Urteilskopf
107 II 319
50. Auszug aus dem Urteil der II. Zivilabteilung vom 5. März 1981 i.S. Keller gegen Wismer und Mitbeteiligte (Berufung)
Regeste (de):
- Bäuerliches Erbrecht; ungeteilte Zuweisung eines landwirtschaftlichen Gewerbes zum Ertragswert. Art. 620 Abs. 2 ZGB.
- Bei der Beurteilung, ob eine ausreichende landwirtschaftliche Existenz gegeben ist, dürfen auch Liegenschaften berücksichtigt werden, die der ansprechende Erbe bereits vor dem Tode des Erblassers zusammen mit dessen Gewerbe als wirtschaftliche Einheit bewirtschaftet hat und dies auch noch für längere Zeit tun wird.
Regeste (fr):
- Droit successoral paysan; attribution sans partage d'une exploitation agricole à sa valeur de rendement. Art. 620 al. 2 CC.
- Peuvent être aussi pris en considération, pour déterminer si une exploitation offre des moyens d'existence suffisants, les biens-fonds que l'héritier requérant a déjà exploités avant la mort du de cujus comme une unité économique avec l'exploitation litigieuse et continuera à exploiter de la sorte pendant encore une longue période.
Regesto (it):
- Diritto successorio rurale; attribuzione senza divisione di un'azienda agricola secondo il suo valore di reddito. Art. 620 cpv. 2 CC.
- Per giudicare se sia garantita un'esistenza sufficiente si può tener conto anche degli immobili che l'erede richiedente ha amministrato già prima della morte del de cujus come unità economica insieme con l'azienda di quest'ultimo e che continuerà ad amministrare in tal modo ancora per un lungo periodo di tempo.
Sachverhalt ab Seite 319
BGE 107 II 319 S. 319
A.- Die am 15. Februar 1975 verstorbene Lydia Schwyn-Waldvogel hinterliess als Erben den Sohn Robert sowie vier Töchter, Clärly Wismer-Schwyn, Hedwig Vogel-Schwyn, Ruth Rohner-Schwyn und Margrit Keller-Schwyn. Zu ihrem Nachlass gehören unter anderem neun in Beringen und Neunkirch gelegene landwirtschaftliche Grundstücke im Halte von total 464 Aren mit Wohnhaus und Ökonomiegebäude. Das Land ist zum grossen Teil verpachtet. Zwei der Felder werden von Margrit Keller-Schwyn und ihrem Ehemann, der Landwirt ist, bewirtschaftet. Die Gebäude stehen seit dem Tode der Erblasserin leer.
BGE 107 II 319 S. 320
B.- Am 21. Juni 1977 erhoben Clärly Wismer-Schwyn, Hedwig Vogel-Schwyn und Ruth Rohner-Schwyn gegen ihre Miterben beim Kantonsgericht Schaffhausen eine Klage auf Erbteilung. Sie beantragten, der Nachlass von Lydia Schwyn-Waldvogel sei festzustellen und zu teilen; die Liegenschaften seien einzeln öffentlich, eventuell unter den Erben, zu versteigern. Die Beklagte Margrit Keller-Schwyn verlangte mit einer Widerklage Zuweisung des Nachlasses an sie selbst gemäss bäuerlichem Erbrecht. Das Kantonsgericht hiess mit Urteil vom 30. Juni 1978 die Klage gut und wies die Widerklage ab. Es wies den Nachlass von Lydia Schwyn-Waldvogel den Erben nach den Regeln des allgemeinen Erbrechts zu und ordnete die öffentliche Versteigerung der Erbschaftssachen durch die Vormundschaftsbehörde an. Eine von der Beklagten Margrit Keller-Schwyn gegen dieses Urteil erhobene Berufung wies das Obergericht des Kantons Schaffhausen am 16. Juli 1980 ab.
C.- Die Beklagte Margrit Keller-Schwyn führt beim Bundesgericht Berufung und beantragt, es sei ihr der Nachlass von Lydia Schwyn-Waldvogel gemäss bäuerlichem Erbrecht als Einheit im Sinne von Art. 620 ZGB zuzuteilen. Das Bundesgericht weist die Berufung ab.
Erwägungen
Aus den Erwägungen:
3. Befindet sich in einer Erbschaft ein landwirtschaftliches Gewerbe, das eine wirtschaftliche Einheit bildet und eine ausreichende landwirtschaftliche Existenz bietet, so ist es gemäss Art. 620 Abs. 1 ZGB, wenn einer der Erben sich zu dessen Übernahme bereit erklärt und als hiefür geeignet erscheint, diesem Erben zum Ertragswert auf Anrechnung ungeteilt zuzuweisen. Die Vorinstanz hat unter Hinweis auf Rechtsprechung und Lehre zutreffend ausgeführt, dass diese Bestimmung dazu beitragen will, einen gesunden und leistungsfähigen Bauernstand zu erhalten, bestehende landwirtschaftliche Betriebe vor der Zersplitterung und den sesshaften Bauern vor Überschuldung zu bewahren (BGE 95 II 395 /96 und BGE 92 II 224 mit Hinweisen; TUOR/PICENONI, N. 12 der Vorbemerkungen zu Art. 620 ff . ZGB; STUDER, Die Integralzuweisung landwirtschaftlicher Gewerbe nach der Revision des bäuerlichen Zivilrechts von 1972, Diss. Fribourg 1975, S. 44 ff.; BOREL, Das bäuerliche Erbrecht, 1954, S. 13 f.; HOTZ, Bäuerliches Grundeigentum, ZSR 98 (1979) II S. 198/99; PIDOUX,
BGE 107 II 319 S. 321
Droit foncier rural, ZSR 98 (1979) II S. 416/17). Das bäuerliche Erbrecht ist als Sonderrecht nicht ausdehnend auszulegen. Es geht dem allgemeinen Erbrecht nur vor, wenn seine Voraussetzungen klar gegeben sind (BGE 95 II 396 und 92 II 320). a) Beide kantonalen Instanzen haben den Anspruch der Beklagten auf ungeteilte Zuweisung der Nachlassgrundstücke mit der Begründung abgewiesen, diese würden keine ausreichende landwirtschaftliche Existenz bieten.
4. Die am 15. Februar 1973 in Kraft getretene Neufassung des Art. 620 Abs. 2 ZGB sieht nun allerdings vor, dass bei der Beurteilung, ob eine ausreichende landwirtschaftliche Existenz gegeben sei, auch Anteile an Liegenschaften und für längere Dauer mitbewirtschaftete Liegenschaften berücksichtigt werden können. Entgegen der früheren Praxis (BGE 81 II 108; TUOR/PICENONI, N. 8 zu Art. 620 ZGB; STUDER, a.a.O., S. 76 f.) muss sich die ausreichende Existenz damit nicht mehr allein aus dem in der Erbschaft befindlichen landwirtschaftlichen Gewerbe ergeben. Bei der Neufassung dieser Bestimmung wurde in erster Linie an den Fall gedacht, dass der Erblasser seit langem und noch für lange Zeit eine Liegenschaft zu seinem Gewerbe hinzugepachtet hatte (BGE 104 II 257). Diesem Fall ist aber auch jener gleichzustellen, in dem der Ansprecher Eigen- oder Pachtland während längerer Zeit mitbewirtschaftet hat. Es entspricht dem Sinn und Zweck des bäuerlichen Erbrechts, auch dieses Land bei der Beurteilung der Frage, ob eine ausreichende landwirtschaftliche Existenz gegeben sei, mitzuberücksichtigen. Bereits in BGE 104 II 257 hatte das Bundesgericht die Gleichbehandlung des möglichen Übernehmers mit dem Erblasser bei Anwendung von Art. 620 Abs. 2 ZGB befürwortet (vgl. auch BGE 76 II 127). Diese Lösung entspricht auch der neueren Lehrmeinung (STUDER, a.a.O., S. 89/90 und 121; HOTZ, a.a.O., S. 195). Diese verlangt noch zusätzlich, dass allfälliges Eigen- oder Pachtland des Ansprechers von diesem bereits vor dem Tode des Erblassers erworben bzw. gepachtet und bewirtschaftet wurde und dass diese Bewirtschaftung weiterhin auf längere Zeit möglich ist (STUDER, a.a.O., S. 88 f.; TUOR/SCHNYDER, Das schweizerische Zivilgesetzbuch, 9. Aufl., S. 476). Ferner wird in der Lehre übereinstimmend vorausgesetzt, dass diese Grundstücke zusammen mit den Liegenschaften des Erblassers als wirtschaftliche Einheit bewirtschaftet wurden, sie somit bereits im Zeitpunkt des Todes des Erblassers insgesamt, d.h. mit den Nachlassliegenschaften, eine ausreichende landwirtschaftliche Existenz im Sinne
BGE 107 II 319 S. 322
von Art. 620 ZGB gewährleistet haben (STUDER, a.a.O., S. 76 ff., vor allem S. 80 ff.; TUOR/SCHNYDER, a.a.O., S. 476; ESCHER, Ergänzungsband, N. 6 zu Art. 620 ZGB; JUNOD, Le nouveau droit civil rural selon la loi fédérale du 6 octobre 1972, Blätter für Agrarrecht, 1973 S. 8). Dieser Lehrmeinung liegt der Gedanke zugrunde, dass vor allem der bisherige Bewirtschafter der Nachlassliegenschaft, der sich als Erbe um deren Zuweisung bemüht, geschützt zu werden verdient. Sie ist sowohl mit dem Wortlaut von Art. 620 Abs. 2 ZGB als auch mit den Materialien (STUDER, a.a.O., S. 81 und 89) vereinbar. Es ist in dieser Bestimmung nur von Anteilen an Liegenschaften und für längere Zeit mitbewirtschafteten Liegenschaften die Rede. Wer diese Liegenschaften bewirtschaftet haben muss, ob der Erblasser oder der ansprechende Erbe, sagt der Gesetzgeber nicht. Werden solche Grundstücke mit der Liegenschaft des Erblassers für längere Dauer mitbewirtschaftet, so ist der wirtschaftliche Effekt derselbe, ob bereits der Erblasser selbst oder der das Gut bewirtschaftende Erbe mit Hilfe von Pacht- und Eigenland eine ausreichende Existenz zu erreichen vermag, worauf auch das Bundesgericht in BGE 104 II 257 hingewiesen hat. Wird Art. 620 Abs. 2 ZGB im dargelegten Sinne ausgelegt, so kann Eigen- und Pachtland des ansprechenden Erben, das dieser schon vor dem Tode des Erblassers bewirtschaftet hat, aber nicht zusammen mit dessen Gewerbe, bei der Beurteilung der Frage, ob die Nachlassliegenschaft eine ausreichende landwirtschaftliche Existenz zu bieten vermöge, keine Berücksichtigung finden. Agrarpolitische Gründe würden zwar nicht dagegen sprechen, auch diesen Fall Art. 620 Abs. 2 ZGB zu unterstellen. In wirtschaftlicher Hinsicht würde er sich jedenfalls dann nicht vom oben genannten unterscheiden, wenn das Eigen- oder Pachtland des Erben zusammen mit der Nachlassliegenschaft für die Zukunft eine ausreichende Existenz böte und zudem zu einer wirtschaftlichen Einheit verbunden werden könnte. Das träfe dann zu, wenn sich das Gewerbe von einem Zentrum aus mit denselben Arbeitskräften und ohne unverhältnismässigen Aufwand rationell bewirtschaften liesse (STUDER, a.a.O., S. 111 ff., insbes. S. 114/115). Indessen sprechen sowohl der Wortlaut von Art. 620 Abs. 2 ZGB, vor allem auch in der französischen und italienischen Fassung (les biens-fonds exploités pendant une longue période avec l'entreprise agricole, beni immobili per lungo tempo e congiuntamente amministrati), als auch die Entstehungsgeschichte der Bestimmung gegen
BGE 107 II 319 S. 323
eine solche Ausweitung ihres Anwendungsbereichs. In den Beratungen des Ständerates war in diesem Zusammenhang lediglich davon die Rede, dass neben Eigenland des ansprechenden Erben auch Pachtland zu berücksichtigen sei. Um Missbräuche mit erst abzuschliessenden Pachtverträgen zu vermeiden, wurde vom Ständerat in den Gesetzestext die Ergänzung "für längere Dauer mitbewirtschaftet" eingefügt (Sten. Bull. Ständerat 1971, S. 394). Aus Wortlaut und Entstehungsgeschichte von Art. 620 Abs. 2 ZGB ist somit zu schliessen, dass Liegenschaften des Bewerbers nur dann berücksichtigt werden dürfen, wenn sie bereits vor dem Tode des Erblassers mit dessen Gewerbe gemeinsam als wirtschaftliche Einheit bewirtschaftet wurden und dies für längere Zeit auch noch der Fall sein wird. Nur unter dieser Voraussetzung kommt dem agrarpolitischen Zweck, welcher dem bäuerlichen Erbrecht zugrunde liegt, gegenüber dem allgemeinen Erbrecht und dem darin statuierten Anspruch auf Gleichbehandlung aller Erben der Vorrang zu.