Urteilskopf

138 III 411

61. Auszug aus dem Urteil der I. zivilrechtlichen Abteilung i.S. A. gegen X. AG (Beschwerde in Zivilsachen) 4A_24/2012 vom 30. Mai 2012

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Erwägungen ab Seite 412

BGE 138 III 411 S. 412

Aus den Erwägungen:

3.

3.1 Die Geltung vorformulierter allgemeiner Geschäftsbedingungen wird gemäss der Rechtsprechung durch die Ungewöhnlichkeitsregel eingeschränkt. Danach sind von der global erklärten Zustimmung zu allgemeinen Vertragsbedingungen alle ungewöhnlichen Klauseln ausgenommen, auf deren Vorhandensein die schwächere oder weniger geschäftserfahrene Partei nicht gesondert aufmerksam gemacht worden ist. Der Verfasser von allgemeinen Geschäftsbedingungen muss nach dem Vertrauensgrundsatz davon ausgehen, dass ein unerfahrener Vertragspartner ungewöhnlichen Klauseln nicht zustimmt. Die Ungewöhnlichkeit beurteilt sich aus der Sicht des Zustimmenden im Zeitpunkt des Vertragsabschlusses. Für einen Branchenfremden können deshalb auch branchenübliche Klauseln ungewöhnlich sein. Die Ungewöhnlichkeitsregel kommt jedoch nur dann zur Anwendung, wenn neben der subjektiven Voraussetzung des Fehlens von Branchenerfahrung die betreffende Klausel
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objektiv beurteilt einen geschäftsfremden Inhalt aufweist. Dies ist dann zu bejahen, wenn sie zu einer wesentlichen Änderung des Vertragscharakters führt oder in erheblichem Masse aus dem gesetzlichen Rahmen des Vertragstypus fällt. Je stärker eine Klausel die Rechtsstellung des Vertragspartners beeinträchtigt, desto eher ist sie als ungewöhnlich zu qualifizieren (BGE 135 III 1 E. 2.1 S. 7, BGE 135 III 225 E. 1.3 S. 227 f.; je mit Hinweisen). Bei Versicherungsverträgen sind die berechtigten Deckungserwartungen zu berücksichtigen (vgl. Urteil 4A_187/2007 vom 9. Mai 2008 E. 5.4.2). Entsprechend wurde eine in allgemeinen Versicherungsbedingungen vorgesehene Haftungsbeschränkung als ungewöhnlich qualifiziert, welche die von der Bezeichnung des Vertrages erfasste Deckung erheblich reduzierte, so dass gerade die häufigsten Risiken nicht mehr gedeckt waren (Urteil 5C.134/2004 vom 1. Oktober 2004 E. 4.2). Die Ungewöhnlichkeit einer Klausel kann auch bejaht werden, wenn sie eine Ungleichbehandlung ohne sachlichen Grund vorsieht (vgl. Urteil 9C_3/2010 vom 31. März 2010 E. 3.1, nicht publ. in: BGE 136 V 127).
3.2 Im kantonalen Verfahren machte der Beschwerdeführer geltend, die in Ziff. 2.2 Abs. 3 Satz 1 des Merkblattes zum Rahmenvertrag Nr. 1180 vorgesehene Leistungsreduktion bei psychischen Krankheiten verstosse gegen die Ungewöhnlichkeitsregel. Die Vorinstanz erwog dazu, die Ungleichbehandlung körperlicher und psychischer Krankheiten nach dem Bundesgesetz vom 2. April 1908 über den Versicherungsvertrag (VVG; SR 221.229.1) sei in der Schweiz nicht sehr verbreitet. In objektiver Hinsicht sei die zur Diskussion stehende Regelung daher zumindest als "nicht gerade gewöhnlich" zu beurteilen. In einem anderen Fall habe die Vorinstanz bezüglich einer solchen Regelung die subjektive Ungewöhnlichkeit verneint, weil die versicherte Person selber Mitarbeiterin bei einer Krankenkasse gewesen sei. Der Beschwerdeführer gehöre zwar nicht der Versicherungsbranche an, verfüge jedoch als Zahnmediziner mit Erstausbildung als Arzt über einen überdurchschnittlichen Bildungsgrad. Zudem seien Mediziner in ihrem Beruf immer wieder mit Krankenversicherungen konfrontiert, weil sie ihre Patienten darüber informieren müssten, ob eine bestimmte Leistung von der Krankenkasse übernommen werde. Unter diesen Umständen sei die zur Diskussion stehende Regelung jedenfalls für den Beschwerdeführer persönlich nicht als ungewöhnlich zu beurteilen, weshalb sie anwendbar sei.
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3.3 Der Beschwerdeführer ist der Meinung, die Vorinstanz habe die objektive Ungewöhnlichkeit zu Recht bejaht, da die Benachteiligung von psychisch gegenüber körperlich kranken Personen bei der Krankentaggeldversicherung diskriminierend sei. Dagegen habe die Vorinstanz die subjektive Ungewöhnlichkeit zu Unrecht verneint. Im Gegensatz zu einer Mitarbeiterin bei einer Krankenkasse befasse sich der Beschwerdeführer als Zahnarzt in seinem Berufsalltag nicht mit Krankenkassen, da er seine Leistungen den Patienten regelmässig privat in Rechnung stelle. Selbst Humanmediziner, welche im Beruf mit Krankenversicherungen konfrontiert seien, würden sich bezüglich der Krankentaggeldversicherung nicht speziell auskennen. Demnach sei im vorliegenden Fall auch die subjektive Ungewöhnlichkeit zu bejahen.
3.4 Das Bundesgericht prüft die Anwendung der Ungewöhnlichkeitsregel - gleich wie die Anwendung anderer Auslegungsgrundsätze - als Rechtsfragen frei (BGE 133 III 607 E. 2.2 S. 610). Es ist dabei an die Feststellungen der kantonalen Gerichte über die äusseren Umstände sowie das Wissen und Wollen der Beteiligten grundsätzlich gebunden (Art. 105 Abs. 1
SR 173.110 Bundesgesetz vom 17. Juni 2005 über das Bundesgericht (Bundesgerichtsgesetz, BGG) - Bundesgerichtsgesetz
BGG Art. 105 Massgebender Sachverhalt - 1 Das Bundesgericht legt seinem Urteil den Sachverhalt zugrunde, den die Vorinstanz festgestellt hat.
1    Das Bundesgericht legt seinem Urteil den Sachverhalt zugrunde, den die Vorinstanz festgestellt hat.
2    Es kann die Sachverhaltsfeststellung der Vorinstanz von Amtes wegen berichtigen oder ergänzen, wenn sie offensichtlich unrichtig ist oder auf einer Rechtsverletzung im Sinne von Artikel 95 beruht.
3    Richtet sich die Beschwerde gegen einen Entscheid über die Zusprechung oder Verweigerung von Geldleistungen der Militär- oder Unfallversicherung, so ist das Bundesgericht nicht an die Sachverhaltsfeststellung der Vorinstanz gebunden.95
BGG; BGE 133 III 61 E. 2.2.1 S. 67; BGE 132 III 24 E. 4 S. 28; je mit Hinweisen). Schlüsse, welche auf der allgemeinen Lebenserfahrung, das heisst auf Erfahrungsgrundsätzen beruhen, die über den konkreten Sachverhalt hinaus Bedeutung haben, überprüft das Bundesgericht jedoch als Rechtsfrage frei (BGE 117 II 256 E. 2b S. 258; Urteil 5A_311/2010 vom 3. Februar 2011 E. 1.3, nicht publ. in: BGE 137 III 118).
3.5 In tatsächlicher Hinsicht ist gemäss den Feststellungen der Vorinstanz davon auszugehen, dass in der Schweiz bei Krankentaggeldversicherungen eine Leistungsreduzierung um 50 % bei psychischen Krankheiten nicht verbreitet und damit nicht branchenüblich ist. Darüber hinaus verstösst eine solche Reduktion gegen die berechtigte Erwartung des Versicherten, bei allen Krankheiten, ob körperlicher oder psychischer Natur, seinen Verdienstausfall auf gleiche Weise gedeckt zu erhalten. Für ihn ist kein sachlicher Grund für je nach Art der Krankheit unterschiedlich hohe Taggelder ersichtlich. Demnach ist mit der Vorinstanz von der objektiven Ungewöhnlichkeit der vorgesehenen Leistungsreduktion bei psychischen Krankheiten auszugehen. Der Beschwerdeführer ist auf diese Leistungsreduktion nicht gesondert aufmerksam gemacht worden. Auch wurde die Klausel nicht, zum Beispiel durch Fettdruck, speziell hervorgehoben.
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Demnach stellt sich die Frage, ob der Beschwerdeführer aufgrund seiner besonderen Geschäftserfahrung mit einer solchen Klausel hätte rechnen müssen. Die Vorinstanz bejahte dies, weil sie annahm, wer über eine Ausbildung als Arzt bzw. Zahnarzt verfüge, könne hinsichtlich Krankenversicherungen nicht als geschäftsunerfahren gelten. Diese Schlussfolgerung, welche nicht auf einer Würdigung der konkreten Umstände, sondern allein auf allgemeiner Lebenserfahrung beruht, vermag nicht zu überzeugen. Zwar haben Ärzte und zum Teil auch Zahnärzte sich beruflich mit der Frage zu befassen, welche ihrer Leistungen durch Krankenversicherungen gedeckt sind. Die Frage, welchen Verdienstausfall eine Krankentaggeldversicherung ersetzt, betrifft dagegen nicht die ärztlichen Leistungen, weshalb Ärzte und Zahnärzte auf die Beantwortung entsprechender Fragen nicht vorbereitet sein müssen. Entgegen der Annahme der Vorinstanz kann daher aus dem blossen Umstand, dass der Beschwerdeführer über eine Ausbildung als Arzt und Zahnarzt verfügt, nicht abgeleitet werden, er sei hinsichtlich der Frage des Deckungsumfangs von Taggeldversicherungen besonders geschäftserfahren. Die objektiv ungewöhnliche Klausel betreffend die Reduktion des Leistungsumfangs der Taggeldversicherung bei psychischen Krankheiten kann somit auch gegenüber dem Beschwerdeführer keine Rechtswirkung entfalten.
3.6 Damit kann offenbleiben, ob diese Klausel überhaupt Vertragsbestandteil geworden ist, obwohl nach dem allgemeinen Sprachgebrauch unter "Merkblatt" eine Zusammenfassung der wichtigsten Punkte eines ausführlicheren Regelungstextes verstanden wird, die nach Treu und Glauben keine Änderungen der allgemeinen Bedingungen erwarten lässt, erst recht nicht, wenn wie vorliegend das Merkblatt als "Auszug aus den Allgemeinen Versicherungsbedingungen (MC04) und dem Rahmenvertrag" bezeichnet wird.