S. 136 / Nr. 26 Internationales Auslieferungsrecht (d)

BGE 59 I 136

26. Urteil vom 20. Oktober 1933 i. S. Ockert.

Regeste:
Auslieferungsvertrag mit Deutschland. Begriff des Vergehens mit politischem
Charakter. Verweigerung der Auslieferung für einen Totschlag, der beim
gewalttätigen Kampf um die Macht im Staate erfolgt ist. Überprüfungsbefugnis
des Bundesgerichtes.

A. - Am 30. Juni 1933 hat das eidgenössische Justiz- und Polizeidepartement
die Akten betr. die Auslieferung

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des deutschen Staatsangehörigen Heinrich Ockert dem Bundesgericht zur
Entscheidung über das Auslieferungsbegehren übermittelt.
Der preussische Justizminister hat am 13. (April 1933 die Auslieferung des
Ockert wegen Totschlages (Art. 1 Ziff. 1 des schweizerisch-deutschen
Auslieferungsvertrages) gemäss einem beigelegten Haftbefehl des
Untersuchungsrichters III beim Landgericht Frankfurt a/M. vom 3. April
verlangt. Darin wird Ockert beschuldigt, in der Nacht vom 27./28. Februar 1933
in Frankfurt a/M. Höchst den Kraftwagenführer Josef Bleser vorsätzlich, aber
«nicht mit Überlegung» getötet und sich dadurch des Vergehens nach § 212 des
deutschen RStG schuldig gemacht zu haben. («Wer vorsätzlich einen Menschen
tötet, wird, wenn er die Tötung nicht mit Überlegung ausgeführt hat, wegen
Totschlages mit Zuchthaus nicht unter fünf Jahren bestraft»). Der Tatbestand
ist, ohne Anführung näherer Umstände, kurz wie folgt angegeben:
«Nach dem Stand der Beweisaufnahme hat Ockert den Bleser tätlich angegriffen,
ist daraufhin fortgelaufen und hat den ihn verfolgenden Bleser erschossen.»
B. - Ockert, der schon auf den dem. Auslieferungsbegehren vorangegangenen
Steckbrief hin am 29. März in Zürich verhaftet worden war, hat sich bei seinen
Einvernahmen durch das zürcherische Polizeikommando vom 29. März und 26. April
und durch Eingabe seines Verteidigers an das eidgenössische Justiz- und
Polizeidepartement zuhanden des Bundesgerichtes vom 6. Juni 1933 der
Auslieferung widersetzt. Er erklärt nicht zu wissen, ob Bleser wirklich durch
den von ihm, Ockert, abgegebenen Schuss getötet worden sei, seine Einsprache
jedoch weder hierauf noch auf den ihm zustehenden Strafausschliessungsgrund
der Notwehr stützen zu wollen, weil über beides das Bundesgericht nicht
entscheiden könne. Massgebend sei, dass jedenfalls ein politisches Vergehen
vorliege, für das die Auslieferung nicht stattfinden dürfe (was in der Eingabe
vom 6. Juni 1933 näher darzulegen unternommen wird).

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Der Vorfall selbst, auf den sich der Haftbefehl bezieht, ist von Ockert bei
den erwähnten Einvernahmen wie folgt dargestellt worden: Er sei Mitglied der
sozialdemokratischen Partei Deutschlands (SPD) und Sturmtruppführer (Führer
der Motorradstaffel Zug 1) bei der dieser Partei nahestehenden
Wehrorganisation, dem Reichsbanner gewesen. Den Abend des 27. Februar habe er
zusammen mit seiner Freundin Paula G. in einer Wirtschaft in Frankfurt
zugebracht und habe sie dann am 28. Februar etwa 1 Uhr morgens nach Höchst
heimbegleitet. Nachdem er sich dort von seiner Freundin getrennt und sich
durch die Königsteinerstrasse nach Frankfurt habe zurückbegeben wollen, habe
er plötzlich hinter sich fünf Gestalten bemerkt, die ihm nachgerufen hätten:
«da läuft die verfluchte Banane» (Schimpfwort für die Reichsbannerleute).
Davon sei einer ein uniformierter S. A.-(Sturmabteilungs-) Mann gewesen: auch
die übrigen hätten der nationalsozialistischen Partei angehört, wie er aus der
Kleidung (schwarze Lederhose und Gamasche) und aus ihren Abzeichen habe
schliessen können. Als er sich nach diesen Leuten umgedreht habe seien sie ihm
schon in einem Abstand von etwa 6 m gefolgt. In diesem Augenblick seien sie
auf ihn zugesprungen, wobei er wahrgenommen habe, dass sie mit Gummiknüppeln,
zwei überdies mit Pistolen bewaffnet gewesen seien, die sie schussbereit,
gegen ihn gerichtet, in der Hand gehalten hätten. Man habe ihm zugerufen
stehen zu bleiben. Da er schon früher (1930 und 1932) zweimal von
Nationalsozialisten derart misshandelt worden sei, dass er während einiger
Zeit die Arbeit habe aussetzen müssen, ferner mehrfach in die Lage gekommen
sei gegen S. A. -Männer zu zeugen und einige Wochen vorher einen solchen, der
in einen Demonstrationszug der Sozialisten in Höchst geschossen, der Polizei
übergeben habe, infolgedessen mit dem besondern Hass der Nationalsozialisten
habe rechnen müssen, habe er die Flucht ergriffen und sei in die nächste
Querstrasse gerannt. Als er einige Meter

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zurückgelegt habe, hätten Schüsse geknallt. Infolgedessen habe er sich an der
nächsten Strassenecke umgedreht und ebenfalls einen Schuss nach der Richtung
seiner Verfolger abgegeben, ohne zu zielen. Daraufhin sei es plötzlich still
geworden und er habe seine Flucht unbehelligt fortsetzen können. In Frankfurt
angekommen, habe er sich zuerst ins Haus seiner Eltern und dann nach dem
Gewerkschaftshaus begeben, wo man ihm gleichen Tages zur Flucht nach der
Schweiz verholfen habe.
Am 7. Juli 1933, nachdem die Angelegenheit bereits beim Bundesgericht hängig
war, hat der preussische Justizminister dem eidgenössischen Justiz- und
Polizeidepartement eine «Denkschrift», des Untersuchungsrichters III beim
Landgericht Frankfurt a/M. vom 3. Juli übersandt «mit der Bitte um
Auswertung».
Das Schriftstück gibt zunächst in einem 1. Teil eine den Haftbefehl ergänzende
und zum Teil - in der rechtlichen Qualifikation - auch von ihm, namentlich
aber von den Angaben des Angeschuldigten abweichende Darstellung des
Vorfalles, lautend:
«Der Kraftwagenführer Josef Bleser wurde am 28. II. 1933 vormittags 2.35 Uhr
in Frankfurt am Main-Höchst auf der Strasse durch einen linksseitigen
Bauchdurchschuss und einen Schuss in die linke Schläfe getötet. Der Täter,
Schreiner Heinrich Ockert... hat die Schüsse aus einer Selbstladepistole Kal.
7.65 mm abgegeben und mindestens fünf Mal geschossen.
Nach den bisherigen Ermittlungen ging Bleser mit 3 Bekannten durch die
Königsteinerstrasse. Sie wurden von Ockert und einem andern überholt. Ockert
musste unmittelbar an Bleser vorbei. Er hat bei dieser Gelegenheit ohne
Veranlassung die Hand zum Schlage gegen Bleser erhoben. Dieser ging ihm nach
und erreichte ihn Ecke Königsteinerstr.-Emmerich Josefstr. Hier versetzte
Ockert ihm einen Schlag mit der Hand und lief sofort durch die
Emmerich-Josefstr. fort. Bleser und seine 3 Bekannten verfolgten ihn. Bleser
war an der

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Spitze der Verfolgenden. Während des Laufens gab Ockert auf seine Verfolger 3
Schüsse ab. Er bog in die Kasinostrasse ein und schoss hier noch zwei Mal auf
Bleser, der nunmehr einige Meter hinter ihm war. Von diesen beiden Schüssen
ist Bleser tötlich getroffen worden.
Ockert hat einem Zeugen gegenüber erklärt, dass er 4 bis 5 Schüsse abgegeben
habe. An der Strassenecke habe er Halt gemacht, sich umgedreht, die Ecke als
Deckung benützt und von hier aus auf die Verfolger geschossen. Er behauptet,
dass auch diese geschossen hätten. Die Zeugen bestreiten diese Behauptung.
Anhaltspunkte hierfür sind nicht gegeben.
Ockert hat den Bleser vorsätzlich und mit Überlegung getötet, demnach einen
Mord begangen. Er hat auch nicht, wie er einem Zeugen gegenüber erklärte, in
Notwehr gehandelt. Dies träfe dann zu, wenn der Angriff des Bleser, d. h.
dessen Verfolgung rechtswidrig gewesen wäre. Die Rechtswidrigkeit ist zu
verneinen, da Bleser berechtigt war, Ockert, der ihn geschlagen hatte und nach
dem Schlage fortlief, nachzulaufen und ihn festzunehmen.»
Ein zweiter Teil des Memorials befasst sich mit der Einwendung des politischen
Vergehens. Das Vorliegen eines solchen wäre jedenfalls nach dem deutschen
Auslieferungsgesetze vom 23. Dezember 1929 ohne weiteres zu verneinen (was
näher dargelegt wird). Aber auch bei Zugrundelegung der Begriffsbestimmung von
Art. 10 des schweizerischen Auslieferungsgesetzes von 1892 und von Art. 4 des
Auslieferungsvertrages von 1874 komme man zu keinem andern Ergebnis. Freilich
sei Bleser Mitglied der nationalsozialistischen Partei gewesen, während Ockert
dem Reichsbanner, also einer sozialdemokratischen Organisation, angehören
solle. Ob sie sich gekannt hätten, stehe nicht fest. Am Abend der Tat seien
sie beide nicht in Uniform und als Parteimitglieder nicht zu erkennen gewesen.
Der Angeschuldigte könne daher von vorneherein keinen politischen Beweggrund
oder

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Zweck (Art. 10 des Auslieferungsgesetzes von 1892) vorschützen, da «die
Tatsache, dass Bleser und Ockert politische Gegner waren, weder vor noch bei
der Tat erkennbar hervorgetreten ist». Vielmehr könne er lediglich in der
Absicht gehandelt haben, seinen Verfolger unschädlich zu machen, obwohl dieser
ein Recht auf die Verfolgung gehabt habe. In den Urteilen in Sachen Bamberger
vom 25. März 1922 und Kaphengst (BGE 56 I S. 457 ff.) habe zudem das
Bundesgericht den Standpunkt vertreten, dass sich das Asylrecht auf Taten
beschränke, die zu einem bestimmten objektiven Tatbestande eines
Staatsvergehens in Beziehung stehen. Um wegen des politischen Zweckes und
Beweggrundes asylwürdig zu sein, müsse also das an sich gemeine Vergehen als
Teil des unmittelbaren, strafrechtlich zu wertenden politischen Kampfes selbst
erscheinen und so das in der Tat enthaltene gemeine Element davor zurücktreten
lassen. Nach diesen Grundsätzen könne aber der Tat des Ockert, selbst wenn er
in Bleser einen politischen Gegner erkannt haben sollte, doch politischer
Charakter nicht zuerkannt werden. Vielmehr stelle sie sich nicht bloss
vorwiegend, sondern ausschliesslich als ein Mord dar, begangen in der
rücksichtslosen Abwehr eines Menschen, den er vorher geschlagen hatte.
D. - Ockert ist zu dieser Denkschrift am 14. Juli durch das zürcherische
Polizeikommando einvernommen worden. Er hat dabei sowie durch Eingabe seines
Verteidigers vom gleichen Tage an dem Einspruch gegen die Auslieferung und im
wesentlichen auch an der oben unter B erwähnten Tatbestandsschilderung
festgehalten, mit den aus dem nachfolgend wiedergegebenen Verhörprotokoll sich
ergebenden Abweichungen:
«Ich erinnere mich ganz genau, dass Bleser am 28.2. 1933 ca. 2.30 h. zusammen
mit 4 andern Kameraden durch die Königsteinerstrasse, Richtung Frankfurt ging.
Es waren bestimmt mehr als drei Begleiter bei Bleser. Ich ging zusammen mit
meinem Kameraden (Namen),

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Angehöriger der Reichsbannerjugend, in der gleichen Richtung wie die Gruppe
Josef Bleser auf demselben Bürgersteig. Ich habe in meiner ersten Einvernahme
vom 26.4.33 diesen Zeugen nicht genannt, um ihn nicht in Unannehmlichkeiten
mit den deutschen Behörden zu bringen. Ich bestreite, an der Gruppe Bleser
vorbeigegangen zu sein; wir waren in einem Abstande von ca. 10 bis 15 m.
voraus. Ich bin weder gegen Bleser noch gegen einen seiner Begleiter tätlich
geworden. Erst als mir von hinten nachgerufen wurde: «Da geht die verfluchte
Banane», habe ich mich umgedreht und unter der Gruppe Bleser ein oder zwei
uniformierte S. A. -Leute erblickt. Sämtliche Kameraden des Bleser trugen
ausserdem am Rockaufschlag ein weisses Emaille-Schild, das Abzeichen der
NSDAP; ebenso hatten alle blaue Mützen mit Abzeichen an, die damals für S. A.
-Leute charakteristische Kopfbedeckung. Ich muss hier ausdrücklich
hervorheben, dass ich Bleser nicht erkannt habe als den mir von einer frühern
Schiesserei in Höchst her feindlich gesinnten politischen Gegner. Als ich mich
auf den vorerwähnten Zuruf hin umgedreht hatte, machte ich auch gleichzeitig
die Wahrnehmung, dass unsere Verfolger mit Waffen ausgerüstet waren; so habe
ich bestimmt eine Pistole und mehrere Gummiknüppel gesehen. Ein direkter
Zusammenstoss von mir und meinem Kameraden mit der Gruppe des Getöteten Bleser
hat nicht stattgefunden; ich bestreite, Bleser einen Schlag mit der Hand
versetzt zu haben; ich habe nicht einmal mit der Hand gedroht. Nachdem unsere
Verfolger mich beschimpft hatten, setzten sie mir auch sofort nach; als ich
merkte, dass sie mich einholen wollten, wandten wir uns sofort zur Flucht.
Sobald wir fort rannten - mein Begleiter geradeaus und ich links in eine
Seitenstrasse -, hörte ich hinter mir schiessen. Ich eilte zunächst weiter bis
an die nächstfolgende Strassenecke, und erst hier drehte ich mich um und
feuerte gegen meine Verfolger. Ich schoss blindlings zurück, ohne einen meiner
Verfolger

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speziell aufs Korn zu nehmen. Ich weiss nicht mehr, ob ich einen oder zwei
Schüsse abgefeuert habe, jedenfalls nicht . mehr. Wohin mein Kamerad
verschwunden ist, weiss ich nicht; ich habe ihn seither nicht wieder
gesehen.... Im übrigen verweise ich auf das in meiner Einvernahme vom 26.4.33
Gesagte. Ich bestreite, einem Zeugen gegenüber erklärt zu haben, 4 bis 5
Schüsse abgefeuert zu haben.»
11.- Gemäss Beschluss des Gerichtes vom 20. Juli 1933 ist dem Auszuliefernden
Gelegenheit gegeben worden, sein Beweismaterial zu der Einwendung des
politischen Charakters des Vergehens noch nach verschiedenen näher
bezeichneten Richtungen zu ergänzen. Mit Eingaben vom 19., 20. und 25.
September hat darauf sein Verteidiger eine Anzahl weiterer Beweisstücke, in
der Hauptsache Zeitungen oder Ausschnitte aus solchen und sonstige
Druckschriften, eingelegt und damit erläuternde Ausführungen verbunden.
F. - Das Gutachten der Bundesanwaltschaft vom 29. Juni 1933 geht dahin, es sei
die Auslieferung gestützt auf Art. 4 des Auslieferungsvertrages zu verweigern.
Das Bundesgericht zieht in Erwägung:
1.- Das Auslieferungsbegehren des preussischen Justizministers vom 13. April
1933 geht nur auf Auslieferung wegen Totschlages im Sinne von § 212 des
deutschen RStG entsprechend dem Haftbefehl vom 3. April. In der spätern
Denkschrift des Untersuchungsrichters III beim Landgericht Frankfurt a/M. wird
dann freilich die Tat als Mord qualifiziert, ohne dass indessen die unter
dieser Voraussetzung anwendbare «strafgesetzliche Bestimmung» angegeben würde,
wie es Art. 7 des Auslieferungsvertrages verlangt. Doch ist ein Begehren auf
dahingehende Ausdehnung der Auslieferung im Übermittlungsschreiben des
preussischen Justizministers vom 7. Juli nicht gestellt worden. In Betracht
kann daher schon aus diesem Grunde nur die Auslieferung wegen

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Totschlages kommen, weil dafür allein ein Antrag der auswärtigen Regierang
vorliegt.
2.- Der Totschlag ist (wie übrigens auch der Mord) nach Art. 1 Ziff. 1 des
Auslieferungsvertrages Auslieferungsvergehen. Es kann ferner nicht zweifelhaft
sein, dass das Handeln, welches dem Ockert im Haftbefehl als Totschlag nach §
212 RStG angerechnet wird, an sich die Voraussetzungen dieser Vorschrift
erfüllt und dass es auch in der Schweiz, nach dem Rechte des Zufluchtskantons
Zürich (StGB § 132) aus dem gleichen Gesichtspunkte strafbar wäre (ganz
abgesehen davon, dass nach § 1 Ziff. 10 des Auslieferungsvertrages die
Auslieferungspflicht ebenso schon bei vorsätzlicher Körperverletzung mit
tötlichem Ausgang, ohne Tötungsvorsatz (§ 133 des zürcherischen StGB), ja
infolge bestehender Gegenrechtserklärung (BGE 50 I S. 255) sogar schon bei
einfacher vorsätzlicher Körperverletzung, die eine Arbeitsunfähigkeit von
gewisser Dauer zur Folge gehabt hat, gegeben wäre). Mit der Schuldfrage und
folglich auch damit, ob Bleser wirklich durch die Schüsse des Auszuliefernden
getötet worden sei und ob allenfalls die Strafbarkeit der Tat wegen des
besonderen Strafausschliessungsgrundes erlaubter Notwehr entfalle, hat sich
der Auslieferungsrichter nach feststehender Rechtsprechung nicht zu befassen,
wie denn Ockert darauf verzichtet hat, seine Einsprache hierauf zu gründen.
Andererseits gilt die Bindung an den im Haftbefehl oder ihm gleichwertigen
Strafverfolgungsakt (Art. 7 des Auslieferungsvertrages) behaupteten Tatbestand
auch nur für die Entscheidung darüber, ob eine Verfolgung für eine Straftat
vorliege, welche die Merkmale eines der in der Liste der Auslieferungsdelikte
aufgezählten Vergehen erfüllt, nicht für die andere Frage des politischen
Charakters der Tat (Art. 4 des Auslieferungsvertrages). Insoweit steht dem
Bundesgericht die freie Beweiswürdigung zu. Es befindet demnach auch nach
freiem pflichtgemässem Ermessen darüber, inwiefern die vom Angeschuldigten für
diese Einwendung geltend

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gemachten Umstände nach den Akten als dargetan gelten können (BGE 33 I S. 188
und das Urteil Bamberger vom 25. März 1922 S. 13 Erw. 1 am Schlusse und S. 20
oben).
3.- Gleich den ähnlichen Klauseln anderer von der Schweiz abgeschlossener
Auslieferungsverträge kann auch der angeführte Art. 4 des
schweizerisch-deutschen Vertrages nicht den Sinn haben, vom
Auslieferungsverkehr nur die schlechthin politischen Vergehen (Hochverrat,
Landesverrat usw.) auszuschliessen, bei denen der Angriff auf den Staat und
dessen grundlegende Einrichtungen zum objektiven Talbestand gehört; inbezug
auf sie könnte eine Auslieferung ohnehin regelmässig nicht in Frage kommen,
weil sie in der Vergehensliste des Art. 1 des Vertrages keine Aufnahme
gefunden haben. Ebensowenig ist notwendig, dass die Handlung mit einem
bestimmten tatsächlich begangenen, sei es vollendeten oder doch versuchten
Vergehen jener Art in innerem Zusammenhang steht, darauf gerichtet war, dessen
Ausführung vorzubereiten (zu erleichtern), ihm den Erfolg zu sichern oder es
zu decken (seine Straflosigkeit zu vermitteln), worin der Begriff der mit
politischen Vergehen im engeren Sinne «konnexen Straftaten» wenigstens bisher
gewöhnlich erblickt worden ist (SCHWARZENBACH, Das materielle
Auslieferungsrecht der Schweiz S. 1 14; etwas weiter anscheinend gerade das
deutsche Auslieferungsgesetz von 1929 § 3, s. Kommentar v. METTGENBERG S.
226). Vielmehr fallen unter die Ausnahme, neben jenen konnexen Tatbeständen,
auch die sog. relativ-politischen Vergehen im weiteren Sinne überhaupt:
Handlungen, die zwar die Merkmale eines gemeinen in der Liste der
Auslieferungsdelikte aufgezählten Vergehens aufweisen, die aber infolge der
begleitenden Umstände, insbesondere ihres Beweggrundes und Zweckes, eine
vorwiegend politische Färbung erhalten. So ist denn auch die Bestimmung vom
Bundesgericht stets ausgelegt worden, nachdem schon der Bundesrat in seiner
Botschaft zum Vertrage (BBl. 1874 I S. 226) diese Auffassung als die dem
Vertragswillen

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entsprechende bezeichnet hatte. Auch die in der Denkschrift des
Untersuchungsrichters III beim Landgericht Frankfurt a/M. erwähnten Urteile
(in Sachen Bamberger vom 25. März 1922 und in Sachen Kaphengst BGE 56 I S.
457
) stehen auf keinem andern Boden. Es ist darin lediglich ausgesprochen
worden, dass Handlungen, die nicht in Beziehung zu einer unmittelbar auf die
Verwirklichung gewisser politischer Ziele gerichteten allgemeinen Aktion
stehen, dergestalt, dass sie als ein Bestandteil, Inzident derselben und damit
als Teil des politischen Kampfes selbst erscheinen, sondern die lediglich
terroristischen Zwecken, der Verbreitung von Furcht und Schrecken dienen
sollen, um dadurch die spätere Verwirklichung der betreffenden Forderungen,
den künftigen eigentlichen politischen Kampf zu erleichtern, auf den
Asylschutz keinen Anspruch erheben können. Eine Einschränkung auf Straftaten,
die mit einem konkreten tatsächlich ausgeführten Staatsvergehen (politischen
Delikte im engeren objektiven Sinne) konnex sind, ist nicht vorgenommen
worden. Sie wäre nicht vereinbar mit der weiteren, diese enge Begrenzung
unzweideutig ablehnenden Auslegung, welche die bundesgerichtliche Praxis unter
Berufung auf die feststehende schweizerische Rechtsanschauung von jeher sogar
den Bestimmungen derjenigen Auslieferungsverträge mit dem Auslande gegeben
hat, in denen nicht, wie im schweizerischdeutschen Vertrage, von Vergehen mit
politischem Charakter, sondern lediglich von «politischen Vergehen» die Rede
ist (s. für Italien 17 S. 455; 27 I S. 64; für Frankreich 54 I S. 211; für
Russland 32 I S. 538, Erw. 2; 33 I S. 187).
Im Falle Ragni (BGE 49 I S. 266), der den schweizerisch-italienischen Vertrag
betraf, ist auf Grund dieser Auffassung ein politisches Vergehen bei folgendem
Tatbestande angenommen worden: In der Ortschaft Cagli bei Pesaro war es am 28.
Februar 1922 zu einem Zusammenstoss zwischen einer Gruppe von Faszisten, die
sich

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zu Propagandazwecken dorthin begeben hatten, und Anhängern der gegnerischen
(Links-) Parteien gekommen, der in eine blutige Schlägerei ausgeartet war;
nachdem die auswärtigen Faszisten abgezogen waren, rotteten sich eine grössere
Anzahl ihrer Gegner nochmals zusammen, um sich des Vorstehers des Zollamtes
von Cagli und seines Gehilfen, die beide der faszistischen Partei angehörten,
zu bemächtigen und an ihnen Rache zu nehmen; als Steine, die gegen das Zollamt
geschleudert, und Schüsse, die gegen dasselbe abgegeben wurden, keinen Erfolg
hatten, wurde Feuer angelegt, was die beiden zwang, ins Freie zu flüchten, um
nicht zu ersticken; hier wurden sie ergriffen und geschlagen, bis man sie im
Glauben, sie seien tot, liegen liess. Der nach der Schweiz geflüchtete Ragni
hatte sich bei den Angriffen gegen das Gebäude und bei der Brandstiftung
beteiligt, ohne indessen nachher bei der Misshandlung der beiden Opfer aktiv
mitzuwirken. Er war deshalb durch das Gericht von Pesaro wegen Teilnahme am
Totschlagsversuch zu 9 Jahren Einsperrung verurteilt worden. Die Auslieferung
wurde verweigert, weil feststehe, dass sich in jener Zeit in Italien ein
allgemeiner Kampf zwischen der faszistischen Partei und den ihr feindlichen
Parteien um den Besitz der Macht im Staate («allo scopo die raggiungere il
potere») abgespielt habe, bei dem sich die politischen Gegner nicht nur mit
gesetzlichen Mitteln, sondern, die Waffen in der Hand, mit Gewalt
entgegengetreten seien. Dies lasse aber auch Ereignisse, wie sie sich am 28.
Februar 1922 in Cagli abspielten, nicht mehr als bloss zufällige
Streitigkeiten, hervorgegangen aus örtlichen oder rein persönlichen Gründen
(insbesondere individuellem Hass), sondern als Episoden, Inzidente jener
allgemeinen gewaltsamen politischen Bewegung und der mit ihr verbundenen
weitvertreiteten Störungen des Rechtsfriedens erscheinen, was genügen müsse,
um den dabei begangenen strafbaren Gewalttätigkeiten den politischen Charakter
zuzuerkennen. Für den allgemeinen Charakter dieser Störungen

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wurde dabei insbesonders auch auf das im Dezember 1922 erlassene königliche
Dekret mit Motivenbericht der Regierung Bezug genommen, das für alle aus
politischen Beweggründen begangenen Vergehen Amnestie gewährte, wenn die Tat,
selbst nur mittelbar, zu einem nationalen Zweck begangen worden war («quando
il fatto sia stato commesso per un fine nazionale immediato o mediato»). Dass
so diese Wohltat aus Gründen der inneren Politik nur den Anhängern der einen
Partei, nämlich der obsiegenden gewährt wurde, könne für den
Auslieferungsrichter nicht massgebend sein und ihn nicht dazu führen, den
dadurch grundsätzlich anerkannten politischen Charakter gleichen Straftaten
abzusprechen, welche unter denselben Umständen von Anhängern der gegnerischen
Parteien begangen wurden.
Im gleichen Sinne hat das Bundesgericht erkannt im Falle Camporini (Urteil vom
19. September 1924, BGE 50 I S. 299)... (folgen Ausführungen hierüber).
4.- Die Anwendung dieser Grundsätze, von denen abzugehen kein Anlass besteht,
muss aber auch hier zur Gutheissung der Einsprache gegen die Auslieferung
führen. Durch die Ernennung des Führers der nationalsozialistischen Bewegung
zum Reichskanzler und eines vorwiegend der gleichen Richtung angehörenden
Reichsministeriums war die vollziehende Gewalt im Reiche an den
Nationalsozialismus übergegangen. Noch blieb aber der Kampf um die Mehrheit in
der Volksvertretung, dem Reichstage. Mit Verordnungen des Reichspräsidenten
vom 1. Februar 1933 wurde der Reichstag wegen Unmöglichkeit der Bildung einer
arbeitsfähigen Mehrheit aufgelöst und die Neuwahl auf den 5. März angesetzt.
In der Zeit dieses Schlusskampfes um den Besitz der Macht im Staate zwischen
dem Nationalsozialismus einerseits, den ihm feindlichen Parteien, insbesondere
denjenigen der Linken andererseits ereignete sich der Vorfall, der dem
Auslieferungsbegehren gegen Ockert zu Grunde liegt. Schon seit geraumer Zeit
hatten sich die politischen Parteien nicht

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bloss als solche gegenübergestanden, sondern sich bewaffnete und militärisch
organisierte Formationen angegliedert. Neben die Sturmabteilungen (SA) und die
Schutzstaffeln (SS) der nationalsozialistischen Partei traten die bewaffneten
Verbände der Kommunisten und als unter dem massgebenden Einfluss der
sozialdemokratischen Partei Deutschlands stehende solche Organisation das
Reichsbanner (um von der Organisation der alten Frontkämpfer, dem «Stahlhelm»
nicht zu reden). Wenn die Entstehung derartiger einer politischen Partei
angegliederter und ihren Interessen dienstbarer militärähnlicher Verbände
schon an sich das Anzeichen einer ausserordentlichen Spannung der Geister,
Erbitterung im politischen Kampfe, bildet, so ist andererseits auch bereits
mit ihrer Existenz erfahrungsgemäss die Gefahr sozusagen notwendig verbunden,
dass dieser Kampf nicht mehr bloss mit den gesetzlichen Mitteln ausgefochten
wird, sondern in gewalttätige Auseinandersetzungen zwischen den Anhängern der
feindlichen Parteirichtungen, insbesondere den Angehörigen jener Wehrverbände
übergeht. Und es kann denn auch kein Zweifel darüber bestehen, dass diese
Folge tatsächlich hier in weitem Umfange, wenn schon nicht in allen Teilen des
Reiches in gleichem Masse, eintrat. Es genügt, dafür auf die lange Reihe von
Erlassen der Reichsregierung zur Bekämpfung «politischer Ausschreitungen» und
des Waffenmissbrauches zu verweisen, die mit ihren scharfen, zum Teil
drakonischen Strafbestimmungen gegen die Verwendung von Gewalt, insbesondere
Schuss- oder Sprengwaffen, im politischen Kampfe und der Aufzählung der dabei
insbesondere in Betracht kommenden Tatbestände nicht anders denn als Ausfluss
eines in seiner Gesamtheit dem Bürgerkrieg nicht unähnlichen Zustandes
(«situazione di fatto non dissimile da quella della guerra civile», BGE 49 I
S. 275
) verstanden werden können (s. insbesondere das Gesetz gegen
Waffenmissbrauch vom 28. März 1931 RGB I S. 77 und die Verordnung gegen den
politischen

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Terror vom 9. August 1932 RGB I S. 403, aber auch die Verordnungen zur
Bekämpfung politischer Ausschreitungen vom 28. März 1931 RGB I S. 79, zum
Schutze des inneren Friedens vom 8. Dezember 1931 RGB I S. 742, gegen
politische Ausschreitungen vom 14. Juni 1932 RGB I S. 297; ferner die
zusammenfassenden Erläuterungen zu diesen Erlassen in dem Aufsatz des
Ministerialrates HOCHE in der DJZ 1933 S. 138 ff., wo es u. a. heisst: «Die
Zuspitzung der innerpolitischen Gegensätze in den letzten Jahren äusserte sich
nicht mehr, wie in den Jahren nach 1918, in offenem Aufruhr. Die staatlichen
Machtmittel hatten sich inzwischen so gefestigt, dass solche Versuche von
vornherein zur Aussichtslosigkeit verurteilt gewesen wären.... Die jetzt
angewandten Methoden waren: masslose Verhetzungen in Presse und Versammlungen,
Überfälle auf politische Gegner, Bildung bewaffneter Organisationen und
Gewalttätigkeiten aller Art».) Am 20. Dezember 1932 (unter der Regierung
Schleicher) erging ein Gesetz über Straffreiheit für «Straftaten, die aus
politischen Beweggründen begangen worden sind» (RGB I S. 559), das trotz dem
Ausschlusse besonders schwerer Vergehen, wie insbesondere solcher mit
tötlichen Folgen und Sprengstoffvergehen, allein in Preussen bis zum 4. Januar
1933 die Freilassung von 6073 Personen zur Folge hatte (DJZ 1933 S. 196).
Gleichzeitig wurden durch die Verordnung zur Erhaltung des inneren Friedens
vom 19. Dezember 1932 RGB I S. 548 die bisher bestehenden Sondervorschriften -
wie es in der amtlichen Bekanntmachung zu dem Erlasse (DJZ 1933 S. 143) hiess
- versuchsweise zum grösseren Teile aufgehoben. Schon am 4. Februar 1933 sah
sich aber die neue Regierung veranlasst, wiederum eine Verordnung (zum Schutze
des deutschen Volkes) mit weitgehenden Eingriffen in das Versammlungsrecht und
Strafandrohungen gegen die Verwendung von Gewalt, insbesondere Waffen im
politischen Kampfe zu erlassen

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(RGB I S. 35 und dazu HOCHE in DJZ 1933 S. 257), der am 28. Februar eine
weitere noch bedeutend verschärfte folgte (zum Schutze von Staat und Volk RGB
I S. 83). Die bei den Akten liegenden unverdächtigen Zeitungsmeldungen lassen
denn auch erkennen, dass unter dem Einfluss der Wahlagitation und des damit
eingeleiteten Schlusskampfes um die Macht die gewaltsamen Zusammenstösse
zwischen den politischen Gegnern sich gerade in diesem Zeitabschnitte mehr
oder minder überall häuften.
Am 21. Februar 1933 berichtet die «Deutsche Allgemeine Zeitung» von vier
solchen Vorfällen, die sich allein am Sonntag 19. Februar in Berlin, Erfurt,
Doberau (Mecklenburg) und Chemnitz ereigneten und je 1 Todesopfer forderten (1
Nationalsozialisten, 2 Reichsbannerleute, 1 weitere Person, deren
Parteizugehörigkeit nicht angegeben wird, in Doberau überdies 11 durch Schüsse
Verwundete).
Der «Völkische Beobachter» vom 27. Februar erwähnt die Tötung zweier SA-Männer
durch Schüsse von Kommunisten in Köln, eines Reichsbannermanns im Streit mit
Nationalsozialisten in Flensburg, Bombenfunde bei Kommunisten in Thüringen und
Freiburg i. Br., ferner unter dem Titel «Der rote Mordterror wütet weiter» von
einem und demselben Tage aus Berlin die Verletzung zweier SA-Männer durch
Schüsse und Messerstiche von Kommunisten, die Beschiessung eines SS-Lokals und
von die Strasse passierenden SS-Leuten ebenfalls durch Kommunisten.
Insbesondere sind gerade auch für den hier vor allem in Betracht kommenden
Umkreis-Frankfurt und Umgebung - eine Reihe solcher Meldungen vorhanden.
Die «Frankfurter Zeitung» vom 20. Februar unterrichtet mit der Überschrift
«Politische Schlägereien» und der Einleitung «Die Reibe der blutigen
politischen Schlägereien ist in der Nacht zum Sonntag vermehrt worden» über 2
solche Zusammenstösse in Frankfurt: einen ersten zwischen Kommunisten und
Nationalsozialisten. bei dem

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4 Schüsse abgegeben und 1 Kommunist durch einen solchen schwer verletzt wurde,
und einen zweiten zwischen Angehörigen der gleichen Parteien mit
Kopfverletzung eines SA-Mannes durch Stockhiebe. Der Kommunist erlag der
Schussverletzung, daneben war, wie sich nachher herausstellte, noch ein
zweiter Kommunist durch einen Revolverschuss gefährlich verletzt worden
(«Frankfurter Zeitung» vom 21. Februar). Am 6. März, dem Wahltage, kam es in
Offenbach bei Frankfurt a/M. zu einem eigentlichen Treffen zwischen
Angehörigen des Reichsbanners und SA-Leuten, demgegenüber die Polizei zuerst
machtlos war und in dessen Verlauf 5 Reichsbannerleute durch Revolverschüsse
getroffen wurden, wovon 2 tötlich («Frankfurter Zeitung» vom 6. März.)
Alle Zweifel über den Umfang der mit dem Wahlkampf, wie schon vorher mit dem
politischen Machtkampf überhaupt Hand in Hand gehenden Gewalttätigkeiten hebt
der Amnestierlass des Reichspräsidenten, der am 21. März, 14 Tage nach dem für
den Nationalsozialismus und die ihm verbündeten Gruppen günstigen Ergebnis der
Reichstagswahlen erging (RGB I S. 134). Er gewährt, ohne den noch im
Straffreiheitsgesetz vom 20. Dezember 1932 vorgesehenen Ausschluss gewisser
besonders schwerer Taten, allgemein Straffreiheit, sowohl in Form des Erlasses
bereits rechtskräftig erkannter Strafen als der Niederschlagung hängiger
Strafverfahren «für Straftaten, die im Kampf für die nationale Erhebung des
deutschen Volkes, zu ihrer Vorbereitung oder im Kampfe für die deutsche
Scholle begangen worden sind.»
In der amtlichen Bekanntmachung zu diesem Erlasse (DJZ 1933 S. 470) heisst es:
«Die Reichsregierung ist bei dieser Verordnung von dem Gesichtspunkt
ausgegangen, dass der Kampf um die nationale Erhebung jetzt zu einem
sichtbaren Abschluss gelangt ist. In der Zeit der Kämpfe hat sich in dem
leidenschaftlichen Ringen um die Durchsetzung des nationalen Gedankens mancher
zu Handlungen hinreissen

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lassen, die gegen die Strafgesetze verstossen. Diese Zeit gehört der
Vergangenheit an. Der Reichskanzler hat in seinem Erlass vom 12. März jedem
weiteren Übergriff Halt geboten. Für die Zukunft kann das Reich gegen
Übertretungen der Gesetze, auf denen sein Bestand beruht, keine Milde walten
lassen. Für Verstösse der vergangenen Zeit, die aus bestem Wollen begangen
worden sind, kann es aber auf strafrechtliche Sühne verzichten in dem festen
Vertrauen, dass der Geist der Disziplin, an den der Reichskanzler appelliert
hat, die sicherste Grundlage für die Achtung vor dem Gesetze bildet.»
Der hier erwähnte Aufruf des Reichskanzlers an die «Parteigenossen, SA- und
SS-Männer» ist u. a. abgedruckt in Nr. 190 der «Frankfurter Zeitung» vom 11.
März; er warnt vor Einzelaktionen und enthält u. a. die folgende Stelle: «Mit
dem heutigen Tag hat in ganz Deutschland die nationale Regierung die
vollziehende Gewalt in den Händen. Damit wird der weitere Vollzug der
nationalen Erhebung ein von oben planmässig geleiteter sein. Nur dort, wo
diesen Anordnungen Widerstand entgegengesetzt wird, oder wo aus dem Hinterhalt
wie früher Angriffe auf einzelne Männer oder marschierende Kolonnen erfolgen,
ist dieser Widerstand sofort und gründlich zu brechen.» Auf Grund des
angeführten Amnestie-Erlasses oder in Voraussicht desselben meldete u. a. die
«Frankfurter Zeitung» vom 12. März aus Bayern die Freilassung des
Standartenführers B. und des Standartenadjudanten H., die wegen
Sprengstoffvergehens verurteilt worden waren, die ehrenwörtliche Beurlaubung
von 4 wegen Beteiligung an Bombenlegung in Rendsburg verurteilten Personen;
der «Frankfurter Generalanzeiger» vom 16. März die Freilassung der SA-Männer,
die am 22. August 1932 wegen Tötung des Kommunisten Pietrzuch in Potempa
(Schlesien) bestraft worden waren; das nationalsozialistische «Frankfurter
Volksblatt», vom 18. März neben andern Fällen die Niederschlagung des
Verfahrens gegen die Personen, die vor der Reichstagswahl

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vom 5. März den kommunistischen Landtagsabgeordneten Gerdes getötet hatten.
Am 22. Juli 1933 erfolgte sodann, im Anschluss an eine dem Sinne nach mit dem
Aufruf des Reichskanzlers vom März übereinstimmende Bekanntmachung, nochmals
ein Erlass des preussischen Ministerpräsidenten, der auf Grund der
Ermächtigung des Reichskanzlers vom 25. April bestimmte:
«1. Ich ermächtige den Justizminister das Gnadenrecht auch hinsichtlich der
noch nicht rechtskräftig entschiedenen, gerichtlich oder sonst anhängigen
Strafverfahren auszuüben, soweit der Beschuldigte die den Gegenstand dieser
Verfahren bildenden strafbaren Handlungen im Zusammenhang mit der
nationalsozialistischen Revolution zur Durchsetzung des
nationalsozialistischen Staates begangen hat.
2. Die Ermächtigung der Ziff. 1 erstreckt sich lediglich auf die vom
Inkrafttreten der Verordnung des Reichspräsidenten über die Gewährung von
Straffreiheit vom 21. 3. 1933 bis zum 15. Juli 1933 begangenen
Strafhandlungen.» («Völkischer Beobachter» vom 24. Juli 1933.)
Auch hier gilt, was schon im Falle Ragni ausgeführt wurde: Entscheidend ist
die aus diesen Amnestieerlassen und ihrer Begründung hervorgehende Tatsache
einer allgemeinen politischen Bewegung (eines Kampfes um die Macht im Staat),
in der sich die Gegner in weitem Umfange mit Gewalt entgegentreten und die
auch den in diesem Zusammenhang begangenen Gewaltakten zwischen solchen den
politischen Stempel aufdrückt. Dass intern aus diesem Grunde Straffreiheit nur
den betreffenden Vergehen einer Parteirichtung zuerkannt worden ist, kann für
den Auslieferungsrichter, der sich einzig an das Vorliegen einer Tat mit
politischem Charakter zu halten hat, nicht in Betracht kommen.
5.- In diesen Rahmen reiht sich aber auch das Ereignis vom 28. Februar 1933
ein, das den Gegenstand der Strafverfolgung gegen Ockert bildet.

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Schon der in der «Frankfurter Zeitung» vom 1. März 1933 und im
nationalsozialistischen «Frankfurter Volksblatt» vom gleichen Tage mitgeteilte
Polizeibericht lautet:
«In der Nacht zum Dienstag den 28. Februar gegen 3 Uhr wurde in Frankfurt a.M.
-Höchst in der Kasinostrasse der 33jährige Kraftwagenführer Josef Bleser von
bisher unbekannten Tätern erschossen... Als Täter kommt ein Angehöriger des
Reichsbanners oder der Eisernen Front in Frage, der in Begleitung eines
Reichsbannermannes war. Beschreibung des Täters: ... am linken Mantelaufschlag
hatte er ein Abzeichen, das drei Pfeile zeigt. Der Begleiter des Täters
ist.... er trug eine blaue Mütze mit einem grossen Schildabzeichen des
Reichsbanners, einen dunklen Mantel und schwarze Ledergamaschen.»
Das «Frankfurter Volksblatt» fügt dazu Einzelheiten bei, aus denen sich
ergibt, dass die in der Denkschrift des Untersuchungsrichters vom 3. Juli als
Bekannte bezeichneten Begleiter des Bleser waren: der SS-Scharführer Butzbach,
der SA-Mann Edelmann und der SA-Mann Ufenkamp; es berichtet: In der
Königsteinerstrasse... «tauchten zwei Zivilisten auf (der eine trug die
Reichsbannermütze, beide «Eiserne Front» Abzeichen). Der eine schlug auf
Bleser ein und lief davon. Darauf nahm Bleser die Verfolgung auf, die drei
Kameraden folgten. Einer der Reichsbannerleute zog den Revolver und gab
Schüsse ab, die fehlgingen... Bleser kam am Andreasplatz an den Schützen näher
heran. In etwa 20 Meter Entfernung zog der Mordbube wiederum die Pistole und
feuerte zwei Schüsse ab. Ohne einen Laut stürzte Bleser zusammen.» Dieselbe
Nummer des «Frankfurter Volksblatt» enthält überdies eine Anzahl Nachrufe und
Todesanzeigen, in denen von «Mordmethoden des Marxismus», «marxistischen
Mordbuben», einem «Opfer im Dienste des neuen Reichs», «politischen Gegnern,
die ihre Drohungen wahrgemacht haben», die Rede ist.

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Daraus geht zunächst unzweifelhaft hervor, dass Ockert von Bleser und dessen
Begleitern als politischer Gegner, Angehöriger des Reichsbanners oder der
Eisernen Front, erkannt worden war. Dasselbe muss aber auch für Ockert
hinsichtlich des Bleser und seiner Begleiter angenommen werden. Dass Bleser
selbst nach der Denkschrift keine Uniform trug, steht dem nicht entgegen. Denn
einmal schliesst es nicht aus, dass nicht wenigstens einzelne seiner Begleiter
uniformiert waren (wozu die Denkschrift sich nicht äussert); sodann konnte die
Parteizugehörigkeit auch ohne das aus andern Abzeichen sichtbar hervorgehen.
Dass die vier SS- und SA-Scharführer und -Männer auch solche Abzeichen nicht
getragen hätten, ist aber, zumal für jene Zeit, wenig wahrscheinlich. Es
bestehen daher umsoweniger Bedenken, den Angaben des Ockert in dieser
Beziehung Glauben zu schenken, als nur so, gerade wenn man im übrigen der
Darstellung der Denkschrift folgt, der ganze Vorfall überhaupt verständlich
wird. Auch die Denkschrift geht davon aus, dass sich Bleser und Ockert
persönlich nicht erkannt hätten. Das Tätlichwerden des Ockert gegen Bleser
(Handaufheben, Schlag mit der Hand) lässt sich daher, beim Fehlen irgend eines
anderen Motives, das dafür in Betracht kommen könnte, nur aus der Erkenntnis
erklären, einen politischen Gegner, Angehörigen der feindlichen
Wehrorganisation der nationalsozialistischen Partei, vor sich zu haben. Die
«Frankfurter Zeitung» vom 31. März 1933 meldet denn auch die Ermittlung des
Ockert als Täters wie folgt:
«Eine politische Bluttat aufgeklärt. In einer Februarnacht wurde im Stadtteil
Höchst das Mitglied der nationalsozialistischen Partei Josef Bleser im Verlauf
einer Auseinandersetzung von politischen Gegnern erschossen. Jetzt, ist es der
politischen Polizei gelungen, den Fall aufzuklären. Als Täter ist nach den
Ermittlungen der 20jährige Schreiner Heinrich Ockert festgestellt worden...»
Und auch die Äusserungen des nationalsozialistischen

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«Frankfurter Volksblatt» vom gleichen Tage können nicht wohl anders aufgefasst
werden. In der «Frankfurter Zeitung» vom 8. April 1933 und im Höchster
Kreisblatt vom 7. April ist ein Beileidschreiben des Führers der
nationalsozialistischen Bewegung an die Witwe des Erschossenen vom 29. März
abgedruckt, in dem es heisst:
«Von verschiedenen Reisen zurückgekehrt wird mir die Liste derjenigen
vorgelegt, welche neuerdings im Kampfe um die deutsche Zukunft ihr Leben
lassen mussten; unter ihnen befindet sich auch Josef Bleser.» (Eine
Ausdrucksweise, die kaum gewählt worden wäre, wenn es sich um einen rein
persönlichen Zusammenstoss und nicht um einen solchen zwischen politischen
Gegnern gehandelt hätte.) Ferner: «Jeder neue Tote soll uns Überlebende im
Willen stärken, das Ziel mit umso grösserer Entschlossenheit zu verfolgen, auf
dass die Opfer nicht umsonst gebracht wurden und ihre Namen einst genannt
werden als diejenigen, die ihr Leben gaben, damit ein neues und besseres
Deutschland erstehen konnte.» In beiden Blättern findet sich dazu der
einleitende Satz: «Die Witwe des von politischen Gegnern ermordeten...
SS-Scharführers Josef Bleser hat vom nationalsozialistischen Führer und
Reichskanzler... folgendes Schreiben erhalten». Das offizielle Programm des
nationalsozialistischen Gauparteitages Hessen-Nassau vom 23 und 24. September
1933 bringt auf S. 4 ein Verzeichnis «unserer im Dienst Gefallenen» unter
Angabe der Ursache oder des Urhebers des Todes; an 15. Stelle ist darin
aufgezählt «SS-Scharführer Josef Bleser 27/28 II 33» und als verantwortlich
«SPD» (d. h. sozialdemokratische Partei Deutschlands, s. ferner den Beschluss
der Frankfurter Stadtverordneten im «Städtischen Anzeigeblatt» vom 17. Juni
1933 betreffend Gewährung einer monatlichen Ehrenrente an die Witwe und Kinder
Bleser).
Damit erscheint aber auch die Tat, um die es sich hier handelt, selbst wenn
der Ablauf im übrigen der in der

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Denkschrift an Hand der bisherigen Untersuchungsergebnisse angegebene gewesen
sein sollte, als eine Episode, ein Inzident in dem grossen Kampfe um die
Macht, wie er damals zwischen der heute zum Siege gelangten Bewegung und den
gegnerischen Parteien unter weitgehender Zuhilfenahme von Gewalt, insbesondere
Anwendung von Schuss- und andern Waffen, ausgefochten wurde. Sie stellt sich
infolgedessen trotz der darin enthaltenen gemeinrechtlichen Elemente doch
überwiegend nicht als ein gemeines Vergehen, sondern als solches mit
politischem Charakter dar, für das nach Art. 4 des Auslieferungsvertrages die
Auslieferung nicht beansprucht werden kann. Ob Ockert dabei der angreifende
oder der angegriffene Teil gewesen sei, spielt keine entscheidende Rolle, weil
es an dem politischen Charakter des Zusammenstosses zwischen den beiden Teilen
nichts ändert. Es genügt auch hier an den oben (unter 3) erörterten Fall Ragni
zu erinnern, wo sich die beiden Opfer, zu deren Misshandlung Ragni Beihilfe
geleistet hatte, unzweifelhaft in der Rolle der Angegriffenen befunden hatten.
Immerhin mag bemerkt werden, dass von einem Vorbedacht inbezug auf die Abgabe
der Schüsse gegen Bleser - wenigstens in dem Sinne, wie dieser Begriff bisher
aufgefasst zu werden pflegte - selbst nach der Tatbestandsdarstellung der
Denkschrift offenbar nicht gesprochen werden kann. Wäre es von vornherein die
Absicht des Ockert gewesen, seine Gegner mit der Schusswaffe anzugreifen, so
würde er sofort geschossen und nicht erst dem Bleser einen Schlag mit der Hand
versetzt haben, um sich dann zur Flucht zu wenden und während derselben die
Schüsse abzugeben.
6.- Die Auslieferung ist deshalb abzulehnen.
Demnach erkennt das Bundesgericht:
Die Einsprache Ockerts gegen seine Auslieferung an Deutschland wird
gutgeheissen. Die Auslieferung hat demnach nicht stattzufinden