Urteilskopf

115 V 347

46. Auszug aus dem Urteil vom 17. August 1989 i.S. Ausgleichskasse des Kantons Bern gegen L. und Versicherungsgericht des Kantons Bern
Regeste (de):

Regeste (fr):

Regesto (it):


Erwägungen ab Seite 347

BGE 115 V 347 S. 347

Aus den Erwägungen:

1. a) Gemäss Art. 28 Abs. 1
SR 831.20 Bundesgesetz vom 19. Juni 1959 über die Invalidenversicherung (IVG)
IVG Art. 28 Grundsatz - 1 Anspruch auf eine Rente haben Versicherte, die:
1    Anspruch auf eine Rente haben Versicherte, die:
a  ihre Erwerbsfähigkeit oder die Fähigkeit, sich im Aufgabenbereich zu betätigen, nicht durch zumutbare Eingliederungsmassnahmen wieder herstellen, erhalten oder verbessern können;
b  während eines Jahres ohne wesentlichen Unterbruch durchschnittlich mindestens 40 Prozent arbeitsunfähig (Art. 6 ATSG205) gewesen sind; und
c  nach Ablauf dieses Jahres zu mindestens 40 Prozent invalid (Art. 8 ATSG) sind.
1bis    Eine Rente nach Absatz 1 wird nicht zugesprochen, solange die Möglichkeiten zur Eingliederung im Sinne von Artikel 8 Absätze 1bis und 1ter nicht ausgeschöpft sind.206
2    ...207
IVG in der bis zum 31. Dezember 1987 gültig gewesenen Fassung hat der Versicherte Anspruch auf eine ganze Rente, wenn er mindestens zu zwei Dritteln, oder auf eine halbe Rente, wenn er mindestens zur Hälfte invalid ist. Die halbe Rente kann in Härtefällen auch bei einer Invalidität von mindestens einem Drittel ausgerichtet werden. Der am 1. Januar 1988 in Kraft getretene neue Absatz 1 von Art. 28
SR 831.20 Bundesgesetz vom 19. Juni 1959 über die Invalidenversicherung (IVG)
IVG Art. 28 Grundsatz - 1 Anspruch auf eine Rente haben Versicherte, die:
1    Anspruch auf eine Rente haben Versicherte, die:
a  ihre Erwerbsfähigkeit oder die Fähigkeit, sich im Aufgabenbereich zu betätigen, nicht durch zumutbare Eingliederungsmassnahmen wieder herstellen, erhalten oder verbessern können;
b  während eines Jahres ohne wesentlichen Unterbruch durchschnittlich mindestens 40 Prozent arbeitsunfähig (Art. 6 ATSG205) gewesen sind; und
c  nach Ablauf dieses Jahres zu mindestens 40 Prozent invalid (Art. 8 ATSG) sind.
1bis    Eine Rente nach Absatz 1 wird nicht zugesprochen, solange die Möglichkeiten zur Eingliederung im Sinne von Artikel 8 Absätze 1bis und 1ter nicht ausgeschöpft sind.206
2    ...207
IVG bestimmt, dass bei einer Invalidität von mindestens 40% eine Viertelsrente, bei einer Invalidität von 50% eine halbe Rente und bei einer Invalidität von 66 2/3% eine ganze Rente ausgerichtet wird. Nach dem ebenfalls seit anfangs 1988 geltenden Absatz 1bis von Art. 28
SR 831.20 Bundesgesetz vom 19. Juni 1959 über die Invalidenversicherung (IVG)
IVG Art. 28 Grundsatz - 1 Anspruch auf eine Rente haben Versicherte, die:
1    Anspruch auf eine Rente haben Versicherte, die:
a  ihre Erwerbsfähigkeit oder die Fähigkeit, sich im Aufgabenbereich zu betätigen, nicht durch zumutbare Eingliederungsmassnahmen wieder herstellen, erhalten oder verbessern können;
b  während eines Jahres ohne wesentlichen Unterbruch durchschnittlich mindestens 40 Prozent arbeitsunfähig (Art. 6 ATSG205) gewesen sind; und
c  nach Ablauf dieses Jahres zu mindestens 40 Prozent invalid (Art. 8 ATSG) sind.
1bis    Eine Rente nach Absatz 1 wird nicht zugesprochen, solange die Möglichkeiten zur Eingliederung im Sinne von Artikel 8 Absätze 1bis und 1ter nicht ausgeschöpft sind.206
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IVG hat der Versicherte in Härtefällen bei einem Invaliditätsgrad von 40% Anspruch auf eine halbe Rente. Nach den Übergangsbestimmungen zu der auf den 1. Januar 1988 in Kraft getretenen zweiten IV-Revision gilt die neue Fassung von Art. 28
SR 831.20 Bundesgesetz vom 19. Juni 1959 über die Invalidenversicherung (IVG)
IVG Art. 28 Grundsatz - 1 Anspruch auf eine Rente haben Versicherte, die:
1    Anspruch auf eine Rente haben Versicherte, die:
a  ihre Erwerbsfähigkeit oder die Fähigkeit, sich im Aufgabenbereich zu betätigen, nicht durch zumutbare Eingliederungsmassnahmen wieder herstellen, erhalten oder verbessern können;
b  während eines Jahres ohne wesentlichen Unterbruch durchschnittlich mindestens 40 Prozent arbeitsunfähig (Art. 6 ATSG205) gewesen sind; und
c  nach Ablauf dieses Jahres zu mindestens 40 Prozent invalid (Art. 8 ATSG) sind.
1bis    Eine Rente nach Absatz 1 wird nicht zugesprochen, solange die Möglichkeiten zur Eingliederung im Sinne von Artikel 8 Absätze 1bis und 1ter nicht ausgeschöpft sind.206
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IVG auch für laufende Invalidenrenten (Abs. 1 der
BGE 115 V 347 S. 348

Übergangsbestimmungen), dies mit folgenden Einschränkungen (Abs. 2): Renten, die auf einem Invaliditätsgrad von weniger als 40% beruhen, sind innerhalb eines Jahres seit dem Inkrafttreten der Gesetzesänderung zu revidieren (vgl. Art. 41
SR 831.20 Bundesgesetz vom 19. Juni 1959 über die Invalidenversicherung (IVG)
IVG Art. 41
IVG). Ergibt die Revision einen Invaliditätsgrad von mindestens 33 1/3%, so wird der Betrag der bisherigen Rente weiterhin ausgerichtet, solange die Voraussetzungen des Härtefalles erfüllt sind. b) Während die beschwerdeführende Ausgleichskasse und das Bundesamt für Sozialversicherung (BSV) die Auffassung vertreten, unter dem Titel Besitzstandsgarantie dürften gestützt auf Absatz 2 der gesetzlichen Übergangsbestimmungen vom 1. Januar 1988 hinweg nur solche Härtefallrenten weitergewährt werden, die unter dem alten Recht aufgrund eines Invaliditätsgrades von weniger als 40% zugesprochen worden waren, meint der Beschwerdegegner, diese Gesetzesinterpretation sei falsch; aus den Gesetzesmaterialien gehe hervor, "dass durch die Übergangsbestimmungen garantiert werden sollte, dass die bisherigen Rentenbezügerinnen durch die Gesetzesrevision nicht schlechtergestellt werden als bisher". Das betreffe insbesondere die Bezüger von Härtefallrenten. Es gebe keinen Anhaltspunkt dafür und es lasse sich auch nicht sachlich begründen, dass sich die Besitzstandsgarantie nur auf jene Renten beziehen sollte, die gestützt auf einen Invaliditätsgrad von 33 1/3% bis 40% zugesprochen worden seien. Der kantonale Richter pflichtet im wesentlichen dieser Auffassung bei. c) Das Gesetz ist in erster Linie nach seinem Wortlaut auszulegen. Ist der Text nicht ganz klar und sind verschiedene Auslegungen möglich, so muss nach seiner wahren Tragweite gesucht werden unter Berücksichtigung aller Auslegungselemente, namentlich des Zwecks, des Sinnes und der dem Text zugrunde liegenden Wertung. Wichtig ist ebenfalls der Sinn, der einer Norm im Kontext zukommt (BGE 114 Ia 28 Erw. 3c, BGE 114 V 250 Erw. 8a, BGE 113 V 77 Erw. 3b, BGE 113 II 410 Erw. 3a, BGE 112 Ib 469 Erw. 3b, BGE 112 V 171 Erw. 3a und BGE 111 V 127 Erw. 3b). Vom klaren, d.h. eindeutigen und unmissverständlichen Wortlaut darf nur ausnahmsweise abgewichen werden, u.a. dann nämlich, wenn triftige Gründe dafür vorliegen, dass der Wortlaut nicht den wahren Sinn der Bestimmung wiedergibt. Solche Gründe können sich aus der Entstehungsgeschichte der Bestimmung, aus ihrem Grund und Zweck oder aus dem Zusammenhang mit andern Vorschriften ergeben (IMBODEN/RHINOW, Schweizerische Verwaltungsrechtsprechung, Bd. I, 5. Aufl., S. 138).
BGE 115 V 347 S. 349

Die Vorarbeiten sind für die Gesetzesinterpretation weder verbindlich noch für die Auslegung unmittelbar entscheidend; denn ein Gesetz entfaltet ein eigenständiges, vom Willen des Gesetzgebers unabhängiges Dasein, sobald es in Kraft getreten ist. Insbesondere sind Äusserungen von Stellen oder Personen, die bei der Vorbereitung mitgewirkt haben, nicht massgebend, wenn sie im Gesetzestext nicht selber zum Ausdruck kommen. Das gilt selbst für Äusserungen, die unwidersprochen geblieben sind. Als verbindlich für den Richter können nur die Normen selber gelten, die von der gesetzgebenden Behörde in der hierfür vorgesehenen Form erlassen worden sind. Das bedeutet nun nicht, dass die Gesetzesmaterialien methodisch unbeachtlich wären; sie können namentlich dann, wenn eine Bestimmung unklar ist oder verschiedene, einander widersprechende Auslegungen zulässt, ein wertvolles Hilfsmittel sein, um den Sinn der Norm zu erkennen und damit falsche Auslegungen zu vermeiden (BGE 112 II 4 und 170 Erw. 2b, BGE 103 Ia 290 Erw. 2c). Wo die Materialien keine klare Antwort geben, sind sie als Auslegungshilfe nicht dienlich (BGE 111 V 282). Insbesondere bei verhältnismässig jungen Gesetzen darf der Wille des historischen Gesetzgebers nicht übergangen werden (BGE 112 Ia 104 Erw. 6c, BGE 112 Ib 470 Erw. 3b). Hat dieser Wille jedoch im Gesetzestext keinen Niederschlag gefunden, so ist er für die Auslegung nicht entscheidend (BGE 114 V 250 Erw. 8a und BGE 109 Ia 303). Ist in der Gesetzesberatung insbesondere ein Antrag, das Gesetz sei im Sinne einer nunmehr vertretenen Auslegungsmöglichkeit zu ergänzen, ausdrücklich abgelehnt worden, dann darf diese Auslegungsmöglichkeit später nicht in Betracht gezogen werden (IMBODEN/RHINOW, a.a.O., S. 143). d) Der Wortlaut von Absatz 2 der Übergangsbestimmungen ist klar und unmissverständlich: Jene altrechtlichen Renten müssen überprüft werden, denen ein Invaliditätsgrad von weniger als 40% zugrunde liegt. Dabei kann es sich nur um Härtefallrenten handeln, weil vor dem 1. Januar 1988 bloss in Fällen wirtschaftlicher Härte bei einem Invaliditätsgrad von weniger als 40% (aber mindestens 33 1/3%) Renten zugesprochen werden konnten. Aus Absatz 2 der Übergangsbestimmungen ergibt sich ferner, dass nur solche altrechtlichen Härtefallrenten nach dem 1. Januar 1988 weitergewährt werden, die seinerzeit aufgrund eines Invaliditätsgrades von weniger als 40% zugesprochen worden sind. Nur in diesem Umfang wurde den Bezügern von altrechtlichen Härtefallrenten
BGE 115 V 347 S. 350

durch Absatz 2 der Übergangsbestimmungen die Wahrung des Besitzstandes unter dem neuen Recht gewährleistet. Mit Recht weist das BSV darauf hin, dass der Nationalrat der in Absatz 2 der Übergangsbestimmungen verankerten Ordnung in voller Kenntnis des heute geltenden Drei-Stufen-Rentenmodells mit Härtefall zugestimmt hat (Amtl.Bull. 1986 N 760 und 769). Zwar hatte eine Minderheit im Nationalrat beantragt, es sei für Renten, die altrechtlich aufgrund einer Invalidität von weniger als 50% zugesprochen worden waren, der Besitzstand zu wahren; darauf hat auch die Vorinstanz hingewiesen. Dieser Antrag ist jedoch zugunsten der heute gültigen Fassung bei der Abstimmung im Nationalrat abgelehnt worden (Amtl.Bull. 1986 N 769). Die Annahme des kantonalen Richters, Absatz 2 der Übergangsbestimmungen sei etwas unglücklich formuliert worden und entspreche nicht dem Willen des Gesetzgebers, ist daher unbegründet. Zur Besitzstandswahrung bedarf es in der Sozialversicherung einer ausdrücklichen gesetzlichen Bestimmung. Ein entsprechender ungeschriebener allgemeiner Rechtsgrundsatz der Besitzstandswahrung besteht nicht (ZAK 1983 S. 556 Erw. 2c). Ein solcher Grundsatz widerspräche auch der Notwendigkeit, dem Gesetzgeber namentlich auf dem sich rasch ändernden Gebiet der Sozialversicherung diejenige Gestaltungsmöglichkeit zu wahren, auf die er zur Erfüllung seiner Aufgabe angewiesen ist. Zwar können subjektive öffentliche Rechte ihren Grund auch in Umständen haben, die nach Treu und Glauben zu respektieren sind (ZAK 1973 S. 375 Erw. 2). Im vorliegenden Fall sind indessen keine entsprechenden Voraussetzungen gegeben, da kein individueller Sonderfall zur Diskussion steht. Schlussfolgernd ist festzuhalten, dass nach dem Inkrafttreten der zweiten IV-Revision am 1. Januar 1988 nur jene altrechtlich zugesprochenen Härtefallrenten weiterhin ausgerichtet werden dürfen, die seinerzeit aufgrund eines Invaliditätsgrades von weniger als 40% gewährt worden sind, vorausgesetzt, nach wie vor sei der Versicherte mindestens zu 33 1/3% invalid und der Fall wirtschaftlicher Härte gegeben. e) Im vorliegenden Fall ergab die im Frühjahr 1988 durchgeführte Rentenrevision, dass der Beschwerdegegner, der eine altrechtliche Härtefallrente bezog, nach wie vor zu einem Drittel invalid ist. Da ihm die Härtefallrente aber unter der Herrschaft des alten Rechts aufgrund eines Invaliditätsgrades von 47% zugesprochen
BGE 115 V 347 S. 351

worden war, kann er vom 1. Januar 1988 hinweg nicht unter dem Titel Besitzstandswahrung die Weitergewährung dieser Rente beanspruchen.