92 IV 161
41. Urteil des Kassationshofes vom 4. November 1966 i.S. Staatsanwaltschaft des Kantons Aargau gegen Nötzli.
Regeste (de):
- Art. 31 Abs. 1
SR 311.0 Schweizerisches Strafgesetzbuch vom 21. Dezember 1937
StGB Art. 31 - Das Antragsrecht erlischt nach Ablauf von drei Monaten. Die Frist beginnt mit dem Tag, an welchem der antragsberechtigten Person der Täter bekannt wird.
- 1. Begriff des Urteils erster Instanz.
- a) Der rechtskräftige Strafbefehl ist ein Urteil erster Instanz (Bestätigung der Rechtsprechung).
- b) Vor seiner Rechtskraft ist der Strafbefehl nicht ein Urteil erster Instanz (Änderung der Rechtsprechung).
- 2. Im Fall der Anfechtung des Strafbefehls kann deshalb der Strafantrag noch bis zur Verkündung des Urteils der ersten Instanz im ordentlichen Verfahren zurückgezogen werden. Bei Nichtanfechtung des Strafbefehls ist hingegen der Rückzug des Strafantrags nur bis zum Eintritt der Rechtskraft des Strafbefehls zulässig.
Regeste (fr):
- Art. 31 al. 1 CP.
- 1. Jugement de première instance.
- a) Le mandat de répression passé en force est un jugement de première instance (confirmation de la jurisprudence).
- b) Avant d'être passé en force, le mandat de répression n'est pas un jugement de première instance (changement de jurisprudence).
- 2. En cas d'opposition au mandat de répression, la plainte peut donc être retirée jusqu'au prononcé du jugement de première instance, rendu selon la procédure ordinaire. Lorsqu'il n'y a pas d'opposition au mandat de répression, le retrait de la plainte n'est admissible que jusqu'au moment où intervient la chose jugée.
Regesto (it):
- Art. 31 cpv. 1 CP.
- 1. Nozione di sentenza di prima istanza.
- a) Il decreto penale cresciuto in giudicato è un giudizio di prima istanza (conferma della giurisprudenza).
- b) Prima d'essere cresciuto in giudicato, il decreto penale non è un giudizio di prima istanza (cambiamento della giurisprudenza).
- 2. In caso d'opposizione al decreto penale, la querela può quindi essere ritirata fino alla pronuncia del giudizio di prima istanza reso secondo la procedura ordinaria. Quando non c'è opposizione al decreto penale, invece, il ritiro è ammissibile solo fino al momento in cui il decreto passa in giudicato.
Sachverhalt ab Seite 162
BGE 92 IV 161 S. 162
A.- Elvira Nötzli-Thoma entwendete im Mai 1965 ihrem damaligen Hausmeister Rudolf Aeschbach in Staffelbach ungefähr einen halben Ster Brennholz. Auf Strafantrag Aeschbachs und Antrag der Staatsanwaltschaft wurde sie durch Strafbefehl des Bezirksamtes Zofingen vom 5. Oktober 1965 zu einer Busse von Fr. 80.- verurteilt. Sie erhob Einsprache, worauf die Akten dem Bezirksgericht Zofingen überwiesen wurden. In der Hauptverhandlung vom 19. November 1965 zog Aeschbach den Strafantrag zurück. Das Bezirksgericht stellte deshalb das Verfahren ein.
B.- Gegen den Einstellungsbeschluss legte die Staatsanwaltschaft Berufung ein mit dem Antrag auf Bestrafung der Angeschuldigten. Mit Urteil vom 19. August 1966 wies das Obergericht des Kantons Aargau die Berufung ab.
C.- Die Staatsanwaltschaft führt Nichtigkeitsbeschwerde mit dem Antrag auf Aufhebung des obergerichtlichen Urteils und Rückweisung der Sache zur Bestrafung der Angeschuldigten.
Erwägungen
Der Kassationshof zieht in Erwägung:
1. Der Strafantrag kann vom Berechtigten zurückgezogen werden, solange das Urteil erster Instanz noch nicht verkündet ist (Art. 31 Abs. 1
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SR 311.0 Schweizerisches Strafgesetzbuch vom 21. Dezember 1937 StGB Art. 31 - Das Antragsrecht erlischt nach Ablauf von drei Monaten. Die Frist beginnt mit dem Tag, an welchem der antragsberechtigten Person der Täter bekannt wird. |
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SR 311.0 Schweizerisches Strafgesetzbuch vom 21. Dezember 1937 StGB Art. 31 - Das Antragsrecht erlischt nach Ablauf von drei Monaten. Die Frist beginnt mit dem Tag, an welchem der antragsberechtigten Person der Täter bekannt wird. |
BGE 92 IV 161 S. 163
für jene Fälle aufgestellt worden, in denen das Verfahren vor einer oberen Instanz weitergehe. Er verlange deshalb nicht, dass das Urteil in der ersten Instanz der letzte, endgültige Entscheid sei. b) Soweit sie auf Strafbefehle angewendet wurde, kann diese Rechtsprechung, die im übrigen in dieser Hmsicht von verschiedenen kantonalen Gerichten nicht befolgt wird und in der Literatur auf Kritik gestossen ist, nicht ohne Einschränkung aufrecht erhalten werden. Die schon in BGE 69 I 73 und BGE 74 IV 15 vertretene Auffassung, dass der unangefochten in Rechtskraft erwachsene Strafbefehl ein Urteil sei, ist zwar nach wie vor begründet; denn in diesem Fall steht der Strafbefehl in jeder Hinsicht einem richterlichen Urteil gleich. Hingegen kann das für den noch nicht rechtskräftigen Strafbefehl nicht gelten. Die bisher befolgte gegenteilige Rechtsprechung verkennt die Natur des Strafbefehlsverfahrens. Dieses ursprünglich von der Praxis für die rationellere Bewältigung der wachsenden Zahl leichterer Delikte entwickelte summarische Verfahren ist, jedenfalls begriffsmässig, ein Verfahren ohne Hauptverhandlung. Die zum Erlass des Strafbefehls zuständige Behörde setzt darin die Strafe auf Grund des im Vorverfahren durch die untersuchende Behörde zusammengetragenen Beweismaterials fest. Diese summarische Beurteilung von Tat und Täter steht unter dem Vorbehalt, dass der Angeschuldigte sich dem Urteilsspruch unterzieht. Will er das nicht, so kann er, nach dem Strafbefehlsverfahren, die Durchführung des ordentlichen Strafverfahrens, beginnend mit der Hauptverhandlung vor der ersten Instanz, verlangen. Das Strafbefehlsverfahren ist also selbst nicht ein Verfahren erster Instanz, sondern ein diesem vorgelagertes besonderes Verfahren zur vereinfachten Erledigung bestimmter Straffälle. Führt es zum Ziel, dann entfällt das erstinstanzliche Verfahren, und der rechtskräftig gewordene Strafbefehl tritt an die Stelle des erstinstanzlichen Urteils; das ganze Verfahren ist beendet und die Sache abgeurteilt, ein Rückzug des Strafantrags ist deshalb nicht mehr zulässig. Wird jedoch der Strafbefehl angefochten, so findet das ordentliche Verfahren vor der ersten Instanz statt, als ob ein Strafbefehlsverfahren gar nicht bestünde. Vielfach erhält der Geschädigte im Strafbefehlsverfahren weder Gelegenheit mitzuwirken noch Akteneinsicht zu nehmen;
BGE 92 IV 161 S. 164
manchmal wird ihm auch nicht der Strafbefehl eröffnet. Bei auf Antrag verfolgten Delikten ist der Geschädigte normalerweise Antragsteller. Als solcher hat er nach Art. 31 Abs. 1
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SR 311.0 Schweizerisches Strafgesetzbuch vom 21. Dezember 1937 StGB Art. 31 - Das Antragsrecht erlischt nach Ablauf von drei Monaten. Die Frist beginnt mit dem Tag, an welchem der antragsberechtigten Person der Täter bekannt wird. |
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SR 311.0 Schweizerisches Strafgesetzbuch vom 21. Dezember 1937 StGB Art. 31 - Das Antragsrecht erlischt nach Ablauf von drei Monaten. Die Frist beginnt mit dem Tag, an welchem der antragsberechtigten Person der Täter bekannt wird. |
BGE 92 IV 161 S. 165
noch nicht eröffnet ist" (StenBull StR S. 65). Mit der Formulierung "solange das Urteil erster Instanz noch nicht verkündet ist", welcher der Ständerat zustimmte, griff der Nationalrat aber wieder auf die Vorentwürfe 1893 und 1894 (Art. 2 Abs. 4 bzw. Abs. 5: "vor dem Urteil erster Instanz") und den Vorentwurf 1908 (Art. 24 Ziff. 2 Abs. 1: "solange das Urteil der ersten Instanz noch nicht verkündet worden ist") zurück (StenBull NR 619 f., StR S. 308). In beiden Räten war auf jeden Fall ausdrücklich vom Gerichtsverfahren die Rede. Dass ausschliesslich das ordentliche Gerichtsverfahren in Frage stand, zeigen auch die Abänderungsanträge. Diese bezogen sich alle auf das Problem, bis zu welchem prozessualen Zeitpunkt der Rückzug des Strafantrags zulässig sein sollte, und gingen, entsprechend den sehr unterschiedlichen kantonalen Gesetzgebungen (HAFTER, Lehrbuch des schweiz. Strafrechts 2. Aufl. S. 140 f.) weit auseinander. Der Vorschlag Correvon, der Rückzug müsse nur bis vor Beginn der Hauptverhandlung erfolgen können, wurde auf Antrag Gautiers abgelehnt. Dieser führte aus: "Le projet tient compte, avec raison, du cas où le lésé retirera sa plainte en toute connaissance de cause, éclairé qu'il aura été par les débats" (Prot. 1. ExpK I S. 28 f.). Der Nationalrat wollte den letzten Termin für den Rückzug von der Verkündung auf die Fällung des Urteils vorverlegen, was vom Ständerat abgelehnt wurde, weil ein deutlicher, nach aussen erkennbarer Zeitpunkt erforderlich sei (StenBull a.a.O.). Anscheinend aus ähnlichen Überlegungen wurde die Anregung Bolli, auf den Schluss der Parteiverhandlungen abzustellen, nicht weiter verfolgt (Prot.Komm. StR, 19. Februar 1929, S. 20). Ein Antrag Thormann, umgekehrt den Rückzug noch bis zur Verkündung des Urteils der zweiten Instanz zuzulassen, wurde verworfen, weil ein Spielen des Privaten mit den Gerichtsorganen verhindert werden müsse, zumal die Antragsdelikte vielfach zur Sicherung pekuniärer Vorteile benützt würden (Prot. 2. ExpK I S. 172-179). Die Möglichkeit einer missbräuchlichen Ausbeutung des Antragsrechts wurde jedoch "angesichts der Vorteile der Lösung" des Art. 31 Abs. 1
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SR 311.0 Schweizerisches Strafgesetzbuch vom 21. Dezember 1937 StGB Art. 31 - Das Antragsrecht erlischt nach Ablauf von drei Monaten. Die Frist beginnt mit dem Tag, an welchem der antragsberechtigten Person der Täter bekannt wird. |
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SR 311.0 Schweizerisches Strafgesetzbuch vom 21. Dezember 1937 StGB Art. 31 - Das Antragsrecht erlischt nach Ablauf von drei Monaten. Die Frist beginnt mit dem Tag, an welchem der antragsberechtigten Person der Täter bekannt wird. |
BGE 92 IV 161 S. 166
vom 25. Juni 1965 (AS 1965 S. 905) hinzu, die am 1. Januar 1966 in Kraft trat. Durch diese Gesetzesänderung will vermieden werden, dass Urteile, in denen untere Gerichte (z.B. Bezirksgerichte, deren Ausschüsse und Einzelrichter) als erste und, zufolge Ausschlusses eines ordentlichen kantonalen Rechtsmittels, zugleich als letzte Instanz entschieden haben, direkt an den Kassationshof des Bundesgerichts weitergezogen werden können (Botschaft, BBl 1964 II S. 891; StenBull 1965, NR S. 284 f.). Durch den neu aufgenommenen Satz 2 wird nunmehr die Nichtigkeitsbeschwerde gegen Urteile unterer Gerichte ausgeschlossen, wenn diese als einzige kantonale Instanz geurteilt haben. Der Nichtigkeitsbeschwerde unterliegen somit Urteile unterer Gerichte nur noch, soweit diese als zweite kantonale Instanz geurteilt haben. Dieser Zweck der Revision würde weitgehend vereitelt, wenn der nicht rechtskräftige Strafbefehl als Urteil erster Instanz gälte. Das untere Gericht im ordentlichen Verfahren wäre nämlich im Falle einer Einsprache gegen den Strafbefehl bereits zweite Instanz, und seine Urteile könnten deshalb mit der Nichtigkeitsbeschwerde beim eidg. Kassationshof angefochten werden. Auch wegen dieser der ratio von Art. 268 Ziff. 1
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SR 311.0 Schweizerisches Strafgesetzbuch vom 21. Dezember 1937 StGB Art. 31 - Das Antragsrecht erlischt nach Ablauf von drei Monaten. Die Frist beginnt mit dem Tag, an welchem der antragsberechtigten Person der Täter bekannt wird. |
2. Da im vorliegenden Fall gegen den Strafbefehl von Frau Nötzli Einsprache erhoben und das ordentliche Strafverfahren durchgeführt wurde, durfte Rudolf Aeschbach seinen Strafantrag, wie er es getan hat, noch in der Verhandlung vor dem Bezirksgericht Zofingen zurückziehen. Dieses hat daher zu Recht das Verfahren gegen Elvira Nötzli eingestellt, was die Abweisung der Beschwerde zur Folge hat.
Dispositiv
Demnach erkennt der Kassationshof:
Die Nichtigkeitsbeschwerde wird abgewiesen.