Urteilskopf

96 I 521

80. Auszug aus dem Urteil vom 16. Dezember 1970 i.S. Burgener c. Kreisgericht Oberwallis, Leuk.
Regeste (de):

Regeste (fr):

Regesto (it):


Sachverhalt ab Seite 521

BGE 96 I 521 S. 521

A.- Marcel Burgener erstattete am 7. November 1967 gegen Gerold Kistler, Visp, Strafanzeige wegen falschen Zeugnisses.
BGE 96 I 521 S. 522

Mit Verfügung vom 10. Dezember 1969 stellte der Instruktionsrichter des Bezirks Visp das Strafverfahren ein. Die entstandenen Kosten wurden dem Anzeiger auferlegt. Die Einstellungsverfügung enthält folgende Rechtsmittelbelehrung: "Gegen diesen Einstellungsentscheid können die Parteien gemäss Art. 113
SR 312.0 Schweizerische Strafprozessordnung vom 5. Oktober 2007 (Strafprozessordnung, StPO) - Strafprozessordnung
StPO Art. 113 Stellung - 1 Die beschuldigte Person muss sich nicht selbst belasten. Sie hat namentlich das Recht, die Aussage und ihre Mitwirkung im Strafverfahren zu verweigern. Sie muss sich aber den gesetzlich vorgesehenen Zwangsmassnahmen unterziehen.
1    Die beschuldigte Person muss sich nicht selbst belasten. Sie hat namentlich das Recht, die Aussage und ihre Mitwirkung im Strafverfahren zu verweigern. Sie muss sich aber den gesetzlich vorgesehenen Zwangsmassnahmen unterziehen.
2    Verweigert die beschuldigte Person ihre Mitwirkung, so wird das Verfahren gleichwohl fortgeführt.
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SR 312.0 Schweizerische Strafprozessordnung vom 5. Oktober 2007 (Strafprozessordnung, StPO) - Strafprozessordnung
StPO Art. 1 Geltungsbereich - 1 Dieses Gesetz regelt die Verfolgung und Beurteilung der Straftaten nach Bundesrecht durch die Strafbehörden des Bundes und der Kantone.
1    Dieses Gesetz regelt die Verfolgung und Beurteilung der Straftaten nach Bundesrecht durch die Strafbehörden des Bundes und der Kantone.
2    Die Verfahrensvorschriften anderer Bundesgesetze bleiben vorbehalten.
lit. b StPO binnen 20 Tagen nach Zustellung nach den Vorschriften der Art. 176 f
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StPO Art. 176 Unberechtigte Zeugnisverweigerung - 1 Wer das Zeugnis verweigert, ohne dazu berechtigt zu sein, kann mit Ordnungsbusse bestraft und zur Tragung der Kosten und Entschädigungen verpflichtet werden, die durch die Verweigerung verursacht worden sind.
1    Wer das Zeugnis verweigert, ohne dazu berechtigt zu sein, kann mit Ordnungsbusse bestraft und zur Tragung der Kosten und Entschädigungen verpflichtet werden, die durch die Verweigerung verursacht worden sind.
2    Beharrt die zum Zeugnis verpflichtete Person auf ihrer Weigerung, so wird sie unter Hinweis auf Artikel 292 StGB102 nochmals zur Aussage aufgefordert. Bei erneuter Verweigerung wird ein Strafverfahren eröffnet.
StPO beim Schreibamt des Instruktionsgerichtes Visp, Berufung an das Kreisgericht Oberwallis für den Bezirk Visp, in Visp, einreichen. Mit Bezug auf den zu leistenden Kostenvorschuss wird verwiesen auf Art. 188
SR 312.0 Schweizerische Strafprozessordnung vom 5. Oktober 2007 (Strafprozessordnung, StPO) - Strafprozessordnung
StPO Art. 188 Stellungnahme der Parteien - Die Verfahrensleitung bringt den Parteien das schriftlich erstattete Gutachten zur Kenntnis und setzt ihnen eine Frist zur Stellungnahme.
StPO und Art. 40 des Dekretes vom 12.7.1963 betreffend den Tarif der Gerichtskosten." Marcel Burgener liess hierauf durch seinen Anwalt innert gesetzlicher Frist Berufung einlegen. Mit Brief vom 27. Januar 1970 teilte der Präsident des Kreisgerichts Oberwallis dem Vertreter des Berufungsklägers mit, dass noch kein Kostenvorschuss bei ihm eingelangt sei; gleichzeitig verwies er auf Art. 188
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StPO Art. 188 Stellungnahme der Parteien - Die Verfahrensleitung bringt den Parteien das schriftlich erstattete Gutachten zur Kenntnis und setzt ihnen eine Frist zur Stellungnahme.
der Strafprozessordnung für den Kanton Wallis vom 22. Februar 1962 (StPO), welcher wie folgt lautet: 1. "Die Zivilpartei, welche die Haupt- oder Anschlussberufung erklärt, hat unter Verfallstrafe innert zwanzig Tagen nach Ablauf der Berufungsfrist der Berufungsinstanz den im Tarif der Gerichtskosten vorgesehenen Kostenvorschuss einzuzahlen. 2. Das gleiche gilt auch für die Berufung dessen, der nur zur Busse verurteilt worden ist." Der Anwalt Burgeners liess daraufhin dem Gericht einen Kostenvorschuss von Fr. 250.-- zugehen. Mit Urteil vom 22. Mai 1970 trat das Kreisgericht Oberwallis, Leuk, auf die Berufung nicht ein mit der Begründung, der Kostenvorschuss sei verspätet, da er bis zum 25. Januar 1970 hätte geleistet werden müssen. Nach Art. 40 des Dekrets vom 12. Juli 1963 betreffend den Tarif der Gerichtskosten (GerichtskostenD) müsse für die Haupt- und Anschlussberufung ans Kreisgericht ein Vorschuss von Fr. 150.-- bezahlt werden. In Art. 188
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StPO Art. 188 Stellungnahme der Parteien - Die Verfahrensleitung bringt den Parteien das schriftlich erstattete Gutachten zur Kenntnis und setzt ihnen eine Frist zur Stellungnahme.
StPO werde für den Fall der Nichtleistung ausdrücklich die Verfallstrafe vorgesehen.
B.- Burgener erhob gegen dieses Urteil staatsrechtliche Beschwerde wegen Verletzung von Art. 4
SR 101 Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft vom 18. April 1999
BV Art. 4 Landessprachen - Die Landessprachen sind Deutsch, Französisch, Italienisch und Rätoromanisch.
BV mit dem Antrag, der angefochtene Entscheid sei aufzuheben. Die Beschwerdebegründung ergibt sich, soweit notwendig, aus den nachfolgenden Erwägungen.
BGE 96 I 521 S. 523

C.- Das Kreisgericht Oberwallis, Leuk, hat auf Gegenbemerkungen verzichtet. Das Bundesgericht heisst die Beschwerde gut.

Erwägungen

Das Bundesgericht zieht in Erwägung:

1. 3. - (Prozessuales)

4. Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichts verstösst ein durch die Praxis eingeführtes oder im Gesetz aufgestelltes Formerfordernis dann gegen Art. 4
SR 101 Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft vom 18. April 1999
BV Art. 4 Landessprachen - Die Landessprachen sind Deutsch, Französisch, Italienisch und Rätoromanisch.
BV, wenn es sich durch kein schutzwürdiges Interesse rechtfertigen lässt und wenn es die Durchsetzung des materiellen Rechts ohne sachlich vertretbaren Grund erschwert (BGE 96 I 318, BGE 95 I 4 Erw. 2 und dort angeführte frühere Urteile). Das Kreisgericht ist auf die Berufung des Beschwerdeführers mangels fristgemässer Zahlung des Kostenverschusses nicht eingetreten. In der Urteilsbegründung wird ausgeführt, Art. 188
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StPO Art. 188 Stellungnahme der Parteien - Die Verfahrensleitung bringt den Parteien das schriftlich erstattete Gutachten zur Kenntnis und setzt ihnen eine Frist zur Stellungnahme.
StPO über die Vorschusspflicht bezwecke, "den Parteien die Bedeutung des Rechtsmittels einzuschärfen und sie von trölerischen oder unzweckmässigen Berufungserklärungen abzuhalten". Falls der Vorschuss nicht innert zwanzig Tagen nach Ablauf der Berufungsfrist geleistet werde, so sei auf das Rechtsmittel nach dem klaren Wortlaut der Bestimmung nicht einzutreten. Ein überspitzter Formalismus könne darin nicht erblickt werden. Das Kreisgericht beruft sich in diesem Zusammenhang auf die Rechtsprechung des Bundesgerichts. Es trifft zwar zu, dass das Bundesgericht mehrfach ausgeführt hat, prozessuale Formen seien unerlässlich, um die ordnungsgemässe und rechtsgleiche Abwicklung des Verfahrens sowie die Durchsetzung des materiellen Rechts zu gewährleisten (BGE 95 I 4 Erw. 2 a); wird die Gültigkeit eines Rechtsmittels kraft ausdrücklicher Vorschrift von der rechtzeitigen Leistung eines Kostenvorschusses abhängig gemacht, so kann darin grundsätzlich weder ein überspitzter Formalismus noch eine Verweigerung des rechtlichen Gehörs erblickt werden (vgl. immerhin BGE 95 I 5 /6 Erw. 2 b). Voraussetzung dafür ist jedoch, dass die Parteien über die Höhe des Vorschusses, die Zahlungsfrist und die Folgen der Nichtleistung in angemessener Weise aufmerksam gemacht werden. In dieser Hinsicht erweist sich die in der Instruktionsrichterverfügung vom 10. Dezember 1969 enthaltene Rechtsmittelbelehrung als offensichtlich ungenügend. Die Parteien werden darin zwar in allgemeiner Form auf
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die Vorschusspflicht hingewiesen, doch wird weder die Höhe des Vorschusses angezeigt, noch wird eine Zahlungsfrist gesetzt, noch werden für den Fall der Nichtleistung irgendwelche prozessuale Folgen angedroht. Der Hinweis auf Art. 188
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StPO Art. 188 Stellungnahme der Parteien - Die Verfahrensleitung bringt den Parteien das schriftlich erstattete Gutachten zur Kenntnis und setzt ihnen eine Frist zur Stellungnahme.
StPO und auf Art. 40 GerichtskostenD vermag entsprechende konkrete Angaben nicht zu ersetzen. Es darf dem Rechtssuchenden nicht zugemutet werden, sich anlässlich der Berufungserklärung noch einen Gerichtskostentarif zu beschaffen oder zuständigenorts nähere Auskünfte einzuholen, um in jedem Fall fristgerecht den erforderlichen Vorschuss leisten zu können. Diese Erschwerung, welche namentlich den ausserkantonalen Rechtssuchenden erheblichen prozessualen Risiken aussetzt, dient nicht mehr dazu, die Parteien von trölerischen oder unzweckmässigen Berufungen abzuhalten, sondern wird zum blossen Selbstzweck und ist geeignet, sowohl die Wahrheitsfindung wie auch die Ausübung der Verteidigungsrechte ohne sachlich vertretbare Gründe zu hindern. In einer Rechtsmittelbelehrung, wie sie in der Instruktionsrichterverfügung vom 10. Dezember 1969 enthalten ist, muss demnach eine eigentliche Prozessfalle erblickt werden, die jedem gestellt ist, der nicht über Erfahrung im Gerichtswesen des Kantons Wallis verfügt. Sie trifft nicht nur denjenigen, der unüberlegt oder trölerhaft ein Rechtsmittel einlegt, sondern den prozessrechtlich Unerfahrenen schlechthin und erweist sich daher als verfassungswidrig. Die in Frage stehende Rechtsmittelbelehrung hätte im übrigen unschwer in einer Weise abgefasst werden können, dass bei den Parteien keinerlei Zweifel über die Höhe des Vorschusses, die Zahlungsfrist und die Folgen der Nichtleistung hätten bestehen können. Wie das Bundesgericht in BGE 95 I 4 ff. festgestellt hat, vermag eine Vorschusspflicht im Rechtsmittelverfahren den ihr innewohnenden legitimen Zweck auch dann zu erfüllen, wenn der säumigen Partei eine kurze Nachfrist angesetzt wird. Ein solches Vorgehen drängt sich umso mehr auf, wenn der Rechtssuchende in der Rechtsmittelbelehrung - wie im vorliegenden Fall - über die Höhe des Vorschusses, die Zahlungsfrist und die Säumnisfolgen weitgehend im Unklaren gelassen worden ist. Der Grundsatz von Treu und Glauben, den es auch im formstrengen Prozess zu beachten gilt, erheischt, dass dem Säumigen in derartigen Fällen Gelegenheit gegeben wird, seine Zahlung nachzuholen. Damit wird die ordnungsgemässe Abwicklung des

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Verfahrens in keiner Weise in Frage gestellt. - Dass das Kantonsgericht Wallis im Berufungsfall Holzer (Urteil vom 20. Januar 1970) mit Rücksicht auf die soeben angestellten Überlegungen und auf die neuere bundesgerichtliche Rechtsprechung eine derartige Nachfrist gewährte, hätte das Kreisgericht Oberwallis im übrigen veranlassen müssen, im vorliegenden Fall ebenso zu verfahren. Im Vorgehen des Kreisgerichts Oberwallis ist somit nach dem Gesagten eine Rechtsverweigerung durch überspitzten Formalismus zu erblicken. Die Beschwerde ist daher gutzuheissen und der angefochtene Entscheid vom 22. Mai 1970 wegen Verletzung von Art. 4
SR 101 Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft vom 18. April 1999
BV Art. 4 Landessprachen - Die Landessprachen sind Deutsch, Französisch, Italienisch und Rätoromanisch.
BV aufzuheben.
Decision information   •   DEFRITEN
Document : 96 I 521
Date : 16. Dezember 1970
Published : 31. Dezember 1970
Source : Bundesgericht
Status : 96 I 521
Subject area : BGE - Verfassungsrecht
Subject : Rechtsverweigerung durch überspitzten Formalismus im Strafprozess Enthält eine Rechtsmittelbelehrung hinsichtlich des im


Legislation register
BV: 4
StPO: 1  113  176  188
Wallis: 188
BGE-register
95-I-1 • 96-I-314 • 96-I-521
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