S. 339 / Nr. 51 Familienrecht (d)

BGE 59 II 339

51. Urteil der II. Zivilabteilung vom 9. November 1933 i. S. Kuratli gegen
Locher.


Seite: 339
Regeste:
Vaterschaftsprozess.
Bestätigung der Rechtsprechung, wonach der Streitwert der nicht auf
Standesfolgen gerichteten Vaterschaftsklage einer vermögensrechtlichen
Schätzung unterliegt. Bei der letztern sind die verlangten Unterhaltsbeiträge
zu kapitalisieren auf den Zeitpunkt des der Klageanhebung zunächstliegenden
(vergangenen oder künftigen) Geburstages des Kindes. Erw. 1.
Blutprobe als Beweismittel im Vaterschaftsprozess. Erw. 3.

A. - Mit Urteil vom 30. Mai 1933 hat das Obergericht des Kantons Zürich den
Beklagten als ausserehelichen Vater des von der Klägerin am 5. Dezember 1931
geborenen Knaben Ernst erklärt und ihn verpflichtet, der Klägerin 600 Fr. zu
bezahlen und an den Unterhalt des Knaben monatlich 50 Fr. beizutragen. Die
Begründung dieses Entscheides lässt sich wie folgt zusammenfassen: Der
Beklagte habe, obwohl er es zunächst bestritten habe, schliesslich zugeben
müssen, dass er die Klägerin mehrere Male im Hause ihrer Eltern aufgesucht
habe. Darüber hinaus habe das Beweisverfahren ergeben, dass er einmal in dem
auf die Fastnacht 1931 folgenden Monat, also innerhalb der kritischen Zeit,
eine Nacht mit ihr zusammen in der Wohnstube ihres Elternhauses geblieben sei
und zwar von ca. 11 Uhr nachts an allein. Die Gerichtspraxis sei immer davon
ausgegangen, dass dann, wenn Parteien eines Vaterschaftsprozesses in der Nacht
allein blieben, zumal wie hier von nachts 1 Uhr bis zum Morgen, anzunehmen
sei, es habe Geschlechtsverkehr stattgefunden. 23

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Es bestehe kein Grand, diese Schlussfolgerung im vorliegenden Fall nicht zu
ziehen. Die Einrede des unzüchtigen Lebenswandels der Klägerin habe der
Beklagte in zweiter Instanz nicht mehr ausdrücklich aufrecht erhalten; sie
wäre tatsächlich auch unbegründet gewesen. Es bleibe daher nur noch zu
erörtern, ob, nachdem sich gemäss dem sonstigen Beweisverfahren keinerlei
Zweifel an der Vaterschaft des Beklagten im Sinne von Art. 314 Abs. 2
SR 210 Schweizerisches Zivilgesetzbuch vom 10. Dezember 1907
ZGB Art. 314 - 1 Die Bestimmungen über das Verfahren vor der Erwachsenenschutzbehörde sind sinngemäss anwendbar.
1    Die Bestimmungen über das Verfahren vor der Erwachsenenschutzbehörde sind sinngemäss anwendbar.
2    Die Kindesschutzbehörde kann in geeigneten Fällen die Eltern zu einem Mediationsversuch auffordern.
3    Errichtet die Kindesschutzbehörde eine Beistandschaft, so hält sie im Entscheiddispositiv die Aufgaben des Beistandes und allfällige Beschränkungen der elterlichen Sorge fest.
ZGB
ergeben hätten, solche Zweifel anzunehmen seien mit Rücksicht auf das damit
nicht übereinstimmende Resultat der von der ersten Instanz erhobenen Blutprobe
(Gutachten des gerichtsmedizinischen Institutes der Universität Zürich, vom
12. August 1932: «Damit kann Kuratli nach den Erfahrungen, wie sie sowohl den
Theorien von Dungern-Hirszfeld, wie von Bernstein zu Grunde liegen, als Vater
des Kindes der Ida Locher nicht in Betracht kommen.») Das sei aber zu
verneinen, weil sich trotz nochmaliger einlässlicher Befragung der Klägerin
sonst keine Anhaltspunkte irgendwelcher Art dafür ergeben hätten, dass die
Klägerin in der kritischen Zeit mit andern Männern Geschlechtsverkehr gehabt
habe, und weil im übrigen die Blutuntersuchung infolge der Möglichkeit
bestehender Ausnahmen zum Ausschluss des Beklagten als Vater für sich allein
kein absolut taugliches Beweismittel sei. Der volle, jedes andere Beweismittel
ausschliessende Beweiswert der Blutprobe wäre vielmehr nur dann vorhanden,
wenn die Möglichkeit von Ausnahmen, auch wenn in noch so geringen
Prozentsätzen, überhaupt nicht bestehen würde, was aber beim heutigen Stand
der Blut- und Vererbungswissenschaft ebensowenig wie vor einigen Jahren der
Fall sei.
B. - Gegen dieses Urteil erklärte der Beklagte rechtzeitig die Berufung an das
Bundesgericht mit dem Antrag, die Klage abzuweisen. Er stellte sich dabei,
immerhin nicht ohne vorsorglich doch eine schriftliche Berufungsbegründung
einzureichen, auf den Standpunkt, dass das mündliche Berufungsverfahren
anzuordnen sei, weil der

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Vaterschaftsstreit vermögensrechtlicher Schätzung nicht unterliege, eventuell
weil der Barwert der eingeklagten Unterhaltsbeiträge auf den Zeitpunkt nicht
der Geburt des Kindes, sondern der Einreichung der Berufung oder doch des
angefochtenen Urteils zu berechnen sei und dann auf jeden Fall mit Einschluss
der Forderung der Klägerin 8000 Fr. übersteige.
Die Klägerschaft liess Abweisung der Berufung und Bestätigung des
angefochtenen Urteils beantragen.
Das Bundesgericht zieht in Erwägung:
1.- In seiner bisherigen Rechtsprechung (vgl. BGE 52 II 95) hat das
Bundesgericht stets in der nicht auf Standesfolgen gerichteten
Vaterschaftsklage vor allem eine Klage um die Unterhaltsbeiträge erblickt.
Dass das Urteil darüber hinaus noch gewisse Wirkungen hat (z. B. die vom
Berufungskläger in den Vordergrund gerückte Feststellung, dass die Mutter des
Kindes keinen unzüchtigen Lebenswandel geführt habe), lässt sich nicht
bestreiten; aber massgebend für die Streitwertberechnung sind nicht diese,
sondern ist das hauptsächliche Ziel der Klage.
Für die Ermittlung des Streitwertes bezw. für die dabei vorzunehmende
Kapitalisierung der verlangten Unterhaltsbeiträge ist sodann gemäss Art. 59
SR 210 Schweizerisches Zivilgesetzbuch vom 10. Dezember 1907
ZGB Art. 314 - 1 Die Bestimmungen über das Verfahren vor der Erwachsenenschutzbehörde sind sinngemäss anwendbar.
1    Die Bestimmungen über das Verfahren vor der Erwachsenenschutzbehörde sind sinngemäss anwendbar.
2    Die Kindesschutzbehörde kann in geeigneten Fällen die Eltern zu einem Mediationsversuch auffordern.
3    Errichtet die Kindesschutzbehörde eine Beistandschaft, so hält sie im Entscheiddispositiv die Aufgaben des Beistandes und allfällige Beschränkungen der elterlichen Sorge fest.
OG
nicht auf das Datum des angefochtenen Urteils (und noch weniger auf dasjenige
der Berufungserklärung) abzustellen, sondern auf den Tag der Klageanhebung
(BGE 48 II 413). Ob man nun schon die Anrufung des Friedensrichters (die hier
am 28. Januar 1932 erfolgte) oder erst die Einreichung der Weisung beim
Bezirksgericht (am 5. April 1932) als Klageanhebung zu betrachten hat, kann
dahingestellt bleiben; denn es ist kein Grund vorhanden, hier von der auch in
der schweizerischen Haftpflichtpraxis und in der privaten Lebensversicherung
bestehenden Übung abzugehen, den dem Zeitpunkt, auf welchen kapitalisiert
wird, nächstliegenden (vergangenen oder künftigen) Geburtstag des
Rentenbezügers als

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massgebend zu betrachten (vgl. PICCARD, Lebenserwartungs-, Barwert- und
Rententafeln, 3. A., S. 29 Ziff. 4), und im vorliegenden Fall liegen die
beiden in Betracht fallenden Daten (28. Januar 1932 und 5. April 1932) näher
beim ersten als beim zweiten Geburtstag. Auf den Tag der Geburt berechnet,
macht der Barwert der Rente hier 6835 Fr. aus und bleibt daher, auch wenn noch
die Leistungen an die Kindsmutter (500 Fr.) hinzugerechnet werden, unter dem
für das mündliche Berufungsverfahren erforderlichen Betrag von 8000 Fr.
Richtig ist, dass der Beklagte heute für den Ankauf einer den eingeklagten
Unterhaltsbeiträgen entsprechenden Rente einen höhern Betrag aufwenden muss,
weil sich inzwischen die Aussichten des Rentenbezügers, das 18. Altersjahr zu
erleben, vergrössert haben gegenüber dem Zeitpunkt der Geburt. Allein das ist
ohne Bedeutung für die Berechnung des Streitwertes, welche für den ganzen
Prozess im Moment der Klageanhebung zu erfolgen hat (BGE 48 II 414). Die
Gefahr einer solchen Erhöhung des Rentenbarwertes gehört zum Prozessrisiko,
das der Beklagte von vornherein auf sich genommen hat, als er sich der Klage
widersetzte.
2.- (Feststellung, dass der Beklagte während der kritischen Zeit mit der
Klägerin intimen Umgang hatte).
3.- Zur Begründung seiner Einrede aus Art. 314 Abs. 2
SR 210 Schweizerisches Zivilgesetzbuch vom 10. Dezember 1907
ZGB Art. 314 - 1 Die Bestimmungen über das Verfahren vor der Erwachsenenschutzbehörde sind sinngemäss anwendbar.
1    Die Bestimmungen über das Verfahren vor der Erwachsenenschutzbehörde sind sinngemäss anwendbar.
2    Die Kindesschutzbehörde kann in geeigneten Fällen die Eltern zu einem Mediationsversuch auffordern.
3    Errichtet die Kindesschutzbehörde eine Beistandschaft, so hält sie im Entscheiddispositiv die Aufgaben des Beistandes und allfällige Beschränkungen der elterlichen Sorge fest.
ZGB - nur diese wird
heute noch aufrecht erhalten - beruft sich der Beklagte einzig auf das
negative Ergebnis der Blutgruppenuntersuchung. Er ist der Auffassung, dass bei
der heutigen Zuverlässigkeit dieser Untersuchungsmethode dieses Ergebnis
genüge, um, wenn nicht die Vaterschaft mit absoluter Sicherheit
auszuschliessen, so doch erhebliche Zweifel im Sinne der genannten
Gesetzesstelle darzutun; denn es schliesse die Vaterschaft des Beklagten
mindestens mit einer an Sicherheit grenzenden Wahrscheinlichkeit aus.
Das Bundesgericht hat indessen bereits entschieden, dass dann, wenn keine
Anhaltspunkte für geschlechtliche Beziehungen der Klägerin mit andern
Mannspersonen

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während der kritischen Zeit nachgewiesen sind, der Beklagte die für seine
Vaterschaft sprechende Vermutung vielmehr lediglich auf Grund eines Gutachtens
über den Reifegrad des Kindes bei der Geburt entkräften will, ihm dies nach
dem Sinn und Geist des Art. 314 Abs. 2 nur dann gelingen kann, wenn eine
Zeugung durch den nachgewiesenen Geschlechtsverkehr vom Experten direkt als
ausgeschlossen bezeichnet wird (BGE 51 II 114 f.) Nicht anders kann es sich
verhalten, wenn sich der Beklagte durch eine Blutgruppenuntersuchung entlasten
will. Nun lautet im vorliegenden Fall das Gutachten allerdings dahin, dass der
Beklagte als Vater des Zweitklägers «nicht in Betracht falle», was offenbar
besagen will, dass der Experte die Vaterschaft des Beklagten als
ausgeschlossen betrachte. Allein die Vorinstanz hat sich hievon nicht
überzeugen lassen, sondern hält auf Grund einer Durchsicht der einschlägigen
Literatur dafür, die Methode der Blutgruppenuntersuchung biete heute noch
keine Gewähr dafür, dass Fehlergebnisse ganz ausgeschlossen seien. Diese
Stellungnahme der Vorinstanz zum Beweismittel der Blutprobe wäre nur dann für
das Bundesgericht Dicht verbindlich, wenn sie auf eine Verletzung
bundesrechtlicher Beweisvorschriften hinauslaufen würde (Art. 81
SR 210 Schweizerisches Zivilgesetzbuch vom 10. Dezember 1907
ZGB Art. 314 - 1 Die Bestimmungen über das Verfahren vor der Erwachsenenschutzbehörde sind sinngemäss anwendbar.
1    Die Bestimmungen über das Verfahren vor der Erwachsenenschutzbehörde sind sinngemäss anwendbar.
2    Die Kindesschutzbehörde kann in geeigneten Fällen die Eltern zu einem Mediationsversuch auffordern.
3    Errichtet die Kindesschutzbehörde eine Beistandschaft, so hält sie im Entscheiddispositiv die Aufgaben des Beistandes und allfällige Beschränkungen der elterlichen Sorge fest.
OG), und dies
wiederum wäre nur dann der Fall, wenn die absolute Zuverlässigkeit der
Ergebnisse einer Blutgruppenuntersuchung allgemein anerkannt wäre. Davon kann
aber heute noch keine Rede sein. Unter diesen Umständen ist dieses Gutachten
nicht geeignet, in der bundesgerichtlichen Instanz erhebliche Zweifel an der
Vaterschaft des Beklagten zu begründen.
Gegen die Höhe der ihm auferlegten Verpflichtungen hat der Beklagte keinerlei
Einwendungen erhoben.
Demnach erkennt das Bundesgericht
Die Berufung wird abgewiesen und das Urteil des Obergerichtes des Kantons
Zürich vom 30. Mai 1933 bestätigt.