96 IV 5
2. Urteil des Kassationshofes vom 20. März 1970 i.S. Waser gegen Staatsanwaltschaft des Kantons Nidwalden.
Regeste (de):
- 1. Art. 268 Ziff. 1
BStP.
- Zulässigkeit der Nichtigkeitsbeschwerde gegen ein Urteil des Kantonsgerichts Nidwalden in einer erstinstanzlich durch Strafurteil des Strafgerichts Nidwalden erledigten Strafsache (Erw. 1).
- 2. Art. 31 Abs. 1
SR 311.0 Schweizerisches Strafgesetzbuch vom 21. Dezember 1937
StGB Art. 31 - Das Antragsrecht erlischt nach Ablauf von drei Monaten. Die Frist beginnt mit dem Tag, an welchem der antragsberechtigten Person der Täter bekannt wird.
- Unter Urteil erster Instanz ist ein Sachentscheid zu verstehen, der im ordentlichen Gerichtsverfahren ergangen ist. Dass der Urteilsfällung eine mündliche Parteiverhandlung vorausgegangen sei, ist nicht erforderlich (Erw. 2).
Regeste (fr):
- 1. Art. 268 ch. 1 PPF.
- Recevabilité du pourvoi en nullité contre un arrêt du Tribunal cantonal de Nidwald dans une cause pénale jugée en première instance par le Tribunal pénal de Nidwald (consid. 1).
- 2. Art. 31 al. 1 CP, Retrait de plainte.
- Par jugement de première instance, il faut entendre un jugement au fond prononcé selon la procédure judiciaire ordinaire. Il n'est pas nécessaire que le prononcé du jugement ait été précédé de débats où les parties ont été entendues (consid. 2).
Regesto (it):
- 1. Art. 268 num. 1 PPF.
- Ricevibilità del ricorso per cassazione contro una sentenza del Tribunale cantonale di Nidwalden, pronunciato in una causa penale giudicata in prima istanza del Tribunale penale cantonale (consid. 1).
- 2. Art. 31 cpv. 1 CP. Ritiro della querela.
- Per sentenza di prima istanza s'intende un giudizio di merito, pronunciato nella procedura penale ordinaria. Non è necessario che a tale giudizio sia stato fatto precedere un dibattimento (consid. 2).
Sachverhalt ab Seite 5
BGE 96 IV 5 S. 5
A.- Waser, der überschuldet war und kein Vermögen besass, verliess Ende Dezember 1967 Frau und Kind unter dem Vorwand, er fahre mit einem Kollegen nach Amerika, um einen gemeinsamen Freund zu besuchen, und werde in zwei bis
BGE 96 IV 5 S. 6
drei Wochen wieder zurück sein. In Wirklichkeit unternahm er eine abenteuerliche Reise durch Afrika. Dort borgte er von einem Schweizer einen kleineren Geldbetrag, den er entgegen seinem Versprechen nicht zurückbezahlte. Ende Mai 1968 kehrte Waser mittellos in die Schweiz zurück. Frau Waser, der wenige Wochen nach der Abfahrt ihres Mannes das Geld ausging, musste von der Heimatgemeinde Wolfenschiessen durch Beiträge von zusammen Fr. 750.-- unterstützt werden. Ferner war sie auf die finanzielle Hilfeleistung von Verwandten angewiesen.
B.- Auf Strafklage der Armenverwaltung Wolfenschiessen und eine Anzeige des geschädigten Schweizers führte das Verhöramt Nidwalden gegen Waser eine Strafuntersuchung wegen Vernachlässigung der Unterstützungspflichten und wegen Betruges. Am 28. Februar 1969 verurteilte das Strafgericht Nidwalden Waser auf Grund der Untersuchungsakten wegen Vernachlässigung der Unterhaltspflicht und wegen Betruges zu einem Monat Gefängnis. Gegen dieses Urteil erhob Waser am 12. April 1969 Rekurs an das Kantonsgericht Nidwalden. Am 17. September 1969 schrieb der Armenrat Wolfenschiessen dem Anwalt des Angeschuldigten, dass er den gegen Waser gestellten Strafantrag, nachdem dieser die Unterstützungsbeiträge zurückbezahlt habe, zurückziehe und annehme, dass der Anwalt auf Grund dieser Mitteilung den Rückzug selber veranlasse. Am 4. Oktober 1969 leitete der Anwalt dieses Schreiben unter Berufung auf die Rückzugserklärung an das Kantonsgericht weiter. Das Kantonsgericht Nidwalden, das den Rekurs am 22. Oktober 1969 beurteilte, sprach Waser von der Anklage des Betruges frei, verurteilte ihn dagegen wegen Vernachlässigung der Unterstützungspflicht (Art. 217 Ziff. 1
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SR 311.0 Schweizerisches Strafgesetzbuch vom 21. Dezember 1937 StGB Art. 217 - 1 Wer seine familienrechtlichen Unterhalts- oder Unterstützungspflichten nicht erfüllt, obschon er über die Mittel dazu verfügt oder verfügen könnte, wird, auf Antrag, mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder Geldstrafe bestraft. |
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1 | Wer seine familienrechtlichen Unterhalts- oder Unterstützungspflichten nicht erfüllt, obschon er über die Mittel dazu verfügt oder verfügen könnte, wird, auf Antrag, mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder Geldstrafe bestraft. |
2 | Das Antragsrecht steht auch den von den Kantonen bezeichneten Behörden und Stellen zu. Es ist unter Wahrung der Interessen der Familie auszuüben. |
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SR 311.0 Schweizerisches Strafgesetzbuch vom 21. Dezember 1937 StGB Art. 31 - Das Antragsrecht erlischt nach Ablauf von drei Monaten. Die Frist beginnt mit dem Tag, an welchem der antragsberechtigten Person der Täter bekannt wird. |
C.- Waser führt gegen das Urteil des Kantonsgerichts Nichtigkeitsbeschwerde mit dem Antrag, es sei wegen Verletzung von Art. 31
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SR 311.0 Schweizerisches Strafgesetzbuch vom 21. Dezember 1937 StGB Art. 31 - Das Antragsrecht erlischt nach Ablauf von drei Monaten. Die Frist beginnt mit dem Tag, an welchem der antragsberechtigten Person der Täter bekannt wird. |
BGE 96 IV 5 S. 7
Strafgericht Nidwalden sei kein ordentliches Gerichtsverfahren gewesen und das von ihm erlassene Erkenntnis kein Urteil erster Instanz, sondern ein Verwaltungsakt. Das Kantonsgericht, das nicht als zweite Instanz geurteilt habe, hätte daher infolge des rechtzeitigen Rückzuges des Strafantrages keine Strafe ausfällen dürfen.
Erwägungen
Der Kassationshof zieht in Erwägung:
1. Das angefochtene Urteil des Kantonsgerichts ist ein letztinstanzliches im Sinne des Art. 268 Ziff. 1
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2. Gemäss Art. 31 Abs. 1
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SR 311.0 Schweizerisches Strafgesetzbuch vom 21. Dezember 1937 StGB Art. 31 - Das Antragsrecht erlischt nach Ablauf von drei Monaten. Die Frist beginnt mit dem Tag, an welchem der antragsberechtigten Person der Täter bekannt wird. |
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solange die Durchführung des ordentlichen Verfahrens verlangt werden kann, nicht Urteilscharakter hat, wurde hauptsächlich damit begründet, dass der Antragsteller im Strafbefehlsverfahren sehr oft keine Gelegenheit zur Mitwirkung oder Akteneinsicht habe und ohne ordentliches Gerichtsverfahren sich auch kein hinreichendes Bild über Tat und Täter machen könne, um zu entscheiden, ob er den Strafantrag aufrechterhalten oder zurückziehen wolle. Als weiterer Grund wurde angeführt, dass die Revision des Art. 268 Ziff. 1
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SR 311.0 Schweizerisches Strafgesetzbuch vom 21. Dezember 1937 StGB Art. 31 - Das Antragsrecht erlischt nach Ablauf von drei Monaten. Die Frist beginnt mit dem Tag, an welchem der antragsberechtigten Person der Täter bekannt wird. |
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Massgebend ist, dass der Antragsteller vor der Urteilsfällung Gelegenheit hatte, in Kenntnis aller wesentlichen Umstände sich über die Aufrechterhaltung oder den Rückzug des Strafantrages schlüssig zu werden, und dass auch der Angeschuldigte im Hinblick auf eine mögliche Verständigung mit dem Geschädigten sich über seine Aussichten im Prozess ein Bild machen konnte. Diese Voraussetzungen waren hier gegeben. Es wurde nicht nur ein vorläufiges Ermittlungsverfahren, sondern eine umfassende Strafuntersuchung durchgeführt, und sowohl dem Angeschuldigten als auch der Antragstellerin ist vom Abschluss der Untersuchung Kenntnis gegeben worden mit der Aufforderung, innert der gesetzten Frist in die Untersuchungsakten Einsicht zu nehmen und gegebenenfalls Vervollständigungsbegehren zu stellen. Beide konnten sich demnach anhand der vollständigen Akten über die Sachlage, wie sie dem Strafgericht zur Beurteilung unterbreitet wurde, Rechenschaft geben und vor der Urteilsfällung die für einen allfälligen Rückzug des Strafantrages erforderlichen Entschlüsse fassen. Dass die Antragstellerin nur berechtigt, aber nicht verpflichtet war, in die Akten Einsicht zu nehmen, ändert nichts; auch im Verfahren mit mündlicher Hauptverhandlung ist dem Geschädigten freigestellt, ob er in die Akten Einblick nehmen und vor Gericht erscheinen will. Der Entscheid des Strafgerichts war somit ein Urteil erster Instanz im Sinne des Art. 31 Abs. 1
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SR 311.0 Schweizerisches Strafgesetzbuch vom 21. Dezember 1937 StGB Art. 31 - Das Antragsrecht erlischt nach Ablauf von drei Monaten. Die Frist beginnt mit dem Tag, an welchem der antragsberechtigten Person der Täter bekannt wird. |
Dispositiv
Demnach erkennt der Kassationshof:
Die Nichtigkeitsbeschwerde wird abgewiesen.