BGE 78 IV 148
35. Auszug aus dem Urteil des Kassationshofes vom 7. Oktober 1952 i. S.
Brüschweiler gegen Jugendanwaltschaft Winterthur.
Regeste:
Art. 31 Abs. 1
SR 311.0 Schweizerisches Strafgesetzbuch vom 21. Dezember 1937 StGB Art. 31 - Das Antragsrecht erlischt nach Ablauf von drei Monaten. Die Frist beginnt mit dem Tag, an welchem der antragsberechtigten Person der Täter bekannt wird. |
nach zürcherischem Recht ist Urteil erster Instanz.
Art. 31 al. 1 CP. Notion du jugement. La décision de l'avocat des mineurs
selon la procédure zurichoise est un jugement de première instance.
Art. 31 cp. 1 CP. Nozione della sentenza. La decisione del magistrato dei
minorenni zurighese (Jugendanwalt) è un giudizio di prima istanza.
A. - Max Brüschweiler, geb. am 26. November 1934, der bis Mitte September 1951
bei Rudolf Kellenberger in der Metzgerlehre war, stahl seinem Lehrmeister im
letzten
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halben Jahr der Lehre mindestens Fr. 150.- und ein Paket Zigaretten.
Kellenberger stellte Strafantrag. Mit Strafbefehl vom 3. Dezember 1951
erklärte der Jugendanwalt von Winterthur Brüschweiler des Diebstahls fehlbar
und verurteilte ihn in Anwendung von Art. 89
SR 311.0 Schweizerisches Strafgesetzbuch vom 21. Dezember 1937 StGB Art. 89 - 1 Begeht der bedingt Entlassene während der Probezeit ein Verbrechen oder Vergehen, so ordnet das für die Beurteilung der neuen Tat zuständige Gericht die Rückversetzung an. |
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1 | Begeht der bedingt Entlassene während der Probezeit ein Verbrechen oder Vergehen, so ordnet das für die Beurteilung der neuen Tat zuständige Gericht die Rückversetzung an. |
2 | Ist trotz des während der Probezeit begangenen Verbrechens oder Vergehens nicht zu erwarten, dass der Verurteilte weitere Straftaten begehen wird, so verzichtet das Gericht auf eine Rückversetzung. Es kann den Verurteilten verwarnen und die Probezeit um höchstens die Hälfte der von der zuständigen Behörde ursprünglich festgesetzten Dauer verlängern. Erfolgt die Verlängerung erst nach Ablauf der Probezeit, so beginnt sie am Tag der Anordnung. Die Bestimmungen über die Bewährungshilfe und die Weisungen sind anwendbar (Art. 93-95). |
3 | Entzieht sich der bedingt Entlassene der Bewährungshilfe oder missachtet er die Weisungen, so sind die Artikel 95 Absätze 3-5 anwendbar. |
4 | Die Rückversetzung darf nicht mehr angeordnet werden, wenn seit dem Ablauf der Probezeit drei Jahre vergangen sind. |
5 | Die Untersuchungshaft, die der Täter während des Verfahrens der Rückversetzung ausgestanden hat, ist auf den Strafrest anzurechnen. |
6 | Sind auf Grund der neuen Straftat die Voraussetzungen für eine unbedingte Freiheitsstrafe erfüllt und trifft diese mit der durch den Widerruf vollziehbar gewordenen Reststrafe zusammen, so bildet das Gericht in Anwendung von Artikel 49 eine Gesamtstrafe. Auf diese sind die Regeln der bedingten Entlassung erneut anwendbar. Wird nur die Reststrafe vollzogen, so ist Artikel 86 Absätze 1-4 anwendbar. |
7 | Trifft eine durch den Entscheid über die Rückversetzung vollziehbar gewordene Reststrafe mit dem Vollzug einer Massnahme nach den Artikeln 59-61 zusammen, so ist Artikel 57 Absätze 2 und 3 anwendbar. |
SR 311.0 Schweizerisches Strafgesetzbuch vom 21. Dezember 1937 StGB Art. 95 - 1 Das Gericht und die Strafvollzugsbehörde können vor ihrem Entscheid über Bewährungshilfe und Weisungen einen Bericht der Behörde einholen, die für die Bewährungshilfe, die Kontrolle der Weisungen oder den Vollzug der Tätigkeitsverbote oder der Kontakt- und Rayonverbote zuständig ist.137 Die betroffene Person kann zum Bericht Stellung nehmen. Abweichende Stellungnahmen sind im Bericht festzuhalten. |
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1 | Das Gericht und die Strafvollzugsbehörde können vor ihrem Entscheid über Bewährungshilfe und Weisungen einen Bericht der Behörde einholen, die für die Bewährungshilfe, die Kontrolle der Weisungen oder den Vollzug der Tätigkeitsverbote oder der Kontakt- und Rayonverbote zuständig ist.137 Die betroffene Person kann zum Bericht Stellung nehmen. Abweichende Stellungnahmen sind im Bericht festzuhalten. |
2 | Die Anordnung von Bewährungshilfe und die Weisungen sind im Urteil oder im Entscheid festzuhalten und zu begründen. |
3 | Entzieht sich der Verurteilte der Bewährungshilfe oder missachtet er die Weisungen oder sind die Bewährungshilfe oder die Weisungen nicht durchführbar oder nicht mehr erforderlich, so erstattet die zuständige Behörde dem Gericht oder den Strafvollzugsbehörden Bericht. |
4 | Das Gericht oder die Strafvollzugsbehörde kann in den Fällen nach Absatz 3: |
a | die Probezeit um die Hälfte verlängern; |
b | die Bewährungshilfe aufheben oder neu anordnen; |
c | die Weisungen ändern, aufheben oder neue Weisungen erteilen. |
5 | Das Gericht kann in den Fällen nach Absatz 3 die bedingte Strafe widerrufen oder die Rückversetzung in den Straf- oder Massnahmenvollzug anordnen, wenn ernsthaft zu erwarten ist, dass der Verurteilte neue Straftaten begeht. |
SR 311.0 Schweizerisches Strafgesetzbuch vom 21. Dezember 1937 StGB Art. 96 - Die Kantone stellen für die Dauer des Strafverfahrens und des Strafvollzugs eine soziale Betreuung sicher, die freiwillig in Anspruch genommen werden kann. |
SR 311.0 Schweizerisches Strafgesetzbuch vom 21. Dezember 1937 StGB Art. 137 - 1. Wer sich eine fremde bewegliche Sache aneignet, um sich oder einen andern damit unrechtmässig zu bereichern, wird, wenn nicht die besonderen Voraussetzungen der Artikel 138-140 zutreffen, mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder Geldstrafe bestraft. |
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1 | Wer sich eine fremde bewegliche Sache aneignet, um sich oder einen andern damit unrechtmässig zu bereichern, wird, wenn nicht die besonderen Voraussetzungen der Artikel 138-140 zutreffen, mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder Geldstrafe bestraft. |
2 | Hat der Täter die Sache gefunden oder ist sie ihm ohne seinen Willen zugekommen, |
einer bedingt vollziehbaren Einschliessungsstrafe von sieben Tagen. Als
Kellenberger der Strafbefehl mitgeteilt wurde, schrieb er der
Jugendanwaltschaft am 6./7. Dezember 1951, Brüschweiler solle wegen der
Diebstähle nicht bestraft werden. Max Brüschweiler-Zürrer, der Vater des
Verurteilten, sah darin einen Rückzug des Strafantrags, erhob gegen den
Strafbefehl Einsprache und beantragte Freisprechung seines Sohnes.
Am 29. Februar 1952 bestätigte das Bezirksgericht Winterthur den Entscheid des
Jugendanwaltes. Es führte aus, nach Art. 47 EG zum StGB könne der Jugendanwalt
in bestimmten Fällen einen Strafbefehl erlassen. Für die Wirkungen des
Strafbefehls seien nach Art. 31 EG zum StGB die §§ 317 ff. StPO sinngemäss
anzuwenden. Gemäss § 325 StPO erlange der Strafbefehl die Wirkung eines
rechtskräftigen Urteils, soweit nicht rechtzeitig Einsprache erhoben wurde.
Mit dem Erlass des Strafbefehls handle deshalb der Jugendanwalt als Richter;
der Strafbefehl komme grundsätzlich einem gerichtlichen Urteil gleich. Daran
ändere die Tatsache nichts, dass er durch die Einsprache dahinfallen könne und
der Fall vor das Bezirksgericht komme. Mit Erlass des Strafbefehls habe eine
richterliche Behörde gehandelt, so dass ein erstinstanzliches Urteil im Sinne
des Art. 31
SR 311.0 Schweizerisches Strafgesetzbuch vom 21. Dezember 1937 StGB Art. 31 - Das Antragsrecht erlischt nach Ablauf von drei Monaten. Die Frist beginnt mit dem Tag, an welchem der antragsberechtigten Person der Täter bekannt wird. |
Strafbefehls sei deshalb nicht zu beachten.
B. - Max Brüschweiler-Zürrer führt gegen das Urteil des Bezirksgerichts
Nichtigkeitsbeschwerde nach Art. 268 ff
SR 311.0 Schweizerisches Strafgesetzbuch vom 21. Dezember 1937 StGB Art. 31 - Das Antragsrecht erlischt nach Ablauf von drei Monaten. Die Frist beginnt mit dem Tag, an welchem der antragsberechtigten Person der Täter bekannt wird. |
Umfange aufzuheben und sein Sohn sei freizusprechen.
Er macht geltend, die Annahme des Bezirksgerichts,
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er Strafbefehl des Jugendanwalts sei ein erstinstanzliches Urteil, verletze
Art. 31 Abs. 1
SR 311.0 Schweizerisches Strafgesetzbuch vom 21. Dezember 1937 StGB Art. 31 - Das Antragsrecht erlischt nach Ablauf von drei Monaten. Die Frist beginnt mit dem Tag, an welchem der antragsberechtigten Person der Täter bekannt wird. |
ein Gericht, und könne deshalb kein Urteil erlassen. Da der Geschädigte den
Strafantrag vor der Fällung des Urteils vorn 29. Februar 1952 zurückgezogen
habe, hätte das Bezirksgericht den Rückzug beachten sollen.
Der Beschwerdeführer hat gegen das Urteil des Bezirksgerichts auch eine
kantonale Nichtigkeitsbeschwerde an das Obergericht des Kantons Zürich
eingereicht.
Das Obergericht hat die kantonale Nichtigkeitsbeschwerde am 12. Juni 1952
abgewiesen soweit es darauf eintreten konnte.
Der Kassationshof zieht in Erwägung:
1. -
2.- Der Berechtigte kann seinen Strafantrag nur zurückziehen, solange das
Urteil erster «noch nicht verkündet ist» (Art. 31 Abs. 1
SR 311.0 Schweizerisches Strafgesetzbuch vom 21. Dezember 1937 StGB Art. 31 - Das Antragsrecht erlischt nach Ablauf von drei Monaten. Die Frist beginnt mit dem Tag, an welchem der antragsberechtigten Person der Täter bekannt wird. |
Ob ein Urteil im Sinne dieser Bestimmung vorliegt, kann in Jugendstrafsachen
nicht davon abhängen, ob ein Richter oder eine Verwaltungsbehörde den
Entscheid gefallt hat. Im Gegensatz zum Entwurfe des Bundesrates, Art. 87 ff.,
weist das Gesetz in Art. 91 ff. den Entscheid über die strafbare Handlung des
Jugendlichen nicht dem Richter, sondern der «zuständigen Behörde zu. In
Jugendstrafsachen gilt somit nicht wie für das Strafverfahren gegen Erwachsene
(Art. 345 Ziff. 1 Abs. 2
SR 311.0 Schweizerisches Strafgesetzbuch vom 21. Dezember 1937 StGB Art. 31 - Das Antragsrecht erlischt nach Ablauf von drei Monaten. Die Frist beginnt mit dem Tag, an welchem der antragsberechtigten Person der Täter bekannt wird. |
einer Verwaltungsbehörde übertragen werden darf; ein Jugendlicher kann sich -
wofür kantonales Recht massgebend ist - auch für Verbrechen und Vergehen vor
einer Verwaltungsbehörde zu verantworten haben, und deren Entscheid kann
Urteil sein (vgl. BGE 65 IV 158, 70 IV 121).
Ein solches setzt auch nicht voraus, dass die zuständige Behörde eine
öffentliche Hauptverhandlung durchgeführt
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habe, an welcher der Berechtigte den Strafantrag noch hätte zurückziehen
können. Art. 31 Abs. 1
SR 311.0 Schweizerisches Strafgesetzbuch vom 21. Dezember 1937 StGB Art. 31 - Das Antragsrecht erlischt nach Ablauf von drei Monaten. Die Frist beginnt mit dem Tag, an welchem der antragsberechtigten Person der Täter bekannt wird. |
den Rückzug des Strafantrages ausschliessen, nachdem die Behörde über die
Rechtsfolgen der strafbaren Handlung entschieden hat. In der zweiten
Expertenkommission wurde beantragt, den Rückzug bis zur Fällung des Urteils
zweiter Instanz zuzulassen (Prot. 1 172, Antrag Thormann). Dem wurde
entgegengehalten, dass der Strafantrag vielfach benutzt werde, um dem
Antragsteller Vermögensvorteile zu sichern, und dass die Möglichkeit des
Rückzuges oft zum Spiel des Privaten mit den Gerichtsorganen werde. Dieses
Spiel sei unwürdig, wenn ein Urteil noch nicht erlassen sei, und das Feilschen
werde ominös, wenn der Staat gesprochen habe (Prot. 1 178 f., Votum Geel). Aus
diesem Grunde wurde der Rückzug nach Verkündung des Urteils erster Instanz
ausgeschlossen.
Urteil ist daher jeder Entscheid der zuständigen Behörde, der verbindlich
darüber erkennt, ob sich der Beschuldigte einer strafbaren Handlung schuldig
gemacht hat, und gegebenenfalls die Rechtsfolgen bestimmt, die diese Handlung
nach sich zieht. Nicht nötig ist, dass der Entscheid formell und materiell
rechtskräftig werde; ein Urteil liegt schon vor, wenn er nur unter der
Voraussetzung Recht schafft, dass die Parteien sich ihm unterziehen (vgl. BGE
69 I 72 f., 74 IV 15) oder dass er von keiner Seite durch Appellation,
Einsprache und dergleichen angefochten wird. Indem Art. 31 Abs. 1
SR 311.0 Schweizerisches Strafgesetzbuch vom 21. Dezember 1937 StGB Art. 31 - Das Antragsrecht erlischt nach Ablauf von drei Monaten. Die Frist beginnt mit dem Tag, an welchem der antragsberechtigten Person der Täter bekannt wird. |
einem Urteil erster Instanz spricht, ist er insbesondere gerade für jene Fälle
aufgestellt worden, wo das Urteil erster Instanz angefochten wird und das
Verfahren vor einer oberen Instanz weitergeht.
3.- Nach der Auslegung, die die Vorinstanz dem kantonalen Recht gibt (Art. 47,
31 EG zum StGB, § 325 StPO) und die das Bundesgericht auf
Nichtigkeitsbeschwerde hin nicht überprüfen kann (Art. 269 Abs. 1
SR 311.0 Schweizerisches Strafgesetzbuch vom 21. Dezember 1937 StGB Art. 31 - Das Antragsrecht erlischt nach Ablauf von drei Monaten. Die Frist beginnt mit dem Tag, an welchem der antragsberechtigten Person der Täter bekannt wird. |
SR 311.0 Schweizerisches Strafgesetzbuch vom 21. Dezember 1937 StGB Art. 31 - Das Antragsrecht erlischt nach Ablauf von drei Monaten. Die Frist beginnt mit dem Tag, an welchem der antragsberechtigten Person der Täter bekannt wird. |
lit. b BStP), übt der Jugendanwalt, der einen Strafbefehl erlässt,
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richterliche Funktionen aus und erlangt der Strafbefehl, gegen den nicht
Einsprache erhoben wird, die Wirkung eines rechtskräftigen Urteils. Nach dem
Gesagten ist er daher auch Urteil im Sinne des Art. 31 Abs. 1
SR 311.0 Schweizerisches Strafgesetzbuch vom 21. Dezember 1937 StGB Art. 31 - Das Antragsrecht erlischt nach Ablauf von drei Monaten. Die Frist beginnt mit dem Tag, an welchem der antragsberechtigten Person der Täter bekannt wird. |
Demnach erkennt der Kassationshof:
Die Nichtigkeitsbeschwerde wird abgewiesen, soweit darauf eingetreten werden
kann.