehegatten, der eingetragenen Partnerin oder dem eingetragenen Partner eine Urkunde aus, welche die Befugnisse wiedergibt.
2    Sind die Interessen der urteilsunfähigen Person gefährdet oder nicht mehr gewahrt, so entzieht die Erwachsenenschutzbehörde dem Ehegatten, der eingetragenen Partnerin oder dem eingetragenen Partner auf Antrag einer nahestehenden Person oder von Amtes wegen die Vertretungsbefugnisse teilweise oder ganz oder errichtet eine Beistandschaft.
ZGB auch hiefür anwendbar erklärt (BGE 53 II 282). Somit ist kraft
Bundesrechts zum Entzug der elterlichen Gewalt in der Tat nicht die Behörde
des Heimatortes, sondern die des Wohnsitzes zuständig, freilich mit Vorbehalt
einer abweichenden kantonalen Ordnung für im Kanton selbst wohnende Bürger
gemäss Art. 376 Abs. 2, was jedoch im Kanton Luzern nicht in Frage kommt (§§
39 und 41 des Einführungsgesetzes zum ZGB). Wenn im angeführten Entscheid, von
der soeben erwähnten Ausnahme abgesehen, «die Behörden des Wohnortes oder doch
jedenfalls des Wohnsitzkantons» als zuständig erklärt werden, so will damit
nicht etwa nur ein interkantonales Wohnsitzprinzip aufgestellt sein, in dem
Sinne, dass die Ordnung und Handhabung der örtlichen Zuständigkeit innerhalb
des Wohnsitzkantons vom Bundesrecht unabhängig wäre. Einzuräumen ist nur, dass
es den Kantonen von Bundesrechts wegen nicht verwehrt ist, die Entscheidung
lediglich zentralen Behörden zu übertragen, wobei dann natürlich keine
Konkurrenz von Gerichtsständen innerhalb des Kantons entstehen könnte. Ist
aber die Entscheidungsbefugnis Gemeinde-, Kreis- oder Bezirksbehörden

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zugewiesen, so hat kraft Bundesrechts die Behörde der Wohngemeinde, des
Wohnkreises oder -bezirks als zuständig zu gelten. Das Bundesgericht hat denn
auch das Wohnsitzprinzip bereits zur Abgrenzung der Zuständigkeit innerhalb
des Gebietes eines und desselben Kantons zur Geltung gebracht (BGE 56 II 344
ff.). Ob im vorliegenden Falle Rain, Emmen oder die Stadt Luzern zuständig
gewesen sei, ist also eine Gerichtsstandsfrage des eidgenössischen Rechts im
Sinne des Art. 87 Ziff. 3 OG (worunter auch Bestimmungen über die Abgrenzung
der Zuständigkeit von Behörden administrativen Charakters fallen, BGE 56 II
3
), die gegenüber letztinstanzlichen, der Berufung nicht unterliegenden
kantonalen Entscheiden mit zivilrechtlicher Beschwerde vor das Bundesgericht
gebracht werden kann.
Es frägt sich, ob eine solche Anrufung des Bundesgerichts wegen
Unzuständigkeit einer kantonalen Behörde auch dann zulässig sei, wenn die
letzte kantonale Instanz in der Sache selbst geurteilt hat und deren eigene
Zuständigkeit nicht in Zweifel steht. Jedenfalls ist die Erhebung der
Gerichtsstandsbeschwerde beim Bundesgericht unter solchen Umständen dann zu
versagen, wenn sie weder vor der (angeblich) unzuständigen Behörde selbst
erhoben worden war noch Gegenstand des kantonalen Rekursverfahrens gebildet
hat, wie es hier zutrifft. Das Bundesrecht gebietet nicht, dass eine nach dem
kantonalen Recht zur einlässlichen Beurteilung befugte Rekursinstanz die
Zuständigkeit der ersten Instanz von Amtes wegen prüfe und, wenn sie zu
verneinen ist, die Sache zunächst zur erstinstanzlichen Entscheidung an die
hiefür zuständige erste Instanz weise. Die Regelung der Befugnisse der
verschiedenen kantonalen Instanzen ist Sache des kantonalen Rechts. Daraus ist
zunächst gefolgert worden, dass es nicht gegen Bundesrecht verstösst, wenn
eine Entmündigung (und gleich verhält es sich mit einem Entzug der elterlichen
Gewalt) nach Ablehnung durch die erste Instanz auf Rekurs hin von der
Oberbehörde ausgesprochen wird

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(BGE 50 II 423 ff.). Daraus ergibt sich weiter, dass es von Bundesrechts wegen
auch nicht zu beanstanden ist, wenn die auf dem Rekurswege angerufene
kantonale Oberbehörde ohne Rücksicht auf die unangefochtene örtliche
Zuständigkeit der ersten Instanz in der Sache selbst urteilt. Alsdann tritt an
die Stelle der erstinstanzlichen Verfügung der Rekursentscheid, und dieser
allein kann nun noch Gegenstand einer zivilrechtlichen Beschwerde bilden. Ist
aber nach dem Gesagten die Ausserachtlassung der Unzuständigkeit der ersten
Instanz kein Beschwerdegrund, und läset sich im Falle, der zu beurteilen ist,
auch nicht die Zuständigkeit der Rekursinstanz selbst bestreiten (wie hier, wo
der Regierungsrat des Kantons Luzern auf alle Fälle als Oberbehörde des
Wohnsitzkantons zur Entscheidung befugt war, was die Beschwerdeführerin denn
auch nicht bestreitet), so kann auf die Gerichtsstandsrüge nicht eingetreten
werden.