98 Ia 208
31. Auszug aus dem Urteil vom 23. März 1972 i.S. Senn und Mitbeteiligte gegen den Grossen Rat des Kantons Bern.
Regeste (de):
- Stimmrecht, Gewaltentrennung; Art. 85 lit. a OG; Art. 39
SR 131.212 Verfassung des Kantons Bern, vom 6. Juni 1993 (KV)
KV Art. 39 - 1 Kanton und Gemeinden treffen Massnahmen, um Arbeitslosigkeit zu vermeiden und deren Folgen zu mildern. Sie unterstützen die berufliche Umschulung und Wiedereingliederung.
1 Kanton und Gemeinden treffen Massnahmen, um Arbeitslosigkeit zu vermeiden und deren Folgen zu mildern. Sie unterstützen die berufliche Umschulung und Wiedereingliederung. 2 Der Kanton fördert die Arbeitssicherheit und die Arbeitsmedizin. 3 Kanton und Gemeinden nehmen bei rechtmässigen Kampfmassnahmen zwischen Sozialpartnern nicht Partei. 4 Sie fördern die Vereinbarkeit von Erwerbstätigkeit und Betreuungsaufgaben. - Art. 3 des vom bernischen Grossen Rat am 1. Februar 1971 beschlossenen Dekrets "über die Organisation des Regierungsrates und der Präsidialabteilung" (Notstandskompetenzen des Regierungsrats) verstösst als Umschreibung der sog. allgemeinen Polizeiklausel nicht gegen Art. 39 KV und verletzt weder das Stimmrecht der Bürger noch den Grundsatz der Gewaltentrennung.
Regeste (fr):
- Droit de vote, séparation des pouvoirs; art. 85 lettre a OJ; art. 39 Cst. bern.
- L'art. 3 du décret du Grand conseil bernois du 1er février 1971 "sur l'organisation du Conseil exécutif et de la section présidentielle" (état d'urgence: compétences du Conseil exécutif) ne viole, en tant qu'il délimite la clause générale de police, ni l'art. 39 Cst. bern., ni le droit de vote des citoyens, ni le principe de la séparation des pouvoirs.
Regesto (it):
- Diritto di voto, separazione dei poteri; art. 85 lett. a OG; art. 39 Cost. bernese.
- L'art. 3 del decreto del Gran Consiglio bernese del 1. febbraio 1971 sull'organizzazione del Consiglio esecutivo e della sezione presidenziale (stato d'urgenza: competenze del Consiglio esecutivo) non viola, nella misura in cui delimita la clausola generale di polizia, nè il diritto di voto dei cittadini, nè il principio della separazione dei poteri.
Sachverhalt ab Seite 209
BGE 98 Ia 208 S. 209
A. - Nach Art. 36 der bernischen Kantonsverfassung (KV) besorgt der Regierungsrat "innerhalb der Schranken der Verfassung und Gesetze die gesamte Regierungsverwaltung". Art. 38 KV ermächtigt ihn zum Vollzug aller Gesetze, Dekrete und Beschlüsse des Grossen Rates sowie der in Rechtskraft erwachsenen Urteile. Art. 39 KV lautet wie folgt: "Er wacht innerhalb der Schranken der Bundesverfassung über die Sicherheit des Staates nach aussen und über die Handhabung von Ruhe und Ordnung im Innern. Zur Abwendung von dringender Gefahr kann er die vorläufigen militärischen Sicherheitsmassregeln ergreifen oder die nötigen Gebote und Verbote mit Strafdrohung erlassen; er soll aber dem Grossen Rat sogleich davon Kenntnis geben und seine Entscheidung über die weiteren Vorkehren gewärtigen." Art. 44 KV hat folgenden Wortlaut:
"Unter dem Regierungsrat stehen zur Vorberatung der Geschäfte und zur Vollziehung der an sie gelangenden Aufträge die nötigen Direktionen, unter welche die verschiedenen Verwaltungszweige verteilt werden. Jeder Direktion steht ein Mitglied des Regierungsrates vor.
Die Umschreibung und Organisation der Direktionen des Regierungsrates sowie die Organisation der Staatskanzlei findet durch Dekret des Grossen Rates statt." Das Dekret über die Organisation des Regierungsrates vom 2. Februar 1966 enthielt in § 7 folgende Bestimmung: "Wird das Land in Kriegshandlungen verwickelt oder ergibt sich aus Naturereignissen ein Notstand, so trifft der Regierungsrat alle Massnahmen, die geeignet sind, nach Möglichkeit die Aufrechterhaltung der Regierungstätigkeit, der Verwaltung und der Rechtspflege zu sichern. Der Regierungsrat kann insbesondere Direktionen oder Verwaltungszweige zusammenlegen oder ihre Organisation ändern, Befugnisse Bezirks- oder Gemeindebehörden oder andern Organisationen übertragen und Sonderbeauftragte ernennen; er sorgt für die Vertretung von Behörden und Beamten, die ihre Amtstätigkeit nicht ausüben können." Am 1. Februar 1971 erliess der Grosse Rat ein neues "Dekret über die Organisation des Regierungsrates und der Präsidialabteilung", welches das erwähnte Dekret vom 2. Februar 1966 ersetzte. Art. 3 des Dekrets vom 1. Februar 1971 lautet wie folgt: "Wird das Land in Kriegshandlungen verwickelt oder ergibt sich aus andern Gründen ein Notstand, so trifft der Regierungsrat alle
BGE 98 Ia 208 S. 210
Massnahmen, die geeignet sind, nach Möglichkeit die Aufrechterhaltung der Regierungstätigkeit, der Verwaltung und der Rechtspflege zu sichern. Der Regierungsrat kann im besonderen Direktionen oder Verwaltungen zusammenlegen oder ihre Organisation ändern, Befugnisse Bezirks- oder Gemeindebehörden oder andern Organisationen übertragen und Sonderbeauftragte ernennen. Er sorgt für die Vertretung von Behörden und Beamten, die ihre Amtstätigkeit nicht ausüben können. Er trifft die nötigen Vorbereitungen und schafft eine Kriegs- und Katastrophenorganisation auf dem Verordnungsweg. Der Regierungsrat berichtet dem Grossen Rat über die in besonderen Fällen ergriffenen Massnahmen." Das Dekret ist am 1. Februar 1971 in Kraft getreten.
B. - Dr. Emil Senn und Pierre Gassmann führen für sich und 16 Mitbeteiligte staatsrechtliche Beschwerde mit dem Antrag, Art. 3
SR 131.212 Verfassung des Kantons Bern, vom 6. Juni 1993 (KV) KV Art. 39 - 1 Kanton und Gemeinden treffen Massnahmen, um Arbeitslosigkeit zu vermeiden und deren Folgen zu mildern. Sie unterstützen die berufliche Umschulung und Wiedereingliederung. |
|
1 | Kanton und Gemeinden treffen Massnahmen, um Arbeitslosigkeit zu vermeiden und deren Folgen zu mildern. Sie unterstützen die berufliche Umschulung und Wiedereingliederung. |
2 | Der Kanton fördert die Arbeitssicherheit und die Arbeitsmedizin. |
3 | Kanton und Gemeinden nehmen bei rechtmässigen Kampfmassnahmen zwischen Sozialpartnern nicht Partei. |
4 | Sie fördern die Vereinbarkeit von Erwerbstätigkeit und Betreuungsaufgaben. |
SR 131.212 Verfassung des Kantons Bern, vom 6. Juni 1993 (KV) KV Art. 39 - 1 Kanton und Gemeinden treffen Massnahmen, um Arbeitslosigkeit zu vermeiden und deren Folgen zu mildern. Sie unterstützen die berufliche Umschulung und Wiedereingliederung. |
|
1 | Kanton und Gemeinden treffen Massnahmen, um Arbeitslosigkeit zu vermeiden und deren Folgen zu mildern. Sie unterstützen die berufliche Umschulung und Wiedereingliederung. |
2 | Der Kanton fördert die Arbeitssicherheit und die Arbeitsmedizin. |
3 | Kanton und Gemeinden nehmen bei rechtmässigen Kampfmassnahmen zwischen Sozialpartnern nicht Partei. |
4 | Sie fördern die Vereinbarkeit von Erwerbstätigkeit und Betreuungsaufgaben. |
Erwägungen
Aus den Erwägungen:
Die Beschwerdeführer behaupten nicht, das Dekret vom 1. Februar 1971 lasse sich nicht auf Art. 44 Abs. 3 KV stützen. Sie rügen bloss, Art. 3 des Dekrets erteile dem Regierungsrat weitergehende Vollmachten als in Art. 39 KV vorgesehen, und sie leiten daraus ab, die angefochtene Bestimmung verletze deshalb ihr Stimmrecht und den Grundsatz der Gewaltentrennung und sei noch in anderer Hinsicht verfassungswidrig. Wie der Grosse Rat in seinen Gegenbemerkungen mit Recht ausführt, deckt sich Art. 3 des Dekrets inhaltlich mit Art. 39 KV und enthält - wie im folgenden näher auszuführen ist - bloss eine zeitgemässe Umschreibung der Notstandsvollmachten, wie sie der Regierung bereits nach der Verfassung zustehen. Art. 39 Abs. 1 KV umschreibt die Aufgaben des Regierungsrats: Wahrung der Sicherheit nach aussen und Aufrechterhaltung bzw. Wiederherstellung von Ruhe und Ordnung im
BGE 98 Ia 208 S. 211
Innern. Abs. 2 der Verfassungsbestimmung nennt sodann die Mittel, die dem Regierungsrat zur Verfügung stehen, um die im ersten Abstatz erwähnten Rechtsgüter in Fällen "dringender Gefahr" zu schützen: Militärischer Einsatz und/oder Erlass von Geboten und Verboten. Entgegen der Auffassung der Beschwerdeführer fehlt somit jeder Anhaltspunkt für die Annahme, Art. 39 Abs. 2 KV beziehe sich bloss auf die Abwehr äusserer Gefahren. Dieser von E. BLUMENSTEIN (MBVR 32/1934, S. 421) beiläufig aufgestellte Leitsatz übersieht, dass der Kanton zur Abwehr äusserer Gefahren überhaupt nicht über Truppen verfügen kann, zumal dieses Recht nach Art. 19 Abs. 3
SR 101 Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft vom 18. April 1999 BV Art. 19 Anspruch auf Grundschulunterricht - Der Anspruch auf ausreichenden und unentgeltlichen Grundschulunterricht ist gewährleistet. |
SR 101 Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft vom 18. April 1999 BV Art. 19 Anspruch auf Grundschulunterricht - Der Anspruch auf ausreichenden und unentgeltlichen Grundschulunterricht ist gewährleistet. |
BGE 98 Ia 208 S. 212
von Art. 39 der bernischen KV). Wie auch der Regierungsrat (vgl. Votum von Justizdirektor Jaberg, a.a.O.) ausdrücklich anerkennt, ist dabei selbstverständlich der Grundsatz der Verhältnismässigkeit zu beachten (vgl. BGE 92 I 35 Erw. 7). Unter diesen Umständen kann nicht ernstlich behauptet werden, die angefochtene Bestimmung des Dekrets vom 1. Februar 1971 ermächtige den Regierungsrat zu Vorkehren, die von der Verfassung nicht gedeckt seien. Richtig ist freilich, dass Art. 39 Abs. 2 KV in bezug auf die im Zusammenhang mit Notstandsmassnahmen dem Grossen Rat zustehenden Befugnisse eine einlässlichere Ordnung enthält als Art. 3 Abs. 4 des Dekrets vom 1. Februar 1971. Allein daraus vermögen die Beschwerdeführer nichts zu ihren Gunsten abzuleiten, denn auch diese Bestimmung ist verfassungskonform auszulegen. Wie sowohl der Grosse Rat (Vernehmlassung S. 23) als auch der Regierungsrat (Votum von Justizdirektor Jaberg, a.a.O.) ausdrücklich anerkennen, bewirkt die engere Fassung von Art. 3 Abs. 4 des Dekrets keine Beschränkung der verfassungsmässigen Befugnisse des Grossen Rats. Es ist deshalb nicht einzusehen, inwieweit die angefochtene Vorschrift die Beschwerdeführer in ihren verfassungsmässigen Rechten verletzen soll. Die Beschwerde ist daher abzuweisen.