(Auszug aus dem Beschwerdeentscheid der Rekurskommission EVD vom 9. März 1994 in Sachen Sch. gegen Schweizerischen Kaufmännischer Verband und Bundesamt für Industrie, Gewerbe und Arbeit; 94/4K-003)
Berufsbildung; höhere Fachprüfung; Vorgehensweise bei Vorliegen eines Grenzfalles.
1. Die teilweise Anhebung von Noten im Verlaufe des Beschwerdeverfahrens führt zu einer veränderten Situation. Ein Grenzfall liegt vor, wenn eine theoretische Anhebung der Note eines Prüfungsfaches um 0,3 Einheiten zum Bestehen der Prüfung führen würde (E. 3.2).
2. Hat die Prüfungskommission aufgrund des Prüfungsreglements nach Anhörung der Examinatoren über das Bestehen der Prüfung zu entscheiden, liegt eine Reglementsverletzung vor, wenn nach der Korrektur von einzelnen Noten durch die Examinatoren eine grundlegend neue Situation eintritt und die Prüfungskommission nicht erneut zusammensitzt, die Examinatoren anhört und über das Gesamtergebnis befindet (E. 3.4-3.5).
Formation professionnelle; examen professionnel supérieur; procédure lors d'un cas limite.
1. Le relèvement de notes au cours de la procédure de recours crée une nouvelle situation de fait. On se trouve en présence d'un cas limite lorsque le relèvement de trois décimales d'une note de branche conduirait à la réussite de l'examen (consid. 3.2).
2. Si le règlement d'examen prévoit que la commission des examens doit se prononcer sur la réussite ou l'échec des candidats seulement après avoir consulté les examinateurs et si ces examinateurs ont corrigé un certain nombre de notes et, partant, créé une situation tout à fait nouvelle, il y a violation du règlement lorsque la commission des examens ne s'est pas réunie pour consulter les examinateurs et pour se prononcer à nouveau sur le résultat final d'examen (consid. 3.4-3.5).
Formazione professionale; esame professionale superiore; procedura in un caso limite.
1. L'aumento delle note durante la procedura di ricorso crea di fatto una nuova situazione. Si è in presenza di un caso limite se l'aumento di tre decimi di una nota di materia determinerebbe la riuscita dell'esame (consid. 3.2).
2. Se il regolamento d'esame prevede che la Commissione d'esame si pronunci sulla riuscita o meno dei candidati unicamente dopo aver consultato gli esaminatori e se questi ultimi hanno corretto un determinato numero di note e, quindi, creato una situazione assolutamente nuova, sussiste violazione del regolamento nel caso in cui la Commissione d'esame non si è riunita per consultare gli esaminatori e per pronunciarsi di nuovo sul risultato finale dell'esame (consid. 3.4 e 3.5).
Aus dem Sachverhalt:
Sch. legte im Frühjahr 1993 zum dritten Mal die Eidgenössische Berufsprüfung für Buchhalter ab. Die Prüfungskommission eröffnete ihm mit Verfügung vom 5. Mai 1993, er habe die Prüfung nicht bestanden, weil er in den schriftlichen Fächern «Rechnungswesen», «Organisation des Rechnungswesens» und «Steuern» je die Note 3,5 und im mündlichen Prüfungsfach «Steuern» die Note 3,0 sowie eine Gesamtnote von 3,6 erreicht habe.
Gegen diesen Entscheid erhob Sch. am 10. Juni 1993 Beschwerde beim Bundesamt für Industrie, Gewerbe und Arbeit mit dem Antrag, es sei ihm der Eidgenössische Fachausweis zuzuerkennen. Im Rahmen des Vernehmlassungsverfahrens beantragten die Fachvorstände der Prüfungsfächer «Rechnungswesen» und «Organisation des Rechnungswesens» je eine Anhebung der beiden Prüfungsnoten auf 4,0. Das Bundesamt wies mit Entscheid vom 4. Oktober 1993 die Beschwerde ab und wies die Prüfungskommission an, Sch. unter Berücksichtigung der beantragten Notenanhebungen einen korrigierten Notenausweis auszustellen.
Gegen den Entscheid des Bundesamtes reichte Sch. am 11. Oktober 1993 Beschwerde beim EVD ein und beantragt, es sei ihm in allen Fächern eine genügende Note zu erteilen und das Diplom auszustellen.
Die Rekurskommission EVD übernahm das Verfahren am 2. Februar 1994 als zuständige Behörde.
Aus den Erwägungen:
1. (Zuständigkeit)
2. Gestützt auf das Bundesgesetz vom 19. April 1978 über die Berufsbildung (Berufsbildungsgesetz [BBG], SR 412.10; Art. 51 Abs. 2
SR 412.101 Verordnung vom 19. November 2003 über die Berufsbildung (Berufsbildungsverordnung, BBV) - Berufsbildungsverordnung BBV Art. 51 Zuständigkeiten und Gesuch - (Art. 45 und 46 BBG) |
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1 | Über die eidgenössische Anerkennung von Diplomen und Kursausweisen von Bildungsgängen für Berufsbildungsverantwortliche in der beruflichen Grundbildung entscheiden: |
a | die Kantone, sofern es sich um Bildungsgänge für Berufsbildnerinnen und Berufsbildner in Lehrbetrieben handelt, mit Ausnahme von gesamtschweizerischen Bildungsgängen; |
b | das SBFI bei gesamtschweizerischen Bildungsgängen für Berufsbildnerinnen und Berufsbildner in Lehrbetrieben und bei allen andern Bildungsgängen. |
2 | Dem Gesuch um Anerkennung sind Unterlagen beizulegen, die Angaben machen über: |
a | das Leistungsangebot; |
b | die Qualifikation der Lehrenden; |
c | die Finanzierung; |
d | die Qualitätsentwicklung. |
Die Prüfung umfasst die Fächer «Rechnungswesen, schriftlich und mündlich», «Organisation des Rechnungswesens, schriftlich», «Steuern, schriftlich und mündlich» sowie «Recht» (Art. 19 Prüfungsreglement). Die Leistungen werden mit den Noten 1 bis 6 bewertet. Die Noten 4 und höhere bezeichnen genügende Leistungen, andere als halbe Zwischennoten sind nicht zulässig (Art. 22 Prüfungsreglement). Bei der Festsetzung der Schlussnote (Durchschnittsnote) wird die Note im Fach «Rechnungswesen, schriftlich» doppelt gezählt. Die Summe der Fachnoten wird durch sieben geteilt und die Schlussnote auf eine Dezimale gerundet (Art. 23 Abs. 2 Prüfungsreglement). Die gesuchte Note wird auf zwei Dezimalen berechnet und auf eine Dezimale auf- oder abgerundet. Ergibt die zweite Dezimale fünf oder höher, so ist die erste Dezimale aufzurunden (Art. 23 Abs. 3 Prüfungsreglement). Die Berufsprüfung gilt als bestanden, wenn in der Schlussnote (Durchschnitt) und im Fach «Rechnungswesen, schriftlich» je die Note 4,0 nicht unterschritten, in nicht mehr als einem der übrigen Fächer eine Note unter 4,0 und in keinem Fach eine Note unter 3,0 erreicht wurde (Art. 26 Prüfungsreglement).
3. Dem Beschwerdeführer wurde der Eidgenössische Fachausweis verweigert, weil er im Fach «Rechnungswesen, schriftlich» lediglich die Note 3,5 erreichte, in den Fächern «Organisation des Rechnungswesens, schriftlich» und «Steuern, schriftlich» jeweils mit der Note 3,5 und im Fach «Steuern, mündlich» mit der Note 3,0 die Note 4,0 unterschritt und eine Schlussnote von 3,6 erreichte.
Gegen den negativen Prüfungsentscheid erhob der Rekurrent Beschwerde beim Bundesamt für Industrie, Gewerbe und Arbeit (hiernach: Bundesamt) und machte insbesondere Bewertungs- und Additionsfehler bei der Korrektur der ungenügenden schriftlichen Prüfungen geltend.
3.1. Das Bundesamt brachte die Beschwerde der Prüfungskommission zur Kenntnis und in der Folge äusserten sich die zuständigen Examinatoren. Der Fachvorstand des Prüfungsfaches «Rechnungswesen, schriftlich» führte aus, dass in Aufgabe 4 eine Aufwertung um 1,5 Punkte und in Aufgabe 5 eine solche um 0,75 Punkte vorgenommen werden könne. Diese Aufwertung ergebe ein neues Punktetotal von 56,5 Punkten. Da für eine genügende Note 56 Punkte erforderlich gewesen seien, werde beantragt, dass die Beschwerde diesbezüglich gutzuheissen und dem Kandidaten die Note 4,0 zu erteilen sei. Der Fachvorstand des Prüfungsfaches «Organisation des Rechnungswesens» beantragte ebenfalls, dass die Note auf 4,0 abgeändert werden solle, da die Bewertung zu niedrig erfolgt sei. Auch der Fachvorstand des schriftlichen Prüfungsfaches «Steuern» führte aus, dass sich der Beschwerdeführer zu Recht beschwere, da bei der Addition der Punkte ein Fehler unterlaufen sei. Die korrigierte Gesamtpunktezahl von 20 Punkten reiche jedoch nicht für die Note 4,0, diese könne gemäss Notenskala erst ab 20,5 Punkte erteilt werden. Da die restlichen Korrekturen absolut korrekt erfolgt seien, bestehe keinerlei Ermessensspielraum, die Punktezahl zugunsten des Kandidaten zu
ändern, seine Leistungen würden dies nicht erlauben. Im weiteren fügte der Fachvorstand an, dass er sich allerdings nicht dagegen wehren würde, wenn die Prüfungskommission von sich aus, sollte dies dem Kandidaten zum erfolgreichen Bestehen der Prüfung verhelfen, die Note auf 4,0 anheben würde.
In Anschluss an das Beschwerdeverfahren vor dem Bundesamt wurden dementsprechend die Noten in den beiden schriftlichen Fächern «Rechnungswesen» und «Organisation des Rechnungswesens» auf 4,0 angehoben. Damit wurde dem Begehren des Beschwerdeführers teilweise entsprochen. Was die Fachnote im schriftlichen Prüfungsfach «Steuern» betrifft, so erfolgte hier keine Anhebung und die Note wurde auf 3,5 belassen. Auf Weisung des Bundesamtes hin wurde dem Beschwerdeführer ein korrigierter Notenausweis ausgestellt.
3.2. Mit der Anhebung in den beiden genannten schriftlichen Fächern ergab sich eine neue Situation und der Beschwerdeführer verfügte über einen Notendurchschnitt von nunmehr 3,86, woraus eine Schlussnote von 3,9 resultierte (Art. 23 Prüfungsreglement). Eine theoretische Notenanhebung um lediglich 0,3 Einheiten (resp. 0,15 Einheiten im Fach «Rechnungswesen, schriftlich») und die in Betracht gezogene Notenanhebung im Fach «Steuern, schriftlich» auf 4,0 hätte zu einem Notendurchschnitt von 3,95 respektive einer Schlussnote von 4,0 und damit zum Bestehen der Prüfung geführt. Aus diesen Überlegungen folgt zweifellos, dass es sich vorliegend um einen Grenzfall handelt.
3.3. Die Prüfungskommission, die Examinatoren und der Vertreter des Bundes vereinigen sich im Anschluss an die Prüfung zu einer Sitzung, an welcher die Prüfungsergebnisse festgestellt werden. Über das Bestehen der Prüfung entscheidet die Prüfungskommission nach Anhörung der zuständigen Examinatoren (Art. 24 Prüfungsreglement). Nehmen einzelne Examinatoren nach dem Beschluss der Prüfungskommission eine Korrektur ihrer Noten vor oder sind sie zu einer solchen Korrektur bereit und tritt dadurch eine grundlegend neue Situation ein, wäre die Prüfungskommission aufgrund dieser Bestimmung verpflichtet, erneut zusammenzusitzen, die Examinatoren anzuhören und einen neuen Entscheid zu fällen.
3.4. Aufgrund der korrigierten Noten ist im vorliegenden Fall insofern eine neue Situation eingetreten, als eine bloss geringe Anhebung in einem weiteren Prüfungsfach zum Bestehen der Prüfung gereicht hätte und damit von einem Grenzfall auszugehen ist (vgl. E. 3.2). Im weiteren hinterlassen die erheblichen Unregelmässigkeiten bei der Korrektur der Prüfungsarbeiten des Beschwerdeführers einen zwiespältigen Eindruck bezüglich der angewandten Sorgfalt durch die Examinatoren. Zudem legte der Beschwerdeführer die Prüfung zum dritten und letzten Mal ab, im Falle des erneuten Nichtbestehens wäre eine weitere Wiederholung nicht möglich (Art. 27 Prüfungsreglement). Dies für sich alleine betrachtet heisst zwar nicht, dass der Beschwerdeführer Anspruch auf eine bevorzugte Behandlung haben soll. Aufgrund der gesamten Umstände und insbesondere wegen der neu eingetretenen Situation eines Grenzfalles hätte aber die Prüfungskommission erneut die Examinatoren anhören und mit besonderer Sorgfalt über das Gesamtergebnis entscheiden müssen. Aus den Akten geht jedoch hervor, dass das Bundesamt lediglich die Stellungnahmen der zuständigen drei Fachvorsteher einholte, die Prüfungskommission jedoch zu keinem Zeitpunkt über die korrigierte
Punktezahl entschieden, sondern bloss dem Beschwerdeführer im Anschluss an den Entscheid des Bundesamtes ein korrigiertes Notenblatt ausgestellt hat. Demnach liegt eine Verletzung der in Art. 24 Prüfungsreglement umschriebenen Verfahrensvorschrift vor.
3.5. Die Verletzung der genannten Verfahrensvorschrift stellt einen Formfehler dar. Ein solcher Fehler rechtfertigt es gemäss Rechtsprechung nur dann, eine Beschwerde gutzuheissen, wenn sich Anhaltspunkte dafür bieten, dass er möglicherweise einen ungünstigen Einfluss auf das Prüfungsergebnis ausübte und damit als Beschwerdegrund im Sinne von Art. 49 Bst. a des Bundesgesetzes vom 20. Dezember 1968 über das Verwaltungsverfahren (SR 172.021) gilt (VPB 50.45, 34.93). Da das Bundesamt nicht ohne weiteres einfach annehmen durfte, die Prüfungskommission hätte selbst im Wissen um die korrigierten Noten und der besonderen Umstände keine weitere Aufwertung vorgenommen, hätte es vor seinem Entscheid die Prüfungskommission auffordern müssen, erneut in einer Sitzung alle Examinatoren anzuhören und einen neuen Entscheid über das Bestehen der Prüfung zu fällen. Das nachträgliche Einholen der Stellungnahme des Examinatoren der Fachprüfung «Steuern, mündlich» durch die Prüfungskommission dagegen vermag das von Art. 24 Prüfungsreglement geforderte Vorgehen in keiner Weise zu ersetzen.
(Die Rekurskommission EVD heisst die Beschwerde gut, hebt den Entscheid des Bundesamtes auf und weist die Streitsache zur Neubeurteilung an die Prüfungskommission zurück)
Dokumente der REKO/EVD