S. 127 / Nr. 20 Familienrecht (d)

BGE 57 II 127

20. Auszug aus dem Urteil der II. Zivilabteilung vom 5. März 1931 i. S. Sauter
gegen Huber.

Regeste:
Verantwortlichkeit des Familienhauptes gemäss Art. 333
SR 210 Schweizerisches Zivilgesetzbuch vom 10. Dezember 1907
ZGB Art. 333 - 1 Verursacht ein Hausgenosse, der minderjährig oder geistig behindert ist, unter umfassender Beistandschaft steht oder an einer psychischen Störung leidet, einen Schaden, so ist das Familienhaupt dafür haftbar, insofern es nicht darzutun vermag, dass es das übliche und durch die Umstände gebotene Mass von Sorgfalt in der Beaufsichtigung beobachtet hat.469
1    Verursacht ein Hausgenosse, der minderjährig oder geistig behindert ist, unter umfassender Beistandschaft steht oder an einer psychischen Störung leidet, einen Schaden, so ist das Familienhaupt dafür haftbar, insofern es nicht darzutun vermag, dass es das übliche und durch die Umstände gebotene Mass von Sorgfalt in der Beaufsichtigung beobachtet hat.469
2    Das Familienhaupt ist verpflichtet, dafür zu sorgen, dass aus dem Zustand eines Hausgenossen mit einer geistigen Behinderung oder einer psychischen Störung weder für diesen selbst noch für andere Gefahr oder Schaden erwächst.470
3    Nötigenfalls soll es bei der zuständigen Behörde zwecks Anordnung der erforderlichen Vorkehrungen Anzeige machen.
ZGB: Spiel von
8-jährigen Knaben mit selbstangefertigten Pfeil und Bogen und Verletzung eines
Knaben am Auge durch einen Pfeilschuss:

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Ein Ortsgebrauch, Knaben im genannten Alter bei diesem Spiel nicht zu
überwachen, ist keine Unsitte, wenn die Spielgeräte harmlos sind (Erw. 2).
Keine Haftung des Familienhauptes aus einer Unterlassung, die tatsächlich
nicht kausal war für den eingetretenen Schaden (Erw. 2 i. f.).
Beweislast des Klägers dafür, dass bestimmte Umstände eine aussergewöhnliche
Beaufsichtigung des Schadenstifters erforderlich machten (Erw. 3).
Unzulässig, die Aufsichtspflicht der Eltern so weit zu spannen, dass überhaupt
jede Schadenstiftung durch Gewaltunterworfene verhütet werde (Erw. 3 i. f.).

Tatbestand (gekürzt):
Im Oktober 1928 schossen der 8-jährige Sohn des Beklagten, Kaspar Huber, und
ein Altersgenosse mit einem selbstverfertigten Pfeil (bestehend aus
Schilfrohr, dessen vorderes Ende in das Mark eines Holunderästchens gesteckt
war) und Bogen (bestehend aus einer Weiden- oder Haselnussrute und einer
Schnur) auf eine Scheibe. Der gleichaltrige Sohn des Klägers, Heini Suter,
gesellte sich zu ihnen und zeigte die Treffer, wozu er sich direkt neben der
Scheibe aufstellte und dort auch während des Zielens der Schützen verblieb.
Dabei wurde er von einem von Kaspar Huber abgeschossenen Pfeil ins linke Auge
getroffen mit der Folge, dass das Auge seine Sehkraft zwar nicht vollständig
einbüsste, aber kein plastisches Sehen mehr ermöglicht.
Mit der vorliegenden Klage belangt der Vater des Verletzten den Vater des
Schützen auf Schadenersatz (Heilungskosten und Ersatz für künftige
Erwerbseinbusse) in der Höhe von 5000 Fr.
Der Beklagte anerkennt, dass die Verletzung durch einen Pfeilschuss seines
Sohnes hervorgerufen wurde und die vom Experten festgestellten Folgen hatte,
bestreitet dagegen seine Verantwortlichkeit für den eingetretenen Schaden, da
er das übliche und durch die Umstände gebotene Mass von Sorgfalt in der
Beaufsichtigung seines Sohnes beobachtet habe.

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Die Klage wurde vom Obergericht des Kantons Thurgau abgewiesen. Auf Berufung
des Klägers hin bestätigte das Bundesgericht diesen Entscheid aus folgenden
Erwägungen:
1. - Der Beklagte hat für die Folgen des Verhaltens seines minderjährigen
Sohnes gemäss Art. 333
SR 210 Schweizerisches Zivilgesetzbuch vom 10. Dezember 1907
ZGB Art. 333 - 1 Verursacht ein Hausgenosse, der minderjährig oder geistig behindert ist, unter umfassender Beistandschaft steht oder an einer psychischen Störung leidet, einen Schaden, so ist das Familienhaupt dafür haftbar, insofern es nicht darzutun vermag, dass es das übliche und durch die Umstände gebotene Mass von Sorgfalt in der Beaufsichtigung beobachtet hat.469
1    Verursacht ein Hausgenosse, der minderjährig oder geistig behindert ist, unter umfassender Beistandschaft steht oder an einer psychischen Störung leidet, einen Schaden, so ist das Familienhaupt dafür haftbar, insofern es nicht darzutun vermag, dass es das übliche und durch die Umstände gebotene Mass von Sorgfalt in der Beaufsichtigung beobachtet hat.469
2    Das Familienhaupt ist verpflichtet, dafür zu sorgen, dass aus dem Zustand eines Hausgenossen mit einer geistigen Behinderung oder einer psychischen Störung weder für diesen selbst noch für andere Gefahr oder Schaden erwächst.470
3    Nötigenfalls soll es bei der zuständigen Behörde zwecks Anordnung der erforderlichen Vorkehrungen Anzeige machen.
ZGB dann einzustehen, wenn er nicht das übliche und
durch die Umstände gebotene Mass von Sorgfalt in der Beaufsichtigung des
Knaben beobachtet hat. Ob ihm in dieser Beziehung ein Vorwurf gemacht werden
kann, lässt sich, wie das Bundesgericht schon wiederholt entschieden hat, nur
an Hand der Verumständungen des konkreten Falles beurteilen, wobei
insbesondere die lokalen Gewohnheiten, das Alter und der Charakter des
Schadensstifters im allgemeinen und die Art und Weise, wie, d. h. mit welchen
Instrumenten der Schaden verursacht wurde, von Bedeutung sind (vgl. BGE 52 II
328
; 38 II 472; 39 II 740 und dortige Zitate).
Auf Grund der Feststellungen der Vorinstanz muss davon ausgegangen werden,
dass man es bei jenem Pfeil und Bogen mit an sich harmlosen Geräten zu tun
hat, welche ein Lebewesen nur verletzen können, wenn der Pfeil ihm gerade ins
Auge fliegt. Ob der Bogen aus einer Weiden- oder einer Haselrute angefertigt
war, ist unerheblich, weil die Verletzung durch den Pfeil verursacht wurde und
auch ein von einem Haselnussbogen abgeschossener Pfeil trotz seiner vielleicht
etwas grösseren Wucht ebensowenig wie der von einem Weidenbogen abgeschnellte
Pfeil eine Verletzung zuzufügen vermag, wenn er nicht gerade ins offene Auge
trifft. Derartige selbstangefertigte Geräte können nicht als Waffen, sondern
nur als Spielsachen betrachtet werden (womit sich auch die Berufung des
Klägers auf den Entscheid BGE 43 II 146 als verfehlt erweist). Daran ändert es
nichts, dass auch mit ihnen Verletzungen hervorgerufen werden können; dies ist
schliesslich fast mit jedem

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Spielgerät möglich, wenn es nicht bestimmungsgemäss verwendet wird. - Mit
solchem Pfeil und Bogen wird nun üblicherweise nur auf tote Ziele
«geschossen», namentlich auf Scheiben, wie das ja auch im vorliegenden Fall
geschehen ist, und unter dieser Voraussetzung sind sie von der Vorinstanz mit
Recht als harmlos bezeichnet worden.
2. - Knaben im Alter von zirka 8 Jahren beim Spiel mit Pfeil und Bogen zu
überwachen, ist nach der für das Bundesgericht verbindlichen Feststellung der
Vorinstanz weder in der Gegend von Uesslingen noch anderswo üblich. Diese
Gepflogenheit kann angesichts der beschriebenen Ungefährlichkeit der Geräte
auch nicht als Unsitte bezeichnet werden. Ob das Familienhaupt unter solchen
Umständen nicht wenigstens gehalten sei, dem Gewaltunterworfenen ausdrücklich
das Zielen auf Menschen zu verbieten, kann dahingestellt bleiben; denn auch
wenn diese Frage bejaht würde und festgestellt wäre, dass der Beklagte seinem
Sohn keine derartigen Instruktionen erteilt hat, so wäre damit dem Kläger
deswegen noch nicht geholfen, weil diese Unterlassung im vorliegenden Falle
nicht als kausal für den Unfall betrachtet werden könnte; denn auf Grund der
Akten muss angenommen werden, dass der Unfall sich nicht ereignete, weil der
Schütze auf den Sohn des Klägers zielte, sondern weil der letztere, während
der Sohn des Beklagten bereits auf die Scheibe zielte, durch eigene
Unvorsichtigkeit seinen Kopf in den Bereich des Pfeiles brachte, obwohl er von
den Schiessenden aufgefordert worden war, von der Scheibe wegzutreten. Der
Kläger macht allerdings unter Berufung auf das Zeugnis der Frau Schwarz
geltend, der Sohn des Beklagten sei «eher eine boshafte Natur», denn nach
diesem Zeugnis habe der mitspielende Albert Schwarz zur Zeugin gesagt, «Kaspar
Huber hätte die Scheibe schon getroffen, wenn er hätte wollen», womit er
offenbar behaupten will, der Sohn des Beklagten habe nicht auf die Scheibe,
sondern auf Heini Sauter gezielt. Allein selbst wenn man dieses Zeugnis der
Frau Schwarz als

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glaubwürdig betrachten wollte, so könnte doch die darin wiedergegebene Aussage
des Albert Schwarz nicht als Beweis für eine absichtliche Handlung des
Schützen gelten, weil in keiner Weise ersichtlich ist, auf was für Tatumstände
Albert Schwarz seine Auffassung von jenem Hergang stützt und er im Gegenteil
nicht einmal sagen konnte, ob Huber den Bogen schon gespannt hatte, als dem
Heini Sauter zugerufen wurde, er solle von der Scheibe wegtreten.
Muss daher angenommen werden, dass Huber nicht auf Sauter gezielt hat, dass
der Schuss vielmehr auf die Scheibe abgegeben und Sauter überdies noch
unmittelbar vor dem Schuss zum Wegtreten aufgefordert wurde, so folgt daraus,
dass der allfällige Mangel einer ausdrücklichen Weisung, nicht auf Menschen zu
zielen, für den Eintritt des Schadens nicht ursächlich war, was zur Entlastung
des Beklagten genügt.
3. - Fragen kann sich daher nur noch, ob nicht besondere Umstände-nach der
Auffassung des Klägers: der bösartige Charakter seines Knaben - den Beklagten
hätten veranlassen müssen, die Verwendung von Pfeil und Bogen durch seinen
Sohn zu überwachen. Auch dies muss indessen verneint werden:
Mit Recht hat die Vorinstanz den Kläger beweispflichtig für das Vorliegen
besonders gefährlicher Anlagen des jungen Huber erklärt. Der Beklagte hat
lediglich nachzuweisen, dass er die den Umständen angemessene Aufsicht
ausgeübt habe. Dass die Umstände des Falles eine aussergewöhnliche Aufsicht
erforderten, wird nicht vermutet und ist daher von dem zu beweisen, der daraus
Rechte herleitet (Art. 8
SR 210 Schweizerisches Zivilgesetzbuch vom 10. Dezember 1907
ZGB Art. 8 - Wo das Gesetz es nicht anders bestimmt, hat derjenige das Vorhandensein einer behaupteten Tatsache zu beweisen, der aus ihr Rechte ableitet.
ZGB). Diesen Beweis hat nun der Kläger nicht
erbracht: Er führt zwar in der Berufungsbegründung aus, es könne keine Rede
davon sein, dass der Beklagte die Behauptung des Klägers, sein Sohn habe schon
beim Jägerspiel vor dem Scheibenschiessen mit Pfeil und Bogen auf andere
Kinder geschossen, widerlegt habe. Dabei verkennt er aber offensichtlich die
Verteilung der

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Beweislast; der Beklagte hatte hier nur einen Gegenbeweis zu leisten, dessen
Scheitern den Kläger noch nicht von der Führung des ihm obliegenden
Hauptbeweises entbindet. Wenn nun die Vorinstanz auf Grund der Aussagen der
Eheleute Schwarz annimmt, die Behauptung des Klägers treffe nicht zu, und von
der Einvernahme der vom Kläger angerufenen Zeugen absieht, so liegt darin eine
nicht gegen Bundesrecht verstossende antezipierte Beweiswürdigung, gegen
welche vor Bundesgericht nicht aufzukommen ist. Und wenn die Vorinstanz
erklärt, es fehle an einer genügenden Konkretisierung des Vorwurfs, der Sohn
des Beklagten sei ungezogen und für seine Kameraden gefährlich, obwohl der
Kläger den Beweis dafür angeboten hat, dass der junge Huber den Sohn des
Klägers kurz vor dem Unfalltag mit einer Armbrust verfolgt habe, so kann darin
keineswegs eine Rechtsverweigerung erblickt werden. Dass der Vorwurf der
Ungezogenheit und Gefährlichkeit für sich allein, ohne Nachweis bestimmter
Indizien, nicht genügt, wird offenbar auch vom Kläger vorausgesetzt.
Selbstverständlich ist, dass dabei nur schlüssige Indizien in Betracht kommen,
Der Auffassung der Vorinstanz, dass ein blosses einmaliges «Verfolgen» - sogar
mit einer Armbrust - nicht schlüssig auf einen bösartigen Charakter hinweise,
kann aber ohne Bedenken beigetreten werden. Andere Vorkommnisse hat der Kläger
in dieser Beziehung im kantonalen Verfahren nicht geltend gemacht.
Im weitern will der Kläger aus dem Unfallereignis selbst Schlüsse auf den
Charakter des Knaben Huber ziehen insofern, als der Umstand, dass der Junge
absichtlich auf Heini Sauter geschossen habe, «eine boshafte Natur»,
offenbare, und als dabei eventuell zum Mindesten eine grosse Unvorsichtigkeit
des Knaben zu Tage getreten sei. Ein Beweis für einen absichtlichen Schuss des
Sohnes des Beklagten auf Heini Sauter ist jedoch, wie schon in Erwägung 2
ausgeführt wurde, nicht erbracht. Dass er unvorsichtig gehandelt hat, lässt
sich nicht bestreiten.

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Allein es kann angesichts des Alters des Knaben keine Rede davon sein, dass
diese Unvorsichtigkeit dermassen gravierend war, dass daraus auf ein besonders
überwachungsbedürftiges Wesen des Knaben geschlossen werden müsste. Mit einem
gewissen Mangel an Vorsicht muss bei Kindern immer gerechnet werden, ohne dass
aber deswegen die Aufsichtspflicht des Familienhauptes soweit gespannt werden
dürfte, dass jeglicher Schaden verhütet werden müsse. Dies stünde mit den
Gewohnheiten und Notwendigkeiten des täglichen Lebens im Widerspruch. Im
vorliegenden Fall konnte übrigens das unbedachte Verhalten des jungen Huber
nur deswegen zu einem Schaden führen, weil der Geschädigte selber sich eine
noch erheblich gröbere Unvorsichtigkeit zu schulden kommen liess, indem er
sich auch während des Schiessens, nicht nur jeweilen zum Zeigen, direkt neben
der Scheibe aufstellte und sogar trotz der Aufforderung, wegzutreten, dort
stehen blieb. Dass der Beklagte eine derartige Situation nicht voraussah und
ihr vorzubeugen suchte, kann ihm nicht als Verletzung der durch die Umstände
gebotenen Sorgfalt in der Beaufsichtigung angerechnet werden.